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1811
Europa im Kopf  —   5. Kapitel: Südtirol

#5.2 Gedanken, Gefühle, Geschichte

Selbstverständlich waren auch die beiden Meran-Tage voll durchgeplant. Eigentlich dienten sie nur dazu, die Herbstgarderobe nicht nach Restitalien weiterschleppen zu müssen, sondern sie dort lassen zu können, wo sie ab Oktober gebraucht würde. Aber schon in Hamburg hatte ich mir ausgemalt, dass der Montag hoch oben im Haflinger Panoramaschaufenster der ‚Alpenrose‘ und der Dienstag tief unten im Publikumsschaufenster des Bozener Laurin-Gartens unerlässlich seien – für das Lebensgefühl und für die Kamera. Doch das miese Wetter machte beide Schauplätze erlässlich, und das kam dem Sendungsbewusstsein meiner Daseinsform zugute; dessen etwas penetrantem Hinweis auf die Körperlichkeit alles Irdischen während der vergangenen zwei Wochen konnte ich nun, alles geistig Abgehobene beiseitelassend, mit physischem Gehorsam begegnen: Es gab nur noch Zwieback und grünen Tee. Für mich. Für sich und Rafał hatte Silke bei ‚Siebenförcher‘ Vitello tonnato geholt; das rosa Kalbfleisch wird dort immer frisch für sie geschnitten, und die Thunfischsauce kommt in einen Extra-Becher; wenn man es nett anrichtet, ist es fast wie im Lokal. Ich aß stattdessen meine ‚Fette Biscottate‘ und trank dazu 緑茶, also Ryokucha. Strafverschärfend bekam ich aufgequollene Weizenkleie, wie vom Wiener Arzt empfohlen – das war mir durchaus recht. Alles, was ich nicht aufessen muss, schlucke ich problemlos. Martin hatte sich mit seiner Ausrüstung in die Höhen begeben. Das macht er gern: nicht, um oben zu sein, sondern um runterzugucken.

Foto oben links: Fortgens Photography/Shutterstock | Foto oben rechts: Andrey Starostin/Shutterstock | Foto unten: Biscotti Gentilini

Danach saß ich wieder an meinem Stammplatz im ersten Stock. Über den Bildschirm sehe ich hinweg. Dann blicke ich, jenseits des langen Balkons, über meine zwei Zypressen, meine drei Pinien und meine Palme ebenfalls hinweg auf meinen Magnolienbaum und meine Berge. Diese Beschreibung erklärt keine Besitzansprüche: Die Zypressen stehen links im Garten unserer Nachbarn Torgglers, die Magnolie im Grundstück rechts von mir, die Berge unter Landschaftsschutz, nur die Palme gehört mir. Am schlimmsten hat es die Pinien erwischt: Sie sind weg. Ihre Eigentümer haben sie so lange mit Benzin begossen, bis sie eingegangen sind. Nun errichten sie an deren Stelle ein zweistöckiges Haus, und wenn es nur einen Funken von Gerechtigkeit in der Welt gibt, werden sie vom Traktor totgefahren, bevor sie dort einziehen können. Bisher jedoch lässt Gott es zu, dass mich die Bauarbeiter akustisch belästigen, ohne mich visuell zu begeistern, während ich am Konzept für meinen letzten ‚Reisende‘-Film bastle.

Foto oben links: H. R./Privatarchiv | Foto oben rechts: Arthur-studio10/Shutterstock | Foto unten: Zirkus ’89 von Hanno Rinke

Der ursprüngliche 1989er war schon etwas eigenwillig gestrickt; die einzustreuenden Interviews mit den Survivors von damals machen das Werk nicht übersichtlicher. So wanderten mein Blick und meine Gedanken hin und her, bis Rafał die vierte Kanne grünen Tee und die dritte Portion Zwieback brachte und Silke zum Fernsehen erschien. In den Hotels hatte ich nicht ein einziges Mal die TV-Fernbedienung gedrückt. Fernsehen im Hotel macht die Fremde noch fremder. Fernsehen zu Hause macht das Heim noch heimeliger. Nach dem ‚heute-Journal‘ ging Silke fort und kam nicht mehr wieder. Als Silke am Dienstag nicht pünktlich um halb zwei auf der Terrasse stand, war es angemessen, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Rafał war das nicht so ganz klar, mir schon.

Foto: rangizzz/Shutterstock

Am Abend war Straßenfest. Rafał und Martin gingen hin, Martin als Kameramann, Rafał als Assistent. Trubel habe ich mir abgewöhnt, auch als Bedürfnis. Wenn ich unbedingt in einer Menge baden will, dann muss die aus Gedanken bestehen – jedenfalls heute: Dienstag ist der Tag mit dem schlechtesten Fernsehprogramm in den Öffentlich-Rechtlichen, und Sender mit Werbung tue ich mir nicht an.

Foto links: iryna1/Shutterstock | Foto rechts: Anze Furlan/Shutterstock

Ständig aufzuwachen bin ich gewohnt. Wenn nichts mich beunruhigt, schlafe ich sofort wieder ein. Kurz nach fünf stand ich aber doch auf und trat auf den Flur. Die Tür zu Martins Zimmer stand noch offen. Dass man in Meran bis drei Uhr nachts oder gar länger unterwegs sein könne, habe ich mir nicht mal zu den Zeiten ausgemalt, als ich in New York selber erst morgens gegen sechs ins Hotel zurückkam; aber vielleicht liefen damals ab Mitternacht in Meran auch wirklich nur noch hin und wieder zerstreute, jetlaggeplagte, sexsüchtige kalifornische Reiseführer an der Passeier Promenade entlang und glaubten, dass da, wo ein Weg ist, doch auch ein Wille sein müsse.

