Beide waren wir kleiner gewesen, als wir uns kennenlernten: Meran und ich. Meran hatte noch keine Vorstadthäuser, ich noch keine Barthaare. 1954, ich war acht. Zum ersten Mal in den Bergen. Ich mochte sie lieber als die graue Nordsee der vergangenen Jahre und genauso gern wie die Adria, von der wir gerade kamen. Seither war immer der Süden, nie der Norden, mein Wunschziel gewesen. Trotzdem mussten Meran und ich zwölf Jahre warten, bis wir uns wiedersahen, doch von da an sahen wir uns Jahr für Jahr und wuchsen: Meran an Einkaufspassagen, ich an Bauchumfang.

Auf dem Bauernhof der Familie Malleier war Maria die Wirtin. Ich taufte sie ,Mary‘, um sie auf diese Weise von der Gottesmutter abzugrenzen; dennoch hat sie, vom Birnenschnaps beflügelt, ihre Himmelfahrt bereits hinter sich. Damals fuhren mein engster Freund seit der Schulzeit Harald und ich in jedem Sommer auf ihren ‚Schmiedlhof‘, oberhalb von Lana mit Blick auf Bozen rechts und Meran links. Meine Eltern ließen sich nur einmal dazu herauf, dort mit mir Quartier zu beziehen. Irene war es dort einfach zu rustikal, speziell auf dem Abort, aber für Ausflüge zu Mary blieb sie offen. 1978, das Jahr, in dem Roland sein Abitur auf der Abendschule machte und eine ausgedehnte Reise ums Mittelmeer nicht infrage kam, liefen wir mit Harald zu dritt durch Marys blühende Landschaften.

Ein Jahr später sind Guntram, Irene, Harald, Roland und ich von meiner neuen Kamera mit Selektivschärfe festgehalten worden, so dass die Gesichter vor dem matten Hintergrund des Bauerngartens leuchten. Apfelernte, Herbstlaub.

Zwei Jahre später zwang ich sogar Pali zu Mary, obwohl er alles, was ihm volkstümlich vorkam, verabscheute. Er wollte keine gescheuerten Tische sehen, sondern Klapperdeckchen zwischen den Tellern. Seine Tracht war der Abendanzug. Trotzdem tat er mir zu meinen 35. Geburtstag den Gefallen und ließ sich am 19. Juni vor dem ‚Schmiedlhof‘ ablichten. Mohnblumen, Lindenblüte. Da hatte ich nun meine ganze Lebensversicherung auf einer Police. Fünffache Absicherung, fünfmal Zuflucht vor allem, was an Katastrophen über mich hereinbrechen könnte. Fünfmal das Versprechen auf Geborgenheit, fünfmal das Wissen, ich kann mich benehmen, wie ich will; mir wird verziehen, mir wird geholfen. Ich bin so ängstlich und so vorlaut, so abenteuerlustig, so gefährlich mutwillig, und das kann ich mir erlauben, denn ich habe ja meine Seelenheimat: Irene, Guntram, Harald, Roland, Pali. – Alle tot. Alle tot.

1979 bezogen meine Eltern ihre ‚Zweitwohnung‘, wie sie es nannten, im dritten Stock am Ortsrand von Meran. Das war – klingt es zu gossenphilosophisch, wenn ich sage: ‚Wie alles im Leben‘? – ein paar Jahre lang schön, dann nicht mehr. Ich lasse es mal so stehen. Im Gegensatz zu all den Apfelbäumen rings ums Haus; die wurden gefällt, um weitere Etagenhäuser zu errichten. Pali verstimmte ‚Irina‘, wie er sie immer nannte, bei seinem Meran-Besuch, als er im Wohnzimmer sagte: „Also in Hamburg wohnt ihr hübscher.“ Ich weiß noch, wie Irina ein paar Minuten später in der geräumigen Küche eine mittelgroße Schere, mit der sie eigentlich Schnittlauch für die Rühreier hatte schnippeln wollen, voller Wut und Wucht auf die Fliesen schleuderte und schnaubte: „Das muss ich mir in meiner eigenen Wohnung nicht gefallen lassen!“ Aber in wessen Wohnung sonst? Guntram sagte begütigend „Püppcheeen …“, und ich deckte schon mal den gescheuerten Tisch, während Pali mit den anderen Gästen im Wohnzimmer dem nervenzerfetzenden Geräusch lauschte, das der Wind den Plastikplanen auf den Neubauten entlockte.

Im Grunde sah Irene es ja ein und suchte so lange, bis sie, ganz nahe am Zentrum, in einem Privatweg etwas Ansprechenderes fand. In diese Wohnung zogen meine Eltern 1987, und acht Jahre später kaufte Guntram das Nachbarhaus dazu; so blieb für mich die Wohnung, in der lebt jetzt Silke; die Gärten gehen ineinander über, und so kann man von ihrer Terrasse gleich zu meiner laufen, durchs Gras. Ich schlafe im Guntram-Zimmer im ersten Stock in der Villa, Rafał hat den zweiten Stock für sich, und Martin logierte für die kommenden drei Nächte neben mir im ehemaligen Irenen-Zimmer mit rosa Ornamenten unter der Decke, so dass Silke drüben ihre Ruhe hatte.

