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Europa im Kopf  —   4. Kapitel: Österreich

#4.4 Über den Naschmarkt fahren

Rafał hatte unter Tag frei. Ein Freundespaar war seinetwegen vom Attersee zurückgekehrt, am Abend wollten wir uns alle beim Heurigen treffen. Ich sah aus meinem hohen Fenster, wie Rafał über die Straße ging und wie er in der Ferne die beiden Schwuchteln begrüßte, aber da ich meine Brille nicht aufhatte, konnte ich mir keine Vorstellung davon machen, mit was für Typen er sich rumtreiben würde.

Foto links: Dragon Images/Shutterstock | Foto rechts: Serge Lee/Shutterstock

Auch Silke und Giuseppe hatten frei. Silke nutzte die Gelegenheit, um in der Spanischen Reitschule ihre Pferdeliebe zu pflegen, Giuseppe trug seine Frömmigkeit zum Stephansdom. Martin und ich hatten wirkliche Aufgaben. Martin durfte den schönen, neuen Wagen fahren; dafür musste er zunächst mal den Fahrersitz einen halben Meter zurückstellen. Wir fuhren über den Naschmarkt, was eigentlich verboten ist, und ich wunderte mich, wie vergleichsweise gut wir ihn am Samstagmittag überqueren konnten. Ich kenne den Naschmarkt nicht ganz so gut wie den Viktualienmarkt – aus München habe ich immer Radi und Weißwürscht mitgebracht, aus Wien immer die Naschkasterln mit Liliput-Konfekt von Altmann & Kühne. Roland fand beides schön, aber aus Wien gab es außerdem eine Stange Zigaretten: Von mir als Nichtraucher ein uneigennütziges Mitbringsel, doch der Duty-free-Laden hatte natürlich auch Wachauer Marillenschnaps. Am Tag vor seiner Lungenoperation rief Roland mich am Morgen an und sagte: „Jetzt rauche ich meine letzte Zigarette.“ Und dabei blieb es, bis er dreieinhalb Jahre später starb. Ja, er hatte Charakter.

Foto links: Alp Aksoy/Shutterstock | Foto rechts: PhotoSGH/Shutterstock

Keine Naschkasterln mehr mitbringen zu können, nicht vermisst zu werden, keine grotesken Ansichtskarten aus San Francisco oder Sidney mit verspielten Texten abschicken zu müssen, das ist wohl der wahre Grund, warum ich meine sichere, kosmopolitische Stellung bei der ‚Deutschen Grammophon Gesellschaft‘ aufgegeben habe – um Filme zu fabrizieren, die nie die Durchschlagskraft einer von mir produzierten Mahler-Sinfonie haben werden. Aber vielleicht ist auch meine damalige Position als ‚Klassikmensch‘ inzwischen so ausgestorben wie Scharfrichter oder Kaffeeriecher.

Foto links: Tupungato/Shutterstock | Foto rechts: jmcdermottillo/Shutterstock

Heute wollte ich endlich etwas Vernünftiges tun. Ich würde Thomas Glavinic interviewen, Martin würde ihn filmen. Thomas Glavinic ist in diesem Jahr der Autor, der für die nach meinen Eltern benannte Guntram und Irene Rinke Stiftung sich und die Zeit beobachtet, unsere TAGEWERK-Reihe. Zeitgeist, Lebensgefühl und eine anschauliche Ausdrucksweise lagen mir immer schon am Herzen; deshalb habe ich diese Kriterien zu den Säulen der Stiftungsarbeit gemacht. ‚Ich in meiner Zeit‘ war in den vergangenen zwei Jahren das Thema unseres Schreibwettbewerbs, auf der Privatschule Schloss Torgelow in Mecklenburg und in Hamburg im Rahmen des Projektes ‚KLASSEnSÄTZE‘. ‚Wir in unserer Zeit‘ ist der Untertitel aller meiner Jahresfilme, die minutiös das Leben von 1975 bis 1990 beschreiben, aber bei Adam und Eva anfangen und bis in die Gegenwart hineinreichen, vor allem durch die Aufnahmen, die Martin in diesen Tagen macht. ‚Reisende‘ ist der Obertitel des Projekts, das von der Völkerwanderung über Schuberts Wanderburschen bis zum Jet Set und zu den Pauschalreisenden des 21. Jahrhunderts alle meint, die ‚unterwegs‘ sind. Und nun, angesichts der Flüchtlingsströme, bekommt dieser Begriff eine zusätzliche Bedeutung im europäischen Bewusstsein. Die Syrien-Flüchtlinge als ‚Reisende‘ zu bezeichnen, wäre sarkastisch, aber unterwegs sind sie. Wir waren – fern solcher Thematik – unterwegs vom Karlsplatz zum Naschmarkt, den man mit dem Auto nicht überqueren darf. Wir taten es trotzdem, weil wir sonst vor Schönbrunn keine Möglichkeit gesehen hätten, links abzubiegen, und es machte nicht mal Schwierigkeiten.

