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Europa im Kopf  —   3. Kapitel: Böhmen

#3.4 Im ‚Parnas‘

Erfreulicherweise war das Mittagessen ausgefallen. Nachmittags durchstreift Rafał gern mit Silke die Boutiquen, nachts die Bars lieber mit Giuseppe. Ich ging in mein Zimmer und übte im Hellgrünen eifrig am Anfängerkurs der schwierigen Disziplin ‚Appetit haben‘. Als ich genügend lange ergebnislos in mich reingeforscht hatte, ob ich mir in etwa vier Stunden drei Gänge zutrauen könnte, ging ich zum nahen Fahrstuhl. Ich bräuchte einen Trainer, der mich anspornt: ‚Du schaffst das! Noch ein Löffelchen für die Toten, und jetzt noch eins für die Lebenden – ja, toll! – und jetzt noch eins für die, denen die Geburt erspart geblieben ist – runter, runter! Ja, jaaaa!!‘ Im Magen, alles im Magen!!! Hymne, Pokal.

Foto oben: OtmarW/Shutterstock | Foto unten: Eugene Onischenko/Shutterstock

Zwischen dem Gang hinter der Lobby und vor der Passage zum Wenzelsplatz hat das ‚Yasmin‘ eine Terrasse, die man ‚Innenhof‘ oder ‚Garten‘ nennen kann, heiß war es allemal. Ich las im ‚Spiegel‘; Europa war immer noch mit Griechenland beschäftigt, aber die Flüchtlinge fangen schon an, eine Rolle zu spielen. Ich trinke Gin Tonic und informiere mich. Giuseppe kommt. Rafał kommt. Silke kommt. Dass ich nochmal Drink ablassen will, bringt den Zeitplan um 40 Sekunden durcheinander, aber Silke sagt nichts. Die Toilette ist eigentlich der hübscheste Raum des Hauses: durch und durch einschmeichelnder Leutefang, und so gelbgrün! Im Sozialismus war das ja nicht nötig – die Menschen hatten keine große Auswahl, wo sie Nahrung zu sich nehmen und von sich geben konnten. Die Konkurrenz ist es, die den Kapitalismus unschlagbar macht.

Foto: HeinSchlebusch/Shutterstock

Mit Martin in zwei Taxen zum ‚Café Slavia‘. Das ‚Slavia‘ liegt neben dem tschechischen Nationaltheater, und von daher bezog es auch von Anfang an seine Gäste. Wie ‚Hamlet‘ wohl auf Tschechisch klingt? Wahrscheinlich nicht schlimmer als auf Dänisch. Smetana war hier, Rilke, Egon Erwin Kisch (‚Der rasende Reporter‘), Apollinaire – das Bild ‚Die Absinthtrinker‘ ist ganz in seinem Geiste. Ich nötigte Martin, das Gemälde abzufilmen. In meinem hohen Alter ist man kein forscher Besserwisser mehr, sondern ein schulmeisterlicher alter Sack, wenn man Ignoranten deren fehlende Bildung anmerkt. Sich nicht vorzubereiten, gilt wohl als spontan, ich finde es geistig ungewaschen. Dabei bedeutet Bildung heute eher die Abwehrspieler des VfL Wolfsburg mit Namen zu kennen als zu wissen, in welcher Stadt der Prager Fenstersturz stattfand.

Fotos (2): Wikimedia/gemeinfrei

Das ‚Kavárna Slavia‘ gefiel uns viel besser als das ‚Café Louvre‘ am Vortag, was für meine steigerungsbewusste Dramaturgie spricht. Gegenüber dem Eckhaus, jenseits der linken Straßenseite, fließt die Moldau dahin, und die Straßenbahn quietscht um die Ecke. Die Kellner tragen Fliege und Teller mit Mehlspeisen. Die Decke ist Art-déco-geschmückt, geradezu prächtig, und zu hoch, um anheimelnd zu wirken. Für die Klimaanlage waren wir dankbar, für das kurzfristige Öffnen der Tür zum Treppenhaus auch: So konnten wir das zum Café gehörige Restaurant ‚Parnas‘ erreichen, ohne wieder auf die lärmig-heiße Straße zu müssen, und das ganz ohne Behindertenausweis, mein purer Anblick genügte.

Das ‚Parnas‘ war nicht ganz so leer wie das ‚Louvre‘ am Vorabend, aber auch hier erfreuten sich nur zwei Tische einer – salopp gekleideten – Kundschaft. ‚Starbucks‘ hätte die Filiale geschlossen. Schade, denn die Räumlichkeiten waren sehr gediegen und sehr rosa, die Wände holzgetäfelt, das Personal ließ auf Anhieb erkennen, dass es wusste, eine Institution zu verwalten, wenn nicht gar zu sein. Ein schwarzer Flügel ließ Albumblätter vorausahnen. Der Original-Parnass ist Apollon geweiht und Heimat der Musen. So gilt der Parnass als Sinnbild der Poesie, wovon hier zunächst nur die Speiskarten-Lyrik zeugte:

‚Empfehlen! – Alt-Böhmische Reichtumplatte für 2 Personen: Entenbraten am Kümmel, gebratene Schweinenacken am Knoblauch, gebratenes Rauchfleisch, rotes und weiβes Weinkraut, Variation der tschechischen Knödel und gebratene Zwiebelkaroffeln mit Speck‘

