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Europa im Kopf  —   4. Kapitel: Österreich

#4.6 Was sein könnte und was nicht

Silke und Giuseppe trafen im Restaurant ein, kaum dass Glavinic und ich saßen. Nur höhere Gewalt kann Silke unpünktlich machen. Ich sah über den Platz, den ‚Rilkeplatz‘, kein eindrucksvolles, kein störendes Stück Wien, und bestellte ‚dalmatinischen Prosciutto mit Schafskäse‘, da konnte nichts schiefgehen. Glavinic brauchte Sljivovica, bei den ersten beiden begleitete ich ihn, später nicht mehr. Dafür kam ein Spezi von ihm mit seinem Gspusi, und es war alles sehr lebendig; ich kam mir unverkrampft vor und irgendwie gleichaltrig mit allen, bis wir aufbrechen mussten, weil ein verplanter Tagesablauf ja nicht angehalten werden kann wie ein alter Plattenspieler.

Foto links: H. R./Privatarchiv | Foto rechts: Andrey Starostin/Shutterstock

Am ‚König von Ungarn‘ trafen Silke, Giuseppe und ich auf Martin, der inzwischen die ein oder andere Wiener Sehenswürdigkeit mit Drohne oder in Zeitraffer aufgenommen haben mochte, und nun ließen wir uns hinaus zum Weingut ‚Fuhrgassl-Huber‘ navigieren. Wien ohne Heurigen wäre gewesen wie Berlin ohne Mauer. Ich hatte die Location ergoogelt, aber als wir eintrafen, erinnerte ich mich, dass ich das Ausflugsziel kannte: Hier war ich schon mit Leonard Bernstein, mit einer etwas länger anhaltenden Mitternachtsbekanntschaft und auch mit meiner lieben Mutter gewesen, und dieses Mal stand sogar Rafał vor der Tür.

Er führte uns durch Weinranken und über Stufen zu den Plätzen, die seine Freunde ergattert hatten: mit Blick auf die Terrassen, die Geranien, die Tische und Bänke. Menschen, gerade noch in Maßen, fast schon in Massen. Rafałs Freunde entpuppten sich: huch, nicht, wie erwartet, ein aufgekratztes Schwulenpärchen, sondern ein bodenständiges Ehepaar: Evelyn und Christian. Ich war freudig überrascht, konnte dem aber nicht Ausdruck verleihen: Mit „Ach, Sie sind ja gar keine alten Tucken!“, beginnt man im Allgemeinen keine Konversation. So wurde es ein entspannter Abend; ich trank zwei Krüge Heurigen, blieb bei Liptauer, während ich neidlos den Schnitzelessern zusah und drängte mich nicht durch übermäßige Belehrungen in den Vordergrund. Die Schrammeln spielten Ungarisches, die Madln brachten Geselchtes, die Servietten waren aus Papier, die Menschen waren heiter, und der Himmel war es auch. Geselligkeit am 15. August, dem Tag, an dem der Sommer kippt. Wir verabschiedeten uns, schön, dass es stattgefunden hatte, nicht schlimm, dass es vorbei war. Martin fuhr uns zum Hotel. Silke und ich verschwanden in unseren Zimmern. Giuseppe und Rafał verschwanden in die Nacht.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Von dem, was die Nacht bewirkt, habe ich eine genaue Vorstellung; ob ich immer noch recht habe, werde ich nicht erfahren. Ich werde nie mehr losziehen, um mich auszuprobieren. Trotzdem weiß ich, wie das ist. Was ich nicht sehe, regt mich mehr an, als das, was ich sehe. Was ich ahne, macht mich neugieriger als das, was ich weiß. Was ich habe, beschäftigt mich weniger als das, was ich will. Das ist vielleicht nicht human, aber menschlich. Keine guten Aussichten also für die, deren Absicht es ist, die Menschheit ewig glücklich zu machen. Glück als Zustand ist von der Natur nicht vorgesehen. Im Glück steht die Zeit still, und Stillstand wäre physikalisch das Ende des Universums. Doch das passiert ja nicht. Es ist wichtig, zu verbessern, zu verbessern, zu verbessern. Das Gute erreicht man sowieso nie. So geht es immer weiter und weiter: Die Natur hat keine Eile, der Mensch hat keine Zeit. Anders wird es nie werden. Nie.

Foto links: Triff/Shutterstock | Foto rechts: Henryk Sadura/Shutterstock | Foto unten: leoks/Shutterstock

Der letzte Abreisetag vor unserer Verschnaufpause. Das Wetter war besser als erwartet, blieb es aber nicht. Ab Linz trübte sich der Himmel ein, und ich dachte, was ich immer denke: Bis eben hätte ruhig die ganze Zeit über schlechtes Wetter sein dürfen, und ab morgen soll es von mir aus für den Rest des Jahres gewittern, aber jetzt, nur jetzt, brauche ich Sonnenschein, damit ich Licht und Schatten unterscheiden kann und, viel wichtiger, damit auch Martins Kamera den Unterschied einfängt. Stattdessen musste ich dankbar sein, dass es nicht regnete, als wir auf Schloss Fuschl ankamen; denn das hätte die Drohne nicht mitgemacht oder jedenfalls Martin nicht mit ihr. Ich erbat von dem ersten Angestellten, der mir auf dem Parkplatz begegnete und dafür sicher nicht zuständig war, mehr gebieterisch als untertänig, die Erlaubnis, die Drohne steigen zu lassen; er gewährte das Ansinnen sogar geschmeichelt und fuhr mich mit dem Elektrowagen bis direkt ans Schlossportal, was wiederum mir schmeichelte. Die Drohne erhob sich in das flache Gewölk über dem See, der unterhalb des Schlosses malerisch zwischen Wiesen und Wäldern eingebettet darauf wartete, liebevolle Erinnerungen in mir wachzurufen. Er kennt mich lange genug, um zu wissen, dass ich ihn nicht enttäuschen würde.

