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Europa im Kopf  —   6. Kapitel: Veneto

#6.9 Rausgeschmissen

Am Dienstag ging ich frühstücken. Na und? Erstens mag ich nicht, dass etwas zum Dogma wird, und zweitens liebte ich immer schon dieses ganz dünn geschnittene Weißbrot, das der Hungrige elektrisch-mechanisch durch eine glühende Vorrichtung transportieren lässt, die aus der blassen Scheibe einen dunkelblonden Toast macht, den man buttern und mit einer noch viel dünneren Scheibe ganz mageren, aber ziemlich salzig gekochten Schinken belegen kann. Darüber kommt eine kräftige Portion giftgelbes, kaum noch meliertes Rührei, gegen dessen Urheberschaft sich jedes anständige Huhn verwahren würde, und das Ganze schmeckt einfach herrlich.

Foto links: TYSB/Shutterstock | Foto rechts: bigacis/Shutterstock | Foto unten: Andrea Skjold Mink/Shutterstock

Der Himmel hatte sich einen kleinen Tüllvorhang zugelegt, hinter dem die Sonne neugierig auf den Strand lugte: da lag ich mit Lichtschutzfaktor 50 und hoffte trotzdem, ein bisschen braun zu werden. Früher mit Harald, mit Silke und Esther, hatten wir uns gnadenlos der Sonne preisgegeben. Noch vor hundert Jahren war Braun verpönt – nur hinterm Sonnenschirm zeigte sich und man, dass man vornehm war: Man musste nicht (draußen) arbeiten. Dann wurde Braun schick, weil es bewies, dass man, möglichst an der Côte d’Azur, rumliegen konnte: Man musste nicht (drinnen) arbeiten. Jetzt ist Braun wieder weniger gefragt, weil der sonnenverursachte schwarze Hautkrebs neben dem zigarettengeschuldeten Lungenkrebs im Bewusstsein all derer, die gern lange leben möchten, eine besonders abschreckende Aussicht darstellt, die von den Freuden des bräunenden Sonnenbades und dem Genuss des blauen Dunstes nicht kompensiert wird. Alles in Maßen, heißt es. Ich dagegen liebe Askese oder Überfluss, lasse mir beides aber nicht mehr so hemmungslos durchgehen wie früher. Offenbar spare auch ich, schon oder endlich, fürs hohe Alter – Geld im Augenblick zwar gar nicht, aber Austobereien, die Körper und Seele vergiften.

Foto: Konstantin Tronin/Shutterstock

Mit zwanzig war es uns noch egal, ob wir fünfzig werden. Mit fast siebzig schaut man schon etwas betretener auf die nach oben offene Richterskala. Noch ein altjüngferliches Bad im Meer, noch einmal Calamari am Canale; dann zog ich mich auf meinen niedlichen ‚Mabapa‘-Balkon mit Lagunenblick zurück und dachte an mein Filmkonzept, mein Hiersein, mein Dasein und an Silke, alles mit Lichtschutzfaktor 50.

Foto: Joshua Resnick/Shutterstock

Eine beliebte Kinderfrage in der vierten Klasse war: „Was willst du lieber – tot sein oder sieben Löcher im Kopf haben?“ Gewitzte antworteten: „Die sieben Löcher habe ich doch schon.“ Ja, alles, was ich sehe, höre, rieche, schmecke, passiert durch diese sieben Löcher im Kopf. Darum wurde der Kopf mir so wichtig. Nur bei Mückenstichen machte mich die weite Fläche meiner Haut auf sich aufmerksam, und später ließ mich auch mein Unterleib wissen, dass da noch mehr ist, als der Kopf zugibt. Denken ist eine schöne Beschäftigung, aber alles, was wirklich Spaß macht wie Schaukeln, Ficken, Essen ist ohne den Körper nicht möglich, sah ich ein. Ich entkopfte mich. Inzwischen geht diese Zeit zu Ende. Meistens beschäftigt mich mehr, ob mein Darm standhalten oder meckern wird, als welche krausen Gedanken mein Hirn ausbrütet.

Foto links: sunsinger/Shutterstock | Foto rechts: Tuta69/Shutterstock

Der letzte Abend am Meer. Ich hatte eine Taxe an die Anlegestelle von ‚Mabapa‘ bestellt. Im Abendlicht unbehelligt in einem Boot über die Lagune zu gleiten, an der Piazza San Marco zu entsteigen, den Marmorboden zum ‚Florian‘ entlangzuschlendern, dort bei gedämpfter Musik den Tauben und ihren Fütterern zuzusehen, am Negroniglas zu nippen, dann gemächlich den knappen Weg zu Harry’s Bar zurückzulegen, dort einen sehr trockenen Martini zu trinken, in den ersten Stock an einen Tisch am Fenster mit Blick auf Santa Maria della Salute geleitet zu werden und Rafał diese ganze eigenartige Welt zeigen zu können: Das ist Luxus.

