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Europa im Kopf  —   4. Kapitel: Österreich

#4.7 Zwei brechen ab, drei brechen auf

Martin kam, um unser beschauliches Mittagessen zu stören. Ein Oligarch im weißen Bademantel hatte sich seinerseits durch die Drohne gestört gefühlt und seine Bodyguards angewiesen, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Ob der Russe befürchtete, von Putin oder von Erdoğan mittels Drohne ausgelöscht zu werden, wusste Martin nicht, wohl aber, dass ein Megastau die sonntägliche Autobahn verstopfte. Giuseppe hatte uns kurzfristig gestanden, dass er am Montag Unaufschiebbares zu Hause zu tun hatte, deshalb musste er den Zug von Trient nach Bassano erreichen. Martin war die undankbare Aufgabe zugefallen, ihn (hin und zurück 120 km Umweg) zum Bahnhof zu transportieren, und es war in Ordnung, dass er darauf aufmerksam machte, dass das kaum noch zu schaffen sei; ärgern tat es mich trotzdem. Giuseppe schlang den letzten Bissen seiner erlesenen Mahlzeit weg, sagte viele entschuldigende italienische Wörter und rannte Martin hinterher.

Fotos oben links: Roman Stetsyk/Fotolia | Foto oben rechts: rostyslav84/Fotolia | Foto unten: Yuri Bizgaimer/Fotolia

Inzwischen füllte sich der Saal mit Gästen, die von der Matinee kamen; die Herren richtig mit Anzug und Krawatte, wie ich das bei den Salzburger Festspielen früher gewohnt war, die Damen entsprechend. Vielleicht haben sie nichts begriffen, aber sie haben sich Mühe gegeben. Schlecht angezogen zu sein, finde ich fast so schlimm, wie das e-Moll-Motiv im ersten Satz der ‚Eroica‘ in der Reprise nicht wiederzuerkennen. Wo liegt im Publikum die Schnittstelle zwischen Konvention und Expertise? Zwischen 1975 und 1992 war ich jedes Jahr bei den Salzburger Festspielen gewesen, danach nie wieder: ein Schauplatz wie ein Smoking; den lässt man sich nicht gern schmutzig machen, schon gar nicht von einer gedankenlosen Gegenwart. Die Salzburger Nockerln schafften wir auch ohne Giuseppe. Dann fuhren wir weiter, hochbefriedigt.

Foten oben links: Atosan/Shutterstock | Foto oben rechts: carso80/Fotolia | Foto unten: H. R./Privatarchiv

Die Autobahn war wirklich sehr voll, so voll, dass wir sie bei Bad Reichenhall verließen. Da war ich mit Roland im Winter 1988 gewesen, ein Jahr vor Fuschl: Unsere glorreichen Jugendzeiten der schäbigen Pensionen in Portugal und Spanien waren, ach, so vorbei.

Wir fuhren am Abzweig nach Kitzbühel vorbei. Da hatte meine wenig ruhmreiche Karriere als Skiläufer, ohne dass ich es ahnte, geendet. Ich streifte die Skier ab wie immer, und kein fremdes Tremolo und keine eigene Absicht deuteten an, dass nun Schluss sein würde. Fast jedes Jahr war ich mit meinen Eltern in Kitzbühel gewesen; meine ersten Filmaufnahmen sind vor der ‚Tenne‘ und am Hahnenkamm entstanden, selbstverständlich von Schuberts ‚Winterreise‘ vertont, und noch mit Roland habe ich es bis auf die Bichlalm geschafft.

Der nächste Abzweig führte nach Reit im Winkl, da hatte meine Skikarriere begonnen. Gleich nach dem Abitur. Inzwischen hatte Kurt Becker nach Carolas Selbstmord Gerda geheiratet. In Reit im Winkl hatten die beiden ein Haus, in dem meine Eltern sie besuchten, und statt meine Zeit vor dem Studium mit Gleichaltrigen zu vergeuden, folgte ich ihnen lieber in den Schnee. Altklug? Immerhin besuchte ich die Skischule und abends ein Mädchen aus Erlangen, denn es war für mich ein Anliegen, ihr zu beweisen, dass ich besser küssen als wedeln konnte.

