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Europa im Kopf  —   3. Kapitel: Böhmen

#3.3 Schleusenfahrt mit Belustigung

Morgens schließe ich mich ja immer aus und fühle mich auch so: ausgeschlossen. Dabei könnte ich das ändern und zum Frühstücksbüffet pilgern. Ausgeschlossen! Wenn Rafał an meine Tür klopft, hat Silke schon einen Espresso nebst einem vanillelosen Croissant zu sich genommen, Rafał wenig, Giuseppe viel, und Martin schläft noch. So stelle ich mir das vor, wissen tue ich nur, dass ich kraus geträumt habe und dass ich Leibschmerzen habe, unten rechts, und jetzt auch endlich an- und abschwellend, um Roemmelts (mein Leibarzt) Anspruch an Gallenkoliken zu erfüllen. Novalgin habe ich auch schon genommen, mein Blutdruck sei ‚okay‘, sagt Rafał, was sowohl enttäuschend wie erleichternd ist, und er lässt mich noch eine Weile ruhen, also in Ruhe. „Na ja“, denke ich, „gestern habe ich fettiges Gänsezeug gegessen und auf dem Wenzelsplatz diesen hochprozentigen Cocktail getrunken, da rebelliert die Galle natürlich. Selber schuld!“ Schadenfreude, mit der man nicht andere, sondern sich selbst auslacht, macht nicht so richtig froh, und deshalb schob ich meine Schmerzen doch lieber wieder auf den Rücken, mein Nachthemd hoch und meine Gedanken beiseite.

Foto: Tefi/Shutterstock

Unsere zweistündige Moldau-Fahrt sollte an der Čech-Brücke beginnen. Ein Grund mehr, Taxe zu fahren; denn wer sonst sollte das finden? Ich hatte noch genug von der erbarmungslosen Frauen-Stimme, die uns in Potsdam bootsfern ausgesetzt hatte. Unser Prager Fahrer war ein älterer, durch und durch seriöser Mann, Silke hätte ‚Herr‘ gesagt. Ich saß vorn, nicht wegen des Zahlens, das ja auch von hinten möglich ist, sondern weil mir dieser Platz grundsätzlich zugebilligt wird – ich weiß nicht genau, ob aus Respekt vor meinem Alter oder aus Mitleid wegen meiner Unbeholfenheit. Die nutzte ich, um den Fahrer mit ein paar englischen Worten aus der Reserve zu locken. Dabei hatte ich den Eindruck, dass mein fast verschollenes Englisch nicht wesentlich besser ist als mein Tschechisch. Rafał sagt, sprechen könne er Tschechisch nicht, aber ganz gut verstehen. Da ihm Reden noch mehr liegt als Zuhören, ist das schade. Trotzdem – was er hört, vergisst er nicht: Wenn ich unterwegs sage, ich bräuchte ‚dies‘, habe ich es wenig später zu Hause; wenn ich sage, ich hätte bei Gelegenheit gern mal ‚das‘, kauft Silke es sofort. So gut habe ich es. Nur der Taxenherr reagierte nicht auf mein Konversationsangebot. Leicht eingeschnappt guckte ich mir Prag an, da fragte er in Deutsch: „Was ist mit Ihrem Bein?“ Das Einfachste wäre dann, „Schlaganfall“ zu sagen, was für mich immer klingt wie ‚Inkontinenz‘.

Foto links: Rostislav Glinsky/Shutterstock | Foto rechts: Lena Ivanova/Shutterstock | Foto unten: Natalia Svistunova/Shutterstock

Zu seinen Makeln zu stehen, ist in meiner Familie nicht üblich. Man tarnt sie oder man verschweigt sie. Irene redete nie über ihre Herkunft, Guntram gab ein Handicap höchstens beim Golf zu. Natürlich kann ich auch erzählen, wie ich hingefallen, ins Meraner Krankenhaus gebracht, von dort mit Blaulicht nach Bozen gefahren, eine Woche später mit dem ADAC-Flugzeug nach Hamburg verfrachtet worden bin, dass mir dort durch die Leistenarterie ein Stent gesetzt wurde, dass ich mich nach wochenlangem Rollstuhlsitzen hochgerappelt habe und jetzt manchmal am liebsten wieder in den Rollstuhl zurücksinken würde; aber für die Strecke zur Čech-Brücke wäre das doch zu viel Gerede gewesen.

