Gegen halb sieben ist aus dem Geschubse in den engen Gassen schon ein erwartungsfreudiges Gedränge geworden, und man findet sogar