Das Essen war grandios: unser Fegato alla Veneziana einmalig, das ‚dolce‘ unbeschreiblich, die Preise unvorstellbar. Der alte Cipriani kam an unseren Tisch, total vertrottelt, aber sehr liebenswert. Ich erinnerte ihn an alte Zeiten, und er mochte das, obwohl sein Gedächtnis sicher poröser ist als die Meringe im Nachtisch. Woran weder er sich noch ich ihn erinnerte, war, dass ich das allererste Mal mit Pali im Juni 1972 in ‚Harry’s Bar‘ gewesen war. Ich trug einen ganz dünnen rehbraunen Anzug, der Leder spielte, aber Baumwolle war, und nichts drunter: Der Stoff war zu eng. Ich schlürfte zu viele Martinis, benahm mich auffällig und wurde vor die Tür gesetzt, Pali gleich mit. Es war das einzige Mal, dass ich irgendwo rausgeflogen bin; natürlich wurde das eine von Palis Lieblingsgeschichten, und auch ich fand eine unfreiwillige Verabschiedung aus ‚Harry’s Bar‘ pompöser als den Rausschmiss aus einem Reeperbahn-Puff oder dem ‚Perla‘.

Foto: H. R./Privatarchiv

Doch von solcher Entsorgung durch das Personal waren wir heute und war ich all die Jahre über, wenn ich mit all meinen Getreuen hier war, weit entfernt. Alles war perfekt. Einzig störend, meine Angst, dass ich nichts runterkriege, schon bevor die Speisekarte auf der Tischdecke liegt, meine Angst, dass ich alles Ungegessene ausscheißen muss, bevor ich einen Klodeckel erreicht habe; und wenn er abräumen kommt, schäme ich mich vor dem Kellner, weil ich nicht aufgegessen habe.

Fotos oben und unten: Wikimedia Commons/gemeinfrei

22 Kommentare zu “#6.9 Rausgeschmissen

      1. Ich erinnere mich leider nicht wo, aber ich habe neulich einen interessanten Artikel gelesen, der zumindest die Verteufelung von Fleisch im Zusammenhang mit dem Klimawandel deutlich widerlegt.

      2. Das Problem ist, dass es eine Unmenge an Artikeln gibt, und alle weisen in unterschiedliche Richtungen. Wirklich schwer zu entscheiden wem man da glauben soll.

      3. Auch wieder wahr. Am besten seinem eigenen Gefühl folgen und los. Sich weiter informieren kann man auch wenn man unterwegs ist.

    1. Leben am Limit ohne Risiko geht halt auch nicht. Aber klar, lieber mit LSF50 in die Sonne als ein Leben lang im Schatten verbringen.

  1. Wenn sich Venedig langsam leert und man abends fast allein durch die Kanäle fährt, das ist wirklich ein unbeschreibliches Gefühl.

    1. Ich hab Venedig immer gemieden, zu voll, zu klischeebeladen… So langsam kriege ich aber tatsächlich Lust. Zu einem Essen in Harry’s Bar inklusive Bellini würde ich dann doch nicht nein sagen.

      1. Schön, die Klischees zu kennen. Dann kann man sich auf einen Vergleich mit der Wirlichkeit einlassen. Oder man lässt es bleiben.

    2. Immer wieder spannend, wie sehr das Verhältnis zu einer Stadt an den eigenen Erinnerungen hängt. In Venedig hatte ich einen meiner schlimmsten, fehlgeschlagensten Urlaube. Das überlagert jede noch so hübsche Ecke.

  2. Ein rehbrauner Anzug und nichts drunter! Da muss ich an die Geschichte von Helmut Berger im weißen Anzug denken… der war ja auch später rehbraun, hahaha!

      1. Monaco, Abendeinladung bei Fürstens.Das viele Kokain hatte seinen Schließmuskel an diesem Abend auf verhängnisvolle Weise gelockert. In seiner Biographie ‚Ich‘ schreibt Helmut Berger: „Bis vier Uhr saß ich auf meiner Scheiße.“

      2. Es gibt ja noch den Original-Helmut. Der nächste darf erst folgen, wenn uns dieser verlässt. Wie beim Dalai Lama 😉

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