Foto: Alexandros A. Lavdas/Shutterstock

Ich ging zurück ins Bett. Es war ausgemacht, dass wir um 10.00 Uhr abfahren würden. Ich grämte mich. Ich stand wieder auf. Martins Zimmer war leer. Ich stieg die Stufen zum zweiten Stock herauf, was ich das ganze Jahr über noch nicht getan hatte. Es war ein bisschen wie in einem Gruselfilm und genauso dunkel. Ich öffnete die Tür. Ich sah nichts, ich hörte nichts. ‚Er wird doch da sein‘, dachte ich. ‚In fünf Stunden wollen wir fahren. Die Koffer sind noch nicht gepackt. Er wird doch wohl da sein.‘ Ich legte mich wieder ins Bett.

Foto oben: Tapui/Shutterstock | Foto unten: H. R./Privatarchiv

‚Sie sind alle weg‘, walzte es sich mir ins Hirn. Das Kissen schützte nicht. So gut abgesichert war ich mir vorgekommen; fast wie damals – diesmal: Silke, Giuseppe, Rafał, Martin. Alle weg. Weggefahren, totgefahren, nur Gefahren, und ich hilflos in diesem Morgengrauen; als Kind hätte ich wenigstens davonlaufen können, vor meinen Eltern, zu meinen Eltern. Ich stand nochmal auf und stieg nochmal, ans Geländer geklammert, in den zweiten Stock. Ich öffnete die Tür. Ich wollte etwas sehen. Ich wollte das Licht im Treppenhaus anmachen. Es war der verkehrte Schalter. Kurz sprang das Licht an, dann knipste ich es schon wieder erschrocken aus. Die Bettdecke hatte zerwühlt ausgesehen. Lag da jemand? Gerade wollte ich die Tür schließen, da hörte ich Rafałs Stimme: „Alles in Ordnung?“ Nein, nichts. Doch. Ja. Er war seit einer halben Stunde da, sagte er, Martin würde sicher auch gleich kommen.

Foto: Burst/pexels.com

Jaja, und Silke steht mit gepackten Koffern um zehn Uhr am Mercedes. Aber das war nun nicht mehr so wichtig. Ich lag im Bett und schlief nicht. Rafał und ich werden also allein in Venedig sein. Ist das schlimm, ist das schön? Rafał war noch nie in Venedig. Alles wird neu sein für ihn. Vielleicht ist es schön. Ich liebe es, Schauplätze zu zeigen und zu erklären. Darauf kommt es an. – Trotzdem war meine gesamte Dramaturgie ruiniert. Vom ersten Teil in Preußen, in Sachsen, in Böhmen sollte nun nach Wien der südliche Teil der Donaumonarchie folgen: das Trentino, das Veneto. „Mein Großvater hatte noch einen österreichischen Pass“, hatte Giuseppe erzählt. Sogar Venedig war bis 1859 österreichisch. Der Gardasee auch, selbst sein südwestlicher Teil in der Lombardei, mit Sirmione, dessen Geschichte bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückreicht. Es gelang mir, mich in eine so wohlige Wut hineinzusteigern, dass ich wieder einschlafen konnte.

Foto links: Public Domain/Hugo Gerhard Ströhl | Foto rechts: Creative Commons/AlphaCentauri

22 Kommentare zu “#5.2 Gedanken, Gefühle, Geschichte

  1. Zwieback geht mir sehr viel schlechter runter als ‚reguläres‘ Essen. Aber in dem Falle wirklich jeder wie er kann.

      1. Meine Eltern haben eine Zeitlang Isländisch Moos getrunken.
        Dessen Bitterstoffe, Flechtensäuren und Schleimstoffe sind nicht zu überbieten.

      1. Oh es sollen schon Menschen vor lauter Erregung einen Herzinfarkt oder ähnliches bekommen haben…

      2. Ich würde jetzt sagen ein paar Drogen haben grundsätzlich auch noch keinem geschadet, aber das stimmt so leider auch wieder nicht.

      1. Dass gut aussehende Bauarbeiter ohne T-Shirt vor’m Fenster stehen und darauf warten angehimmelt zu werden. Naja, versprochen haben sie’s nicht gerade, aber die Phantasie mit ihrem Spot geweckt sicherlich…

    1. Das ist das Schlimme am Älterwerden. Langsam aber sicher werden die Freunde weniger. Man verliert immer mehr Menschen und gewinnt nur sehr sehr wenige dazu.

    1. Fernsehen ist ja generell recht unnötig. Aber in Hotelzimmern fühle ich mich erstaunlicher meist fast wie Zuhause. Solang’s ein ordentliches Zimmer ist. Selbstredend.

      1. Die Marx Brothers liebten das Fernsehen genauso sehr wie ich: Fernsehen bildet. Immer, wenn der Fernseher an ist, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese.

      2. Vieles ist unnötig. Wenn man sich im Leben allerdings nur mit dem Nötigen befassen will, dann sollte man wohl eher von Existieren sprechen. Viel Leben bleibt da nämlich nicht übrig.

    2. Früher lebten die Menschen, um in den Himmel zu kommen. Die Erde war ihre Reifeprüfung. Jetzt leben die Menschen, um Spaß zu haben. Die Erde ist ihr Jahrmarkt. (Verallgemeinerungen lassen sich besser verkaufen als langatmige Erläuterungen)

      1. Ich weiss gar nicht, ob die Menschen leben um Spaß zu haben, oder ob sie versuchen Spaß zu haben um besser durch’s Leben zu kommen.

      2. Die Idee mit dem Himmel hat sich für die meisten wirklich erledigt. Was diese Lücke schließen soll weiss man aber wohl noch nicht so richtig. Nur die Anerkennung auf Instagram kann’s ja nicht sein.

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