Foto links: Fishman64/Shutterstock | Foto rechts: Peter Gudella/Shutterstock

Seine Wohnung sei tabu, hatte Glavinic mich wissen lassen, aber das ‚Otto e Mezzo‘ sei gleich bei ihm um die Ecke, den Wirt kenne er gut, dort herrsche genau die richtige Atmosphäre für unser Gespräch vor Kamera und Mikrofon. Mir war das recht, zumal ich an keine Homestory wie für die ‚Bunte‘ gedacht hatte. Trotzdem denkt man bei einer Wohnung, die ‚tabu‘ ist, unwillkürlich an ungemachte Betten, verlotterte Sofas und dreckiges Geschirr. Für den gleichzeitig entstehenden Abschlussfilm meiner ‚Reisenden‘ hatte ich deshalb die paar Beteiligten, die immer noch leben, also weniger als die Hälfte, in ihrem Zuhause gefilmt. Die eigene Heimat und die Welt da draußen – das ist mein Thema, und es ist mein Grund für diese Reise: die Vergangenheit im Herzen, Europa im Kopf.

Foto links: Jack Frog/Shutterstock | Foto rechts: Christian Delbert/Shutterstock

23 Kommentare zu “#4.4 Über den Naschmarkt fahren

  1. Den Naschmarkt habe ich immer sehr geliebt. Es gibt eh nichts schöneres als eine fremde Stadt durch’s Essen und zusammen mit den in ihr essenden Menschen zu entdecken.

    1. Mit dem Auto über den Naschmarkt zu fahren ist allerdings nur etwas für Fortgeschrittene 😉 Ich hoffe es gab keine Kollateralschäden.

  2. Dass Scharfrichter ein ausgestorbener Beruf ist, ist ja eher erfreulich. Bei „Klassikmenschen“ sieht das schon ganz ander aus.

    1. Wenn’s Europa endlich vom Kopf in die Herzen schaffen würde, hätte es vielleicht doch noch eine Chance. Bis dahin herrscht weiter Nationalismus.

      1. Das sollte doch eigentlich Macron’s Job werden. Irgendwie ist da bisher nicht so richtig was draus geworden.

      2. Er ist allerdings gerade auf großer Tour durch kleine Dörfer und versucht durch persönlichen Kontakt den Glauben in seine Präsidentschaft und seinen Kurs wiederherzustellen. So ähnlich stand’s gestern jedenfalls im Spiegel.

  3. Wieso wird das befreundete Päarchen hier verächtlich als Schwuchteln bezeichnet? Provokationen mit homophobem Vokabular macht bei einem schwulen Autor irgendwie wenig Sinn.

  4. Oh wie schön, eine Stiftung mit angeschlossenem Schreibwettbewerb – es ist doch immer toll wenn Künstler den Nachwuchs fördern.

    1. Förderwettbewerbe sind eine super Sache. Und „Ich in meiner Zeit“ ein anregendes Thema. Applaus von meiner Seite.

      1. Was hinter verschlossenen Türen passiert kann nur spannend sein. Fenster putzen und Hosen falten vielleicht ausgenommen…

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