Foto: Tobik/Shutterstock

Wir ließen uns aber nichts empfehlen, sondern wählten weniger bodenständige Speisen. Meine Hoffnung, dass durch den Mittagsverzicht mein Dinner-Appetit steigen würde, blieb unerfüllt. Umso mehr verdross es mich, dass der distinguierte Ober, der wahrlich nicht überlastet war, es an der nötigen Aufmerksamkeit fehlen ließ, um mich aus dem beiseitestehenden Eiskübel mit Flaschenwein zu versorgen. „Wenn ich genügend Wein trinke, wird sich meine Verkrampfung lösen, und ich werde Hunger bekommen“, redete ich mir ein. Klappen tut das schon lange nicht mehr, aber das konnte der Kellner ja nicht wissen. Als er sich endlich dazu durchrang, an unseren Fenstertisch zu treten, um nachzuschenken, äußerte ich mich zu seiner Nachlässigkeit, freundlich, aber nicht zu freundlich. Daraufhin schüttete er mir das Glas flegelhafterweise randvoll und ich ihm den Wein mitten ins mokante Gesicht – also in meiner aufgestachelten Fantasie jedenfalls. In Wirklichkeit strafte ich ihn viel schlimmer: mit Blicken. Ich bin sicher, er hat, schuldbewusst und zerknirscht, die Nacht über kein Auge zugetan.

Foto oben: Valentyn Volkov/Shutterstock | Foto unten: Adam Gregor/Fotolia

Auch für Rafał und Giuseppe verlief die Nacht enttäuschend: Auf unserer mittäglichen Schleusenfahrt waren wir an einer Insel mit auffälligem Papp-Regenbogen vorbeigekommen, was die beiden aufgeheizten Männer natürlich als Zeichen deuteten, dass sich dort von Dunkel- bis Hellwerden die allerwahnsinnigsten schwulen Orgien abspielten, bei denen keine Körperöffnung trocken bliebe. Als sie aber nach unserem Abendessen am vermuteten Schauplatz überwältigender Ekstasen eintrafen, war die Insel geschlossen – ich meine, richtig geschlossen, mit zugesperrtem Tor. Aus meiner aktiven Zeit kenne ich alle möglichen Enttäuschungen, zum Beispiel Clubs mit Dresscodes, für die ich mal nicht fein, mal nicht ordinär genug gekleidet war, aber vor einer abgesperrten Insel habe selbst ich noch nie gestanden. Doch da ich davon beim Zähneputzen nichts wissen konnte, schlief ich ein, ohne zu ahnen, was alles mir nicht entgangen war.

Foto: Natasha Kramskaya/Shutterstock

23 Kommentare zu “#3.4 Im ‚Parnas‘

  1. Hahaha, wenn tatsächlich neben jeder Regenbogenflagge „die allerwahnsinnigsten schwulen Orgien“ stattfänden … wahrscheinlich würden sich die Meisten freuen 😉

    1. Vor allem die homophoben Altgestrigen. Da wäre dann das Klischee vom promiskuitiven Schwulen schön bestätigt.

      1. Und wenn schon! Slutshaming sollte eh verboten werden. Genau wie neidische Menschen.

  2. Als ich in der Schule war, musste man noch nach Tschechien fahren um Absinth zu trinken. Mittlerweile gibt’s, Globalisierung sei Dank, auch das Zeug an jeder Ecke.

  3. Einmal die Alt-Böhmische Reichtumsplatte bitte! Wollte gerade in’s Bett, jetzt kriege ich wieder Hunger.

  4. Ah da sprechen Sie mir aus der Seele: Clubs mit Dresscode gehören verboten. Wie wahnsinnig anstrengend das immer ist, wo doch die eigentliche Idee wäre eine Nacht lang Spaß zu haben.

    1. Anders funktioniert’s halt irgendwie nicht. Gibt’s mal einen Club wo man sich nicht aufhübschen muss, wird das „nicht aufhübschen“ auch schon wieder zum Dresscode.

  5. Servicewüste Tschechien? Die Szene mit dem Ober und dem randvoll ins Gesicht gekippten Wein hätte ich zu gern gesehen 😉

  6. Andersherum, Starbucks gehört geschlossen. Dass sich so schlechter Kaffee zu so überhöhten Preisen halten kann, erstaunt mich immer wieder.

    1. Jedem das Seine. Dass die sich mittlerweile aber sogar in Italien niederlassen wollen, wundert mich allerdings auch.

      1. Schlechter Geschmack kennt keine Grenzen. Da gibt es keine Türsteher und keine Einlass-Kontrollen. Von Kunstleder über Gelbgrün bis Starbucks lässt sich alles verkaufen, was nur energisch genug beworben wird.

      2. Wenn die Marke (wenn das Marketing) stimmt, lässt sich wirklich alles verkaufen. Und zwar sogar zu horrenden Preisen.

      3. Sogar Turnschuhe für rund 1.000€. Siehe Balenciaga. Und die Jugendlichen kaufen’s. Ich weiss echt nicht wie.

      4. Also die meisten Jugendlichen die ich kenne haben eher keine 1.000€ Schuhe an. Vorkommen tut natürlich alles. Klar.

  7. Gegen Unwissen und Ignoranz muss man aber angehen. Auch auf die Gefahr hin, dass man als schulmeisterlicher alter Sack abgestempelt wird.

    1. Informiert sein ist doch das A und O. Gerade in Fake News Zeiten und bei all den politischen Spielchen.

      1. Information allein reicht nicht, man muss aufgrund der Informationen Entscheinungen treffen. Gut, wenn dann die Information richtig war, und die Entscheidung auch …

      2. Klar. Eine richtige Entscheidung zu treffen, wenn die zugrunde liegenden Information nicht vollständig oder fehlerhaft waren, gerät allerdings leicht zum Glückspiel.

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