Das Schiff lag so leer da, als wolle es nie wieder von der Leine, aber dann erschien von einem anderen Dampfer doch eine Frau, der Silke ihre Ausdrucke vorweisen konnte. Sie ließ uns passieren, und das war unser zweites Glück. Das erste Glück war ja schon, dass die Moldau nicht so ausgetrocknet war wie die Elbe. Sehr viel mehr Glück war dann auch nicht mehr vorgesehen. Wir saßen an Deck ganz allein, nur mit einem Reiseführer, der allerdings nicht unseretwegen hier war. Es war heiß. Die Moldau lag da, etwas ruhiger als Smetana sie in seiner sinfonischen Dichtung ausgemalt hat. Dann kam ein Catering Service, und dann kamen Dänen. Viele Dänen. Sehr viele Dänen. Eine ganze Busladung voll. Sie blieben aber unten im ‚Bauch‘. Jemand, wohl der Kapitän, schlurfte an uns vorbei in seine Zelle, und dann ging die Fahrt los. Im Bauch wurde gegessen. Dazu gab es Erklärungen, woran wir vorbeiglitten: in Dänisch. Silke hasst Dänisch, sie kann die Sprache nicht ausstehen. Giuseppe unterwies mich derweil in Italienisch: „Ecco alla sinistra la ‚nuova citta‘, alla destra ‚il castello‘: si chiama ‚Hradschin‘, il ponte di carlo, la citta vecchia“, und rechts am Fluss, begriff ich, war die Stadt noch älter als die Altstadt links: Malá Strana, die Kleinseite. Ich stellte mir vor, wie die Dänen in ihr Smørrebrød bissen und dabei zuhörten, was draußen am Moldau-Ufer so los war. Wie wohl fühlen sich wohl bei 41° Salmonellen in Mayonnaise?

Foto links: Tatiana Shepeleva/Shutterstock | Foto rechts: Nata Bene/Shutterstock

Nach zehn Minuten fuhren wir in eine Schleuse, was nicht verwunderlich war; denn unser Ausflug nannte sich ‚Schleusenfahrt‘. Was mich aber doch wunderte, war, dass wir – der Andrang war nicht gering – dort eine Stunde lang verweilten. Die Erklärerstimme beschwieg diesen Umstand (in Dänisch). Im ‚Bauch‘ wurde weitergegessen. Es war wirklich sehr heiß. Ein Verdeck über dem Kopf wäre noch schöner gewesen als die Spreewälder Kapitänsmütze, aber nach unten zu den Salmonellen wollten wir auch nicht. Martin hatte schon alles mehrfach abgefilmt, da ging es endlich weiter. Wieder zehn Minuten vor, dann wieder zehn Minuten zurück, dann wieder in die Schleuse. Also, die Bezeichnung ‚Schleusenfahrt‘ war kein Etikettenschwindel, obwohl ‚Schleusen-Stillstand‘ noch zutreffender gewesen wäre.

Foto oben: DaLiu/Shutterstock | Foto unten: M. D. /Privatarchiv H. R.

Inzwischen war eine kleine Veränderung eingetreten: Immer mehr satte Dänen erschienen an Deck, besetzten alle Bänke, schäkerten und kreischten, zwei Musikanten spielten Shantys, und wäre es nicht so quietscheheiß gewesen, man hätte denken können, wir segelten vor Schottland. Endlich kam ‚Happy Birthday‘, das hatte noch gefehlt! Die so Angesungene wand sich vor Glück, es wurde immer mehr Bier aus Plastikbechern getrunken, und mich beschäftigte unter meiner Spreewälder Kapitänsmütze die Frage, ob ich noch nie in meinem Leben so viele hässliche Menschen auf einmal gesehen hatte oder ob mir nur mein Gedächtnis einen Streich spielte. Giuseppe, der ja Psychologie studiert hat, sagte in Italienisch: Silke möchte sehr gern nach unten gehen, zur Air Condition, aber sie will dich nicht alleinlassen.

