Am Abend gingen wir in die ‚Favorita‘. Es war einfach toll. Diese Ausgelassenheit der Gutgekleideten, eine Stimmung, die als Wortschwall zur Terrassendecke aufstieg und in die Teller mit Scampi und Cozze zurückregnete wie Zitronensaft, so empfand ich es. Asylanten und Sorgen waren weit weg, ich vermisste Silke. Nie geht es mir so gut, wie ich es habe.

Fotos (2): R. S./Privatarchiv

Am Samstag gingen Rafał und ich an den Strand. Wir fanden uns nicht zurecht, Rafał sowieso nicht, aber auch ich erkannte den Abschnitt nicht wieder, in dem ‚Mabapa‘ seine zwei Badehäuschen hatte. Noch zu Palis sechzigstem Geburtstag hatte sich Irene vom adrianassen Badeanzug in den trockenen Bikini gezwängt und sah mit Anfang siebzig gut darin aus. Neunzehn Jahre zuvor hatten wir dort Palis Geburtstag gefeiert: ein langer Tisch unter dem Markisendach des einen der beiden Badehäuschen. Da saßen Pali und Arthur, Esther Ofarim, die damals eine noch bekannte Sängerin war, mit Philip, Palis Neffen, der die zehn Jahre ältere Esther bald heiraten, schwängern und verlassen würde, Guntram und Irene, Susi und ich. Arthur hatte Mozzarella und Tomaten zerschnitten, Basilikum zerpflückt, die Schale schwamm in Olivenöl; Parmaschinken und Melone gab es, Gorgonzola und Asiago. Nah am Meer, nah am Glück. In meiner Ratlosigkeit fragte ich die junge Frau, die an der Strandbar bediente, und – ich war erstaunt – sie wies uns den Weg: Die Kabinen liegen nun hundert Meter weiter südlich; eine solche Strecke durch heißen Sand zu laufen ist für mich das, was früher nur lästig war und heute ‚Herausforderung‘ genannt wird.

Foto: ArTDi101/Shutterstock

Wir bekamen zwei Liegestühle und einen Sonnenschirm im abgegrenzten Revier, und wenn man über die dünne Kette hinweg auf die blanke See starrte oder die Augen schloss, war alles wie immer. Ich bin dabei, mit Rafał gemeinsame Erinnerungen aufzubauen; das ist wichtig. Doch dann musste ich ins Wasser; das ist auch wichtig. So wie früher, als ich furchtlos um die Buchten schwamm, ist es nicht mehr, eher so wie Guntram 1997, als er in Rimini stolz war, im Seichten zu paddeln. Das Grandhotel dort war sein letzter Ausflug ans Meer gewesen; ich hatte ihn nach all den Aufenthalten in Jesolo überzeugt, dieses Mal ist nur das Beste gut genug, und Irene sagte zu mir: „Schwimm nicht so weit raus; du weißt, ich fürchte mich!“

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Irena (so hieß sie auf Polnisch) ist in Zoppot aufgewachsen und schwamm wie ein Fisch. Arm war sie gewesen, doch nie ängstlich. Aber ich durfte nicht sehr viel weiter hinausschwimmen, als man stehen kann. Macht Alter ängstlich? Damals war ich ungehalten, aber heute weiß ich: Die Sorge um einen geliebten Menschen kann auch den ergreifen, der Hitler in der Wolfsschanze etwas professioneller beseitigt hätte, als Stauffenberg das versucht hat. Was mag in Irene vorgegangen sein, als ich während Rolands letzter Lebensjahre immer noch im selben Bett mit ihm schlief? Heute rufe ich den Notarzt wegen Blähungen, damals hatte ich nicht die geringste Sorge, mich anzustecken. Ja, Alter macht ängstlich! Und gleichgültig und tollkühn – je nachdem, welche Pillen man schluckt.

Foto: Javier Correa/Shutterstock

Um halb zwei aßen wir in der Trattoria am Kanal. Sie liegt zwischen Strand und ‚Mabapa‘. Dort zu sitzen in freiwilliger Abgeschiedenheit, den Blick schweifen zu lassen: von den Tintenfischringen auf dem Teller über ein vorbeigleitendes Boot auf die gegenüberliegende Straßenseite mit den venezianischen Häusern, die auf Italienisch alle ‚Palazzo‘ heißen, und zurück zum Essen, das mit genügend Wein aus der Karaffe schon rutschen wird – mehr kann man nicht wollen, jedenfalls ich nicht.

Fotos (2): R. S./Privatarchiv

Gemeinsam mit Martin fuhren wir gegen sechs zum ‚Excelsior‘. Da hatte Pali mich 1972 animiert, ans Klavier zu gehen und eigene Werke zu spielen. Im ‚Excelsior‘ wohnt die Filmprominenz während der Festspiele, und dort, wo er erfunden wurde, habe ich schon mit Pali, Irene, Guntram, Roland und Silke den waschechten Bellini getrunken. Einmal habe ich die zweite Runde empört zurückgehen lassen, weil die weißen Pfirsiche ausgegangen waren und man uns mit gelben abspeisen wollte. Gut, dass Silke dabei war, die den Unterschied nicht nur mit den Augen, sondern, wie alle gebildeten Menschen, auch mit dem Gaumen wahrnimmt. In einer Kaschemme muss man mit Dreck zufrieden sein. Bei siebzehn Euro für ein Gläschen hat man Anspruch auf Ansprüche. Aber ich weiß, man zahlt ja nicht für Prosecco mit Fruchtsaft, sondern für die Fixkosten, die bei diesem Ambiente erheblich sein müssen. So ein Luxus!

