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Europa im Kopf  —   6. Kapitel: Veneto

#6.5 Karriere ohne Gift

1972 hatten Pali und ich also noch bei Frau Kopp geschlafen, und auch Irene nächtigte dort, als Harald und ich 1975 aus Rom eintrafen. Irene hatte sich mit Pali als Schwiegersohn abgefunden, zumal er über die Westberliner Theaterszene noch etwas besser Bescheid wusste als sie selbst. Guntram fiel es schon schwerer, das Arrangement zu akzeptieren – weil es vor seinen Prokuristen deutlich eindrucksvoller gewesen wäre, wenn ich die Tochter eines seiner Golfpartner geheiratet hätte –, als zuzugeben, dass sein Sohn jetzt mit jemandem auf Capri war, der mit der berühmten Therese Giehse Brecht aufgenommen hat. (Sie hieß eigentlich Therese Gift, aber schon damals wusste man, dass es mit diesem Namen schwer war, Karriere zu machen.)

Foto oben links: Porträt Therese Giehse um 1919, Wikimedia Commons/public domain | Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Nachdem Pali und ich zurück waren vom Honeymoon, passierte ein Missgeschick: Ich würde nicht sagen, „ich verliebte mich“, aber ich wurde geil auf jemanden, dessen Name hier nicht wichtig ist, weil mir diese Wallung noch häufiger im Leben unterlief und ich nicht alle aufzählen möchte, bei denen das vorkam und deren Namen mir im Gegensatz zu ihren anderen Besonderheiten nie verraten wurde. Aber genug des Tuntengeschwätzes! Irene war fassungslos, als ich mit dem jungen Mann in den Keller verschwand. Pali hatte mir ja wegen Therese Giehse (Gift) verziehen, aber dass ich meine Geschlechtlichkeit womöglich in noch breiterem Rahmen würde austoben wollen, das ging nun wirklich zu weit. Dass ich diesem jungen Mann, der Irene mit ‚Gnädige Frau‘ anredete‚ dort unten im Partykeller meine Wencke Myhre nie zu Ohren gekommenen Chansons würde vorspielen wollen, war sehr wahrscheinlich, aber Irene ist nun mal zur Hälfte Jüdin, und deren Gott lässt seine Untertanen nicht ganz so doof bleiben wie der christliche Gott, so dass Irene den Braten, eine unkoschere Schweinerei, roch und mich am nächsten Tag vor die Wahl stellte: Entweder – das sagte sie nicht, es war ja klar – oder ich würde mich zu einem (die Worte vergesse ich nie) ‚promiskuitiven Homosexuellen‘ entwickeln, dann müsse ich ihr Haus verlassen. Ich war erst sechsundzwanzig, das war also ein knallharter Rausschmiss, mitten in meiner – vom Katholizismus ein wenig verzögerten – Pubertät. Natürlich entschied ich mich nicht für die Mutter, sondern für die Männer. Irene suchte mit mir die Möbel für die neue Wohnung aus und heulte eine Woche lang, teilweise auch ins Telefon, als ich dann wirklich weg war. Guntram tröstete sie und fragte: „Was heißt ‚promiskuitiv‘?“

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Pali fand es die Jahre hindurch immer wieder mal angezeigt, Irene zu besänftigen: „Sei bloß froh, dass er schwul ist, keine Frau hätte das je mitgemacht.“ Damit meinte er wohl, dass sich meine Mutter und ich recht nahestanden. Für Guntram war das verständlicherweise ein etwas geringerer Trost. Er saß noch in den Neunzigerjahren mit all meinen Freunden – und natürlich Irene – am Abendbrottisch mit erlesenem ‚kalten Dreck‘ und sagte leicht resignierend: „Ich bin hier wohl die einzige Hete!“

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Pech war, dass sich auch nach meinem Eintauchen in die Schlüpfrigkeit Pali und Irene gut genug verstanden, um einen gemeinsamen Aufenthalt in Venedig zu arrangieren. (Keine Angst, ich bleibe wirklich eng am Thema.) Seit dem Frühjahr lebte Pali mit Arthur zusammen. Arthur war Indonesier, sprach einigermaßen Englisch, aber weder Deutsch noch Polnisch. Irene sagte, es müsse irgendetwas in ihrer Jugend passiert sein: Deutsch habe sie in ihrer Kindheit im Handumdrehen gelernt, Französisch auch noch, aber dann, da gab es eine Blockade, und mit Englisch hat es einfach nicht mehr geklappt. Dies machte die Verständigung zwischen Arthur und Irene schwierig, viel zu sagen hatten sie sich ohnehin nicht. Pali war unwirsch, und Irene freute sich darauf, dass Harald und ich aus Rom, wo wir mit Silke und Esther gewesen waren, eintreffen würden. Nicht gerechnet hatte sie mit Carlos, der zwei Tage nach mir aus Wien zu Besuch kam und Irene überhaupt nicht ins Konzept passte, obwohl auch er ‚gnädige Frau‘ zu ihr sagte. So gab es am Lido drei Pärchen: Pali und Arthur, Carlos und Hanno, Irene und Harald.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Harald sagte auf einer Überfahrt vom Lido nach Venedig zu Irene: „Einmal werde ich mich ganz zurückziehen.“ Das erzählte sie mir erst viel später, als das tatsächlich passiert war.