Foto links: Arkadii Shandarov/Fotolia | Foto rechts: PHOTOCREO Michal Bednarek/Shutterstock | Foto unten: ChiragSaraswati/Shutterstock

Möglich, dass die Hitze Silke so zusetzte oder das Dänisch oder gar die Dänen selbst, die uns gewaltig auf die Pelle gerückt waren. Rafał war auch schon nach unten geflohen, wir folgten ihm. Irgendwie war es da aber nicht wirklich besser. Die Smørrebrød-Luft war zwar etwas kühler, man sah aber nichts vom Ufer, was nun, da die Fahrt weiterging, doch etwas schade war. Also wieder nach oben! Nochmal zehn Minuten, und das Ereignis war vorbei. Am Ufer wartete der Taxifahrer vor seiner Limousine, ich hätte ihn küssen können. Martin kam mit seiner Ausrüstung als Letzter von Bord, so dass die ganzen betrunkenen Dänen ratlos im Weg standen, ausgesetzt, unabgeholt, auf dieser für Normalverkehr gesperrten Mole, und ich musste mich strikt zusammenreißen, um ihnen nicht im Davonfahren durch das Seitenfenster die Zunge rauszustrecken.

Foto: YvesKrierPhotography/Fotolia

23 Kommentare zu “#3.3 Schleusenfahrt mit Belustigung

  1. Hahaha die armen Dänen! Meine Freundin meint auch immer, die Sprache klingt wie eine Karikatur im Fernsehen. Ich mag’s eigentlich.

      1. Wenn man gerade in Sachsen war, klingt das Dänisch fast Deutsch, und das Tschechische ist sowieso sehr fremd, obwohl in Prag ehemals natürlich viel mehr deutsch gesprochen wurde als in Kopenhagen…

  2. Happy Birthday inmitten einer völlig fremden Reisegruppe. Man geniert und freut sich immer irgendwie gleichermaßen. Wahrscheinlich muss man auch an seinem Geburtstag eine Erinnerung erhalten, dass gut und schlecht nur zusammen existiert. LOL

  3. Solange Lebensmittel im Kühlschrank gelagert werden, gibt’s doch auch kein Salmonellen. Ich mach mir da selten Sorgen. Alternativ könnte man Schiff und Smørrebrød auf 70 Grad erhitzen. Dann ist das Salmonellenproblem auch erledigt 🙂

      1. Hahaha, die Combo Trump-Putin überleben auf Dauer weder die Salmonellen noch die Menschheit. Scherz beiseite, mir graust es wirklich.

  4. Bei den meisten Hotel-Frühstückbuffets fühle ich mich auch als guter Esser ausgeschlossen. Irgendwie gehört man nie dazu. Vielleicht ist das ein Trost für die Appetitlosen.

    1. Die meisten Buffets beeindrucken vor allem durch Masse, weniger durch Klasse. Da verpasst man doch eh selten viel.

  5. Menschen, die ihre Makel selbstbewusst als Teil ihres Seins akzeptieren, imponieren mir. Ich habe leider überhaupt nicht das nötige Selbstvertrauen dazu.

    1. Jeder Mensch hat Makel. Wirklich wahr. Bei manchen sind die einfach eher sichtbar als bei anderen. Aber geben tut’s sie immer.

      1. Es ist verdammt schwer, einen Menschen zu nehmen, wie er ist, wenn er sich anders gibt, als er ist. Makel eingeschlossen.

      2. Man muss nicht öffentlich zu jedem Makel stehen, aber man muss auch nicht jeden wegbotoxen. Wer die Zuversicht hat, dass aus jedem hässlichen Entchen ein stolzer Schwan wird, der hat’s gut. Größenwahn macht nun mal mehr Spaß als Minderwertigkeitskomplexe, zumindest einem selbst.

      3. Der Witz ist doch: wenn man jemanden sieht, der von oben bis unten zugebotoxt und operiert ist, ist doch erst recht offensichtlich wieviele Makel es eigentlich gibt / gegeben hat.

      4. Und trotzdem brauch man auch Menschen mit Schönheitsoperationen nicht bashen. Jeder so wie er glücklich wird.

  6. Nach meiner letzten (und eigentlich auch ersten) Bootstour hatte ich 5 Tage lang Sonnenbrand. Da kann ich Silkes Leiden dich zu gut nachvollziehen.

      1. Hahaha, auch gut. Ich habe sogar eine gute Freundin, die nicht mal transpiriert. Die Welt ist ungerecht.

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