1998 war Guntrams Polyneuropathie so weit fortgeschritten, dass er die Meran-Reise zum letzten Mal antrat: Die Wendeltreppe in der Villa schaffte er nicht mehr, und in die Wohnung zurück wollte er nicht. Es war schon trübe Aussicht genug für ihn, aus seinem gewohnten Doppelhaus zu mir ins ‚Kutscherhaus‘ ziehen zu sollen. Nur murrend hatte er das Grundstück erworben. Es lag, genau wie in Meran, am Ende einer Privatstraße, und Guntram gefiel der Gedanke nicht, auf diesen ‚Hinterhof‘ mit kleinem Garten zu ziehen, wo er doch bisher so einen schönen (handtuchartigen) hatte. ‚Arbeitersiedlungshäuschen‘ hatte er unsere Klinkerbauhälfte immer verunglimpft, aber inzwischen war sie ihm ans Herz gewachsen. Doch seine Beine konnten die Stiege in den ersten Stock nicht mehr bewältigen, und er wiederum konnte sich nicht vorstellen, was Irene und ich mit seinem Geld aus seiner neuen Anlage machen würden.

Fotos (4): H. R./Privatarchiv

„Das Ganze kommt zehn Jahre zu spät!“, sagte Irene immer wieder, als meine Eltern schon im ‚Kutscherhaus‘ wohnten, Guntram darüber aber nicht glücklich werden konnte, weil ihn nichts anderes mehr beschäftigte als der Verlust seiner Beweglichkeit. Sie meinte wohl, dass Frau Wolter, die lebenslanges Wohnrecht unten in meinem Häuschen genossen hatte, zehn Jahre früher hätte sterben sollen; dann hätte relativitätstheoretisch ja auch Roland eher sterben müssen. Meine Mutter hätte das wohl nicht weiter gestört, und mich hätte es eben nur ein bisschen früher unglücklich gemacht, die Weltgeschichte wäre unberührt geblieben. Für mich hätte alles so bleiben sollen, wie es war, alle Übereinstimmungen, alle Streitereien. Unsere vier Mansardenzimmer über Frau Wolter, uns hatten sie gereicht. Ach nein, mir hatten sie gereicht. Roland hatte längst schon nach etwas Repräsentativerem Ausschau gehalten …

Foto: Aneese/Shutterstock

Lustig, inzwischen spielt sich mein Leben also am Ende zweier Sackgassen ab, einer in Deutschland, einer in Italien; und meine Idee, später beide einzutauschen gegen ein Penthouse in Berlin-Mitte, um mit dem Fahrstuhl gleich hinunter zu gleiten, mitten ins pralle Leben, diese Idee wird vielleicht so lange auf Eis liegen, bis ich selber im Kühlraum eines Beerdigungsinstituts liege.

Foto links: hanohiki/Shuttertock | Foto rechts: gualtiero boffi/Shutterstock

21 Kommentare zu “#5.1 In Sackgassen

  1. Ich hab‘ immer davon geträumt, sobald ich pensioniert bin, mitten in die Großstadt zu ziehen. Lange ist’s nicht mehr hin. Ich hoffe ich trau mich.

    1. Ich würde sagen: einfach drauf los! Man will ja nicht am Schluss zurückschauen und denken man hat eine Chance verpasst.

  2. Ungewollt umziehen ist ein Graus. Das kenne ich von meiner Mutter und durch ganz andere Umstände auch von mir selbst. Man kann gegen seinen Willen einfach schwer loslassen.

  3. Wie sehr die Weltgeschichte vom eigenen Unglück verschont bleibt ist doch gleichermaßen erschreckend wie beruhigend. Am Ende relativiert sich alles.

      1. Das eigene Leid ist immer das schlimmste. Was am anderen Ende der Welt passiert, interessiert in der Regel wenig. So ist’s nunmal.

  4. Ist das Leben nicht grundsätzlich eine Sackgasse? Jedenfalls hat meines Wissens noch niemand einen Ausweg gefunden…

      1. Das ewige Leben wäre auf Dauer sicherlich wahnsinnig langweilig und ermüdend. Lieber spannende 70 Jahre wenn man mich fragt…

      2. Neulich wider eine Doku gesehen, wo geforscht wurde, wie man sein „ich“ später in einen Roboterkörper verpflanzen kann. Ob das wirklich die Lösung ist, sei dahingestellt.

      3. „Der Durchschnittsmensch, der nicht weiß, was er mit diesem Leben anfangen soll, wünscht sich ein anderes, das ewig dauern soll.“

      4. Oh wer sagt das denn? Ich habe das Gefühl das gilt nicht nur für den Durchschnittsmenschen 😉

      5. Hahaha, wie wahr. Auf die Idee, dass man ohne Zeit auch keine zeit totschlagen muss, bin ich noch gar nicht gekommen.

  5. Ihre Dokumentationsversessenheit ist in der Tat erstaunlich. Trotz den vielen Homevideo-Erlebnissen in den 80ern und 90ern kenne ich niemanden, der auch nur annähernd ein solch aufwendiges und ausuferndes Archiv seiner Erlebnisse besitzt.

    1. Meinem Gedächtnis als Aufbewahrungsort für Vergangenes habe ich nie genügend vertraut. Und ohne die eigene Vergangenheit bleibt man zweidimensional. Aber nun habe ich nicht nur sämtliche meiner Filmschnitte im Kopf, sondern auch die Köchelverzeicher-Nummern aller Mozart Klavierkonzerte bis zum letzte: Nummer 27, B-dur, KV 595.

      1. Die meisten Menschen sind wahre Sammler. Schon interessant. Und wenn’s ’nur‘ die eigenen Erlebnisse sind, die archiviert und gesammelt werden.

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