Um zehn Uhr hatte sich Rafał vor Ort davon überzeugt, dass Silke nicht bereit war aufzustehen, und auch Martin hatte er im Ort nicht aufgespürt. Ich rief Giuseppe an und teilte ihm mit, wir würden uns ein wenig verspäten, übrigens seien wir nur zu zweit. Seine Überraschung hielt sich in Grenzen. Dann ging die Tür, und Martin wankte die Stufen entlang. Riechen tat er wie die in Spiritus eingelegte Leiche aus einem abgesetzten ‚Tatort‘. „Ich schlaf noch zwei Stunden, dann komm ich nach!“, übersetzte ich mir, was sein Mund an Lauten herausrückte. Er fiel, wie er war, aufs Bett – und Ruhe war.

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Rafał griff sich unsere Koffer, ich mir meinen Stock, dann konnte es ja losgehen. Der Heuschreck dirigierte wieder den Kohlkopf.

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„Im Spreewald waren wir noch sechs, jetzt sind wir nur noch zu zweit“, sagte Rafał. Mir war der Unterschied auch schon aufgefallen. Mehr interessierten mich die Vorkommnisse der vergangenen Nacht, und die reimte ich mir aus Rafałs leicht stockender Erzählung folgendermaßen zusammen:

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Weder Rafał noch Martin waren bereit gewesen, schon um Mitternacht den brodelnden Hexenkessel Meran mit all seinen ausgefallenen Genüssen sausen zu lassen, um bloß in ihren Betten herumzuliegen, bevor sie gezwungen waren, in die norditalienische Einöde aufzubrechen. Das ‚Rossini‘ ist nach zwölf nicht mehr der Renner, da muss man dann schon in den ‚Raffl Keller‘, das ist nachts das, was im Winter tagsüber ‚Meran 2000‘ ist: supergeilste Abfahrt. Da wird abgetanzt, bis die Hüfte nicht mehr weiß, wo’s zum Knie und wo’s zum Becken langgeht. Rafał ist da genauso zu Hause wie bei mir im zweiten Stock, Martin vielleicht etwas weniger, schon weil Rafał als Disco-Queen viel überzeugender rüberkommt als Martin, und das nicht nur auf Facebook, darum sind sie dann gegen drei auch weg aus dem Schuppen: ‚morgen früh raus und so‘.

Foto oben links: Bignai/Shutterstock | Foto oben links und unten: R. S./Privatarchiv

Auf dem Weg nach oben in die Finsternis spürten sie ihre Blasen. An Bäume zu pissen, geht gar nicht, aber da war ja Gott sei Dank noch das Denkmal. Rafał und Martin ließen sich freien Lauf am Sockel der österreichischen Kaiserin und bekräftigten einander mit „Sissi Pissi“-Rufen. Weiter aufwärts, schon fast am Privatweg steht ein langes, vom Architekten bestimmt ehrwürdig gemeintes Haus aus der Endphase des letzten Kaisers. Was Franz Joseph nicht ahnen konnte: Inzwischen beherbergt das Gebäude nicht nur das chinesische Restaurant ‚La Giunca‘, sondern auch das Bordell ‚La Perla‘. Weder Guntram und Irene noch ich wussten das, Martin auch nicht, bloß Rafał. Was nun geschah, würde ich in meiner Klassik-Verfallenheit gern an Goethe erläutern; Rafał in der Mephisto-Rolle kriege ich dabei gut hin; Martin als Faust fällt mir schon schwerer.

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„Siehst du das Haus dort?“, frage Mephisto.
„Nein, wo denn?“, schnaufte Faust zurück.
„Dort gegenüber, hinter jenem Strauch. Den Ort irdischer Freuden siehst du da.“
„Echt?“
„Willst du ihn kennenlernen? Überleg es wohl!“
„Na klar!“
„Morgen geht es beizeiten weit ins Land hinaus. Willst du zuvor noch sehen, was die Stadt dem, der nach Kenntnis strebt, zu bieten hat?“
„Komm, lass uns ma‘ kurz reingehn!“
„Du sollst erfahren, was es heißt zu leben.“
„Nur mal gucken, was da so abgeht.“
„Komm!“

Fotos(2): Gemeinfrei/Wikimedia Commons

Die Dame des Hauses habe die beiden Ankömmlinge im Foyer aufmerksam gemacht: „Das hier ist ein Puff!“ Und weil wohl sonst nicht viel los war, stürzten sich gleich ein paar Girls auf Rafał, ein paar andere auf Martin. Rafał wurde nach kurzem Begrüßungszeremoniell, das dort vermutlich ungezwungener abläuft als im Buckingham-Palast, dazu aufgefordert, Champagner zu spendieren. Er sagte: „Ich bin verheiratet, und ich habe kein Geld.“ Beides war nicht mal gelogen, klang sicher sehr polnisch und verschaffte Rafał die Freiheit, sich zu entfernen. Aber auch Martin wollte keinen Champagner, jedenfalls nicht für sich; er bevorzugt nun mal ‚Red Bull Wodka‘. Mindestens eines der Fräuleins saß dem liegenden Martin auf der Brust, als Rafał ging; mehr ließ sich aus seiner Perspektive nicht hinzufügen.