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Es kamen Damen und Herren auf die Terrasse, die zu filmen ich Martin gar nicht genug animieren konnte. Wie ausgedacht. Die Roben, wie sie mir manchmal im Vorübergehen in den Schaufenstern von Prada und Armani aufgefallen waren – hier liefen sie rum. Offenbar eine Hochzeitsgesellschaft ziemlich wohlhabender Leute. Unfair, jetzt gleich an Mafia zu denken, aber sie hören es ja nicht. Ich vermisse Silke und ärgere mich darüber. Wieso ist sie jetzt nicht hier und zeigt, was sie hat? Sie kann da spielend mithalten. Wenn sie sich unter die Gäste mischte, würden ihr sofort von sämtlichen Kellnern sämtliche Bellini angeboten. Mit weißen Pfirsichen. Augustinus hätte das angesichts der Flüchtlingsproblematik überflüssig, ja, verwerflich gefunden, und ich? Schon Harald und ich haben über den Sponti-Spruch gelacht: ‚Kaviar unters Volk: Der Pöbel soll ausrutschen!‘ Etwas weniger herzlos, aber konservativer formuliert: ‚Die Tierschützer wettern wohl deshalb mehr gegen Pelze als gegen Leder, weil reiche Frauen zu beschimpfen sicherer ist, als sich mit Motorradgangs anzulegen‘, vermutet ein ‚Spiegel‘-Leser.

Fotos (2): Martin/Privatarchiv

Ich zahlte, wir gingen. War doch schön. Eigentlich hatte ich ein Essen auf der ‚Excelsior‘-Terrasse geplant, aber ohne Silke … Bei ‚Mabapa‘ schmeckte es auch gut, und weil Samstag war, gab es sogar ein Musikprogramm, das elektronisch verstärkt so nervtötend rüberkam, dass ich die ganze Zeit über Pali vor mir sah, wie er das gesamte Personal zusammenschrie: „Wenn das nicht sofort aufhört, reise ich auf der Stelle ab und komme nie wieder!“ Das 102-jährige Baby hätte das noch beeindruckt, die ‚Best Western‘-Manager eher nicht.

24 Kommentare zu “#6.6 Lido

  1. „Die Tierschützer wettern wohl deshalb mehr gegen Pelze als gegen Leder, weil reiche Frauen zu beschimpfen sicherer ist, als sich mit Motorradgangs anzulegen.“ Hahahaha, so auf den Punkt hab ich das bisher noch nicht gehört. Wunderbar!

    1. Wie Grzimek vor langer Zeit mal sagte: Der einzige, der einen Ozelotpelz wirklich braucht, ist der Ozelot. Menschen zu beleidigen, tätlich anzugreifen, oder fremdes Eigentum zu zerstören ist allerdings ganz genauso verwerflich.

      1. Sich mit fremden Federn zu schmücken, gehört zu vielen Kulturen. Auch der seit Ludwig II von Bayern nicht mehr getragene Hermelin-Mantel war ja keine Mode-Torheit, sondern ein Symbol. Selbst Lady Gagas Rindfleisch-Kleid wurde wohl nicht getragen, weil es so bequem war. Dekadenz kann man ablehnen, Steine essen, weil der Salat leidet, wenn er geschnitten wird, kann man nicht.

  2. Sie machen mir Venedig sehr viel schmackhafter als ich’s von meinem bisher einzige Besuch irgendwann in den 90ern in Erinnerung habe. Vielleicht muss ich doch noch einmal dorthin.

      1. Wenn man Alberto Sordi kennt und ihm glaubt, ist Venedig immer die zweite Enttäuschung jeder Braut auf der Hochzeitsreise 😉

      2. Das kommt allerdings schon immer darauf an, wer gerade kuratiert. Aber die Energie in der Stadt ist wirklich toll, vollkommen richtig 🙂

      3. Wenn die unerfahrene oder berechnende Braut nach der ersten Enttäuschung trotzdem heiratet, hat sie nichts Besseres verdient als einen Gondoliere, der nicht singen kann.

  3. Das Alter macht bestimmt ängstlicher. Aber an Aids hat man sich ja selbst in den 80ern nicht durch bloßes im selben Bett schlafen angesteckt. Aufklären kann man natürlich nie genug.

    1. Aufklärung ist ja immer gut. Gegen die Ängste einer Mutter hilft aber auch das in den meisten Fällen wenig.

    2. Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie 😉 Aber daß man unnötige Ängste auch gut und gerne auslöschen kann, ist natürlich richtig.

      1. Wo mir etwas oder jemand wichtig ist, da entsteht schnell Angst. Gleigültigkeit ist die beste Voraussetzung, um furchtlos zu bleiben.

    1. Hahaha, da ist man dann nicht mal mehr auf die anderen neidisch, sondern gleich auf sich selbst. Auf jeden Fall eine interessante Variante.

  4. Ach was, dass der Bellini ursprünglich aus Venedig stammt wusste ich auch noch nicht. Wieder etwas dazu gelernt, vielen Dank!

  5. Eine möglicherweise für den ein oder anderen provokante Frage: Muss man in einer Kaschemme wirklich mit Dreck zufrieden sein?

  6. Das Wort „Kaschemme“ impliziert bereits den Dreck. Sonst handelt es sich um eine „preisgünstige Gaststätte“, und die darf natürlich auch hervorragend sein.

  7. Wenn man , wie ich 2018 , die Örtlichkeiten kennengelernt hat, bin ich doch froh , dass es ruhiger und unaufgeregter war. Für mich umso genussvoller und eindrucksvoll und unvergesslicher. Lg He

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