Foto links: feghoul messaoudi/Shutterstock | Foto rechts: dinkaspell/Shutterstock

Schon 1989 waren wir alte Bekannte, als ich mit Roland hier Winterurlaub machte. Wir stapften rund um ihn, den See, das schaffte Roland noch, damals; heute, für mich, wäre das undenkbar. Der Schnee war so weiß gewesen und mein Herz so voller Sorge, selbst wenn ich behaupte, es war der letzte unbeschwerte Urlaub. Unbeschwert! War ich das je? Joop mit Entourage war auch da; beim Abendessen war das im kleinen Saal ein Tuntengekicher, wie es mir gestern beim Heurigen erspart geblieben ist – und doch war es herrlich damals. Als ich Jahre später mit Krystian Zimerman und ein andermal mit Irene um den sommerlichen See lief, war mein Gemüt schon tränenschwer. Und heute: Die Drohne schwebte teilnahmslos und gewissenhaft hoch über dem Wasser, wir schwebten erwartungsvoll von der Eingangshalle die Stufen hinab ins Restaurant. Österreich verabschiedete sich mit einem Tief, aber sehr nobel, dafür hatte ich gesorgt. Zunächst waren wir ziemlich allein mit dem trachtengestylten Personal. Alles sah aus wie immer und strotzte vor Gediegenheit. Nach der Suppe kamen die Kessler-Zwillinge mit einer noch älteren – wie Silke fand, sehr gut frisierten – Dame. Die eineiigen Schwestern habe ich aus den Sechzigerjahren etwas anders in Erinnerung, mich auch. Ja, die Zeit vergeht, sie hat ja sonst nichts zu tun.

Fotos (2): Wikipedia/gemeinfrei

25 Kommentare zu “#4.6 Was sein könnte und was nicht

  1. „… weil ein verplanter Tagesablauf ja nicht angehalten werden kann wie ein alter Plattenspieler.“ Haha, irgendwie ein ziemliches First World Problem und trotzdem auch so sympathisch.

      1. „ortschritt ist etwas, das auf dem allgemeinen und angeborenen Verlangen jedes Wesens beruht, über seine Verhältnisse zu leben.“ 😉

    1. Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die anderen. Und das ist deshalb so schwer, weil wir die anderen für glücklicher halten, als sie sind.

      1. Das klingt plausibel, aber stimmt es? Glücklich sein zu können, ist mehr eine Frage des Charakters als der äußeren Umstände. Neidisch ist nur der /die Glücklose. Und dass jeder seinen ganz persönlichen Kummer hat, können wir von ‚Anna Karenina’s erstem Satz ableiten.

      2. Hmmm, diesmal weiss ich nicht ob Sie Recht haben. Will der Reiche nicht auch noch reicher sein, als sein Konkurrent? Muss man nicht immer der beste, tollste, stärkste sein?

      3. Das war wohl so in den Nachkriegsjahren in der Bunderpekublik. Inzwischen wird doch mehr auf das eigene Glück geschaut als auf das der Nachbarn. Narzissmus oder Altruismus? Jedenfalls ist Carsharing zeitgemäßer als ein Koenigsegg Agera RS.

  2. Die Dramaturgie ihrer Reisen ist immer wieder beeindruckend. Silke, Rafal und alle anderen gelegentlichen Miteisenden werden ziemlich verwöhnt.

    1. Nicht nur ein spannender Reisereporter sondern auch der ideale Reiseplaner. Ist mit auch schon aufgefallen.

  3. In Linz war ich noch im letzten Jahr. Selbst als Deutsche spürte man den Fremdenhass. Wirklich sehr sehr seltsame Atmosphäre dort. Traurig.

    1. Oh das klingt nicht unbedingt nach einem angenehmen Aufenthalt. Allerdings würde es vielen Deutschen auch mal gut tun, zu erleben wie sich Fremdenhass anfühlt.

      1. Jede vermeintlich überlegene Gruppe sollte mal Außenseiter sein. Sicherlich sehr lehrreich.

      2. Heute will fast jeder etwas Besonderes sein und sich gleichzeitig zugehörig fühlen. Schwer vereinbar. Vielleicht wäre eine schöne große Außenseiter-Gruppe das Ideal; aus der heraus kann man dann die anderen beschimpfen und verachten.

      3. Ist das nicht genau der neue Nationalismus? Wir fühlen uns alles als Außenseiter in unserem eigenen Land? Was’n Quatsch!

      4. Deshalb schimpft doch jeder auf Flüchtlinge. Weil sie eine Invasion planen und uns zu Außenseitern machen. Aliens waren gestern. Fremdenhass is the new black.

      5. Na na! J e d e r schimpft ja nun doch nicht. Fremdenhass ist Armenhass. Reiche Scheichs, die Geld ausgeben, sind auch in Chemnitz im Schlosshotel Klafftenbach herzlich willkommen.

    1. Elegante Damen, ein wenig wie angewelkte Rosen. Wer schon genügend Rentnerinnen in lila Stretchhosen aus Bussen hat steigen sehen, der ist für ein bisschen Show-Appeal am Nachbartisch dankbar.

      1. Haha für ein bischen Showappeal bin ich immer dankbar. Langweilige Menschen gibt es ja weiss Gott genug.

      2. Meist wird ja eher Show- mit Sexappeal verwechselt. Auch langweilig.

      3. Vor allem mit wird allzu oft Sex mit Sex-Appeal verwechselt. 90% der Popstars sollten das vielleicht überdenken.

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