Foto links: R. S./Privatarchiv | Foto rechts: Ash Pollard/Shutterstock

Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich jetzt mit Martin zusammen, aber ich habe keine Ahnung, was er von mir hält. Ich weiß nur, auch seine Familie stammt aus Polen, er ist 36, raucht ständig, und kann nicht begreifen, wie man klassische Musik mögen kann. Darum merkt er sich beim Filmschnitt auch nach drei Wochen Umgang mit einer Sinfonie oder einem Konzert nie die Bezeichnung ‚erster Satz‘, ‚dritter Satz‘ oder gar ‚Allegro‘, ‚Adagio‘, sondern sagt immer nur „das Lied“, was dann wieder mir die Zuordnung schwermacht. Andererseits, ihm den Kontrapunkt in einer Bach-Fuge erklären zu wollen, ist so sinnvoll wie Bacardi-Werbung in Teheran. Eberhard Scheele, der bei Leo Kirch für Klassik-Produktionen zuständig war, meinte, man müsse ein Verlusterlebnis haben, wenn man eine Konzertübertragung sieht und plötzlich das Bild abgeschaltet wird. Nun sehe ich viele sinfonische Sätze auf YouTube und ich habe Verständnis dafür, dass Menschen, die noch nie etwas mit Klassik zu tun hatten, abgeschreckt sind, wenn sie alte Männer wie Karl Böhm im Frack und in der Luft rumfummeln sehen. Diese Veranstaltungen sind oft gar nichts fürs Auge, aber Martin hat durch seine Arbeit mit mir das Recht eingebüßt, Klassik abzulehnen, finde ich ungnädig. Andererseits: Wenn ich eine Textstelle in der Sprachkabine fünfmal wiederholen muss, murrt er nicht, weniger, weil ihm das bestmögliche Ergebnis so wichtig ist, sondern weil ihm das alles sowieso ziemlich egal ist, fürchte ich. Das wiederum macht mich ziemlich frei: Er beugt sich widerspruchslos meinen Vorstellungen. Mit seinen Beziehungen lief es nie so toll, aber jetzt ist er schon längere Zeit mit ein und derselben Frau zusammen. Sie hat drei Kinder. Manchmal denke ich, Martin ist das vierte.

Foto: 1971markus/Cc-by-sa-4.0, Wikimedia Commons

Wie die Berge am Ende der engen Schlucht auseinanderstreben, das ist immer wieder überraschend. Bei San Nazario haben sie sich schon zurückgezogen, und kurz vor Bassano sind sie verschwunden. Rafał fuhr, wie immer. Ich dachte, wie meistens. Was ist Treue? Was bedeutet Treue in der Politik, in der Familie, in der Gemeinschaft? Sexuelle Treue, ist das Treue? Geht das? Ist das notwendig, überflüssig? Treue hängt mit Glauben zusammen. Ohne Glauben gibt es keine Treue. Loyalität ist wichtig in einer Beziehung, aber Treue? Ich bin ziemlich treu. Ich gelte als treu und bin es auch. Alle meine Freunde sind mir treu und ich ihnen. Treu beim Sex war ich nie, aber ich habe Roland nie betrogen.

Foto: Roza_Sean/Shutterstock

24 Kommentare zu “#5.3 Verführung

      1. Ist das nicht geschlechtsunabhängig so? Wo die Liebe hinfällt, hört der Verstand auf. Wo die Eitelkeit anfängt, ebenso.

  1. Mephisto treibt sich besonders gern im schwulen Nachtleben herum 😉 Es fällt aber wirklich auch zu schwer eine Gelegenheit auszulassen.

  2. Gleichgültigkeit ist ja keine besonders gute Grundlage für ein anregendes und produktives Arbeiten. Menschen, die ihren Job ohne Murren erledigen wiederum schon. Ein kleines Luxus-Dilemma.

  3. Man kriegt ja schon Lust mal den „Hexenkessel“ Meran zu besuchen. Nicht, dass Ihnen in dem idyllischen Örtchen irgendwann Rinke-Fans auflauern 😉

      1. Thüringen ist generell nicht zu verachten wenn man mich fragt. Man fragt mich aber leider viel zu selten 😉

  4. „Was ist Treue“ ist eine große Frage. Ich halte es mit der großen und großartigen Lili Palmer: Nicht ein Treuebruch ist das große Verbrechen, sondern Gleichgültigkeit, Bosheit und Intoleranz.

  5. Dass alte Männer im Frack erstmal abschrecken, verstehe ich. Dass man halbnackte, ideal ausgeleuchtete, hochglanzpolierte Menschen vor der Kamera braucht, um überhaupt Interesse für einen Song zu produzieren, eher nicht.

  6. Dass es Ihre Erklärung des Kontrapunktes in einer Bach-Fuge nicht in den Text geschafft hat, obwohl Sie zumindest historisch doch mal gerne weit ausholen, hat mich allerdings überrascht…

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