Foto: H. R./Privatarchiv

Es war von Anfang an ein eigentümliches Verhältnis gewesen zwischen Harald und mir. Er groß, fast ungeschlacht, ich zierlich und sehr katholisch. Bei unseren nächtelangen Diskussionen hatte er meine Zuversicht mit meiner Verwurzelung im Glauben erklärt, ohne mir seinen pessimistischen Atheismus aufzudrängen. Wir waren in dieselbe Klasse gegangen, ohne uns zu beachten, bis wir ausgerechtet dadurch aufeinander aufmerksam wurden, dass meine Nachbarin die Freundin des besten Freundes seines Bruders war. Dass aus diesem sehr vagen Anhaltspunkt der Nachbarin aus Caracas eine Freundschaft wurde, die mein Leben zehn Jahre lang begleitete oder sogar lenkte, ist schwer verständlich und höchstens zu erklären durch die ausgeklügelte Terminologie, mit der wir unsere Sprache durchwoben. Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit vertraute mir Harald an, dass er in Riga von Herrn und Frau Doktor Johann adoptiert worden sei. Seine wahren Eltern seien unbekannt. Ich glaubte ihm das – damals. Inzwischen denke ich, Harald fand eine rätselhafte Herkunft origineller als das ältliche Ehepaar, in dessen Haus er lebte; außerdem gefiel es ihm wohl, ein Geheimnis zu haben und mit mir zu teilen.

Fotos (4): H. R./Privatarchiv

Mit Harald war ich ein paarmal in Venedig gewesen, zum letzten Mal 1982 bei ‚Mabapa‘. Roland hatte gerade seine Praxis eröffnet, und so ergab sich noch einmal die Gelegenheit einer Urlaubsreise allein mit Harald, der sich, seit Roland zu mir nach Hamburg gezogen war, unterwegs ein bisschen wie das dritte Rad am Zweirad vorkommen musste, eine erst im Alter beruhigende Vorstellung. Mitte der Achtzigerjahre zog sich Harald tatsächlich völlig zurück, doch wenig trat für ihn an die nun leer gewordene Stelle. Ein paar Tage nach seinem sechzigsten Geburtstag fand man ihn tot in seiner Wohnung. Ob es der Wodka war oder der Überdruss am Leben, hatte ich von seinem ‚Bruder‘ nie erfahren.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Bei ‚Mabapa‘ war ich im Laufe der Jahre mit all meinen toten Beschützern gewesen, mit Pali fast jedes Jahr. Den Namen hat das Hotel von der Eigentümerfamilie: Mama, Baby, Papa. Baby habe ich noch kennengelernt, da war das ‚Baby‘, genauer: sie, 102 Jahre alt. Inzwischen ist das Hotel an die ‚Best Western‘-Kette gelegt. Trotzdem ist es immer noch schön, im Vordergarten der ‚Villa Mabapa‘ zu sein: unter breiten Pinien, und jenseits der Lagune den Campanile von San Marco zu sehen. Da saß ich nun also, ohne Silke, aber mit Martin und mit Rafał, der noch nie in Venedig gewesen war. Carpaccio und Soave. Die Karaffe, der Teller – der Augenblick. „Es ist nicht sinnvoll, diesen Moment festhalten zu wollen“, sagte ich mir; wer möchte schon jahrelang vor Carpaccio und Soave sitzen wie vor der Spindel im Dornröschenschloss?

Foto oben: H. R./Privatarchiv | Foto unten links: Albach/Shutterstock | Foto unten rechts: gemeinfrei/Wikimedia Commons

23 Kommentare zu “#6.5 Karriere ohne Gift

  1. Natürlich entschied ich mich nicht für die Mutter, sondern für die Männer. Ha ha ha, wenn das nur immer so ’natürlich‘ wäre 😉

  2. Bringt man sich eher um weil man genug vom Leben hat oder weil man zu wenig vom Leben hat? In jedem Falle eine schlimme Sache…

  3. Sich irgendwann zurückziehen, wie Harald, wie Marlene, so habe ich mir mein Altwerden auch immer vorgestellt. Ob ich die Kraft dazu habe alles loszulassen, eine andere Frage.

      1. Sich zurückzuziehen, das aber mit ein paar guten Freund(inn)en, scheint mir der erstrebenswerteste Weg. Außer für Johannes Heesters.

      2. Ach Mensch, der Heesters hat mir immer Leid getan. Man fragt sich schon ob er das tatsächlich bis ins hohe Alter wollte, oder ob man ihn irgendwann einfach weiter raus auf die Bühne geschoben hat.

    1. In viel zu vielen Fällen passiert das Einsamsein allerdings auch ohne den gewollten Rückzug. Alles was gegen die eigene Entscheidung geht, macht’s uns schwerer.

  4. Haha, sogar das HB-Männchen war in Venedig! Wohl die einzige von Touristen überlaufene Stadt, die mir trotzdem am Herzen liegt.

      1. Wo heute immer noch keine Touristen sind, muss es schon sehr, sehr hässlich sein. Nun trifft sich die Welt ja sogar schon in Kattowitz!

      1. Da kann man dann sogar (fast) alles andere im Leben besser planen als Geilheit 😉

      2. Die Puff-Ausflüge schaffen lediglich die nötige Gelegenheit, nicht? Ob man dann auch wirklich im richtigen Moment geil wird ist eine ganz andere Frage. Jedenfalls kenn ich das aus meiner Erfahrung (nicht unbedingt mit Puff-Besuchen, aber generell gesprochen).

      3. Geil werden auf Kommando schaffen ja nichtmal Pornstars. Zumindest sieht man dafür zuviele schlappe Schwänze auf den einschlägigen Streaming-Seiten 😉

  5. Oh Gift ist doch ein toller Name! Wenn man damit heutzutage an den Kammerspielen vorspricht, hat man sicher gar keine schlechten Karten.

    1. Roland Lee Gift hat’s jedenfalls auch geschafft. Aber möglicherweise ist der Name außerhalb Deutschlands etwas charmanter.

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