Foto links: Guido Vermeulen-Perdaen/Shutterstock | Foto rechts: Sebastian Jakob/Shutterstock

Ich war dann noch ein paarmal in Reit im Winkl. Drei Ecken weiter begann Österreich. Von einem Familienausflug zu dritt nach Kössen hatten wir einen Rehrücken mitgebracht. Der bayerische Zollbeamte ließ sich die Metzgertüte öffnen und sagte, Frischfleisch ginge gar nicht, das käme ihm nicht über die Grenze. „Ach“, sagte meine Mutter, „wie schade!“ Guntram kehrte um. Aber natürlich wusste er, dass man das mit seiner Frau nicht machen kann, und wunderte sich noch ein bisschen weniger als ich, als Irene hinter der übernächsten Kurve das Wild aus dem Papier löste und sich vor den Unterleib klemmte. An der Grenze lächelte sie huldvoll, und im Bad im Winkl wusch sie sich das Blut vom Bauch. Dass wir nie im Leben einen zarteren Rehrücken gegessen hatten, versteht sich von selbst. – Zurück ins Jetzt: Bei Wörgl erreichten wir wieder die Autobahn. Ob wir über die Landstraße schneller davongekommen waren, blieb dahingestellt, aber zumindest hatten wir nicht im Stau gestanden.

Foto oben links: Alterfalter/Fotolia | Foto oben rechts: Tijana/Fotolia | Foto unten: BBA Photography/Shutterstock

Als wir ohne weitere Verzögerung in Meran eintrafen, waren wir sehr verwundert, Martin nicht anzutreffen. Doch als er gegen acht kam, konnte er stolz berichten, dass Giuseppe dank Martins halsbrecherischer Fahrweise seinen Zug gerade noch, wenn auch ohne Gepäck, erreicht hatte.

Foto: ClareCoyle/Shutterstock

Nun war ich also wieder zu Hause, nicht in Othmarschen, aber in Südtirol. Das Fernsehen funktionierte sofort, das Internet auch, ich trank wie versprochen grünen Tee statt weißen Wein, duschte im eigenen Bad und schlief im eigenen Bett. Da, wo die Rollläden so dicht schließen, dass ich nicht sehen kann, wo ich bin, da bin ich zu Hause.

Foto: Peter de Kievith/Shutterstock

25 Kommentare zu “#4.7 Zwei brechen ab, drei brechen auf

    1. Nicht jede Drohne bedeuted gleich Krieg. Da waren die Herrschaften wohl etwas paranoid. Oder der Herr Oligarch hatte Angst, dass man auf den Videoaufnahmen sein lichtes Haar sehen könnte. Hahaha

    1. Mit blutigem Bauch das Reh über die Grenze gerettert. Wirklich groß. Ob’s solche Geschichten in 10 Jahren auch mit Tofu gibt?! 😉

      1. Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh‘ ich wieder aus. Nach Ruhe klingt mir das auch eher nicht, aber zum Glück muss man ja gar nicht immer dasselbe denken und fühlen.

  1. Jedermann und die Neubauten. Ich glaube auf die Kombination ist bisher auch noch niemand gekommen. Wie war das nochmal, Genie und Wahnsinn?!

      1. Hahaha, Eigenlob stinkt zwar, aber wo Sie Recht haben, haben Sie wohl Recht.

    1. Beim Jedermann denke ich immer gleich an Veronica Ferres und billig produziertes Theater. Wahrscheinlich völlig zu Unrecht. Die Einstürzenden Neubauten werten’s jedenfalls erstmal auf.

  2. Nichts verstanden aber hübsch angezogen. Anders herum ist’s mir ja in der Regel lieber. Kunst soll ja nicht kur Entertainment sein, sondern fordert auch ein bischen Einsatz jenseits der Garderobe.

      1. Hübsch aussehen hilft gegen Dummheit wenig, macht das Leben allerdings sehr viel erträglicher.

      2. Zeit für ein Doris Day Zitat: Die Frauen machen sich nur deshalb so hübsch, weil das Auge des Mannes besser entwickelt ist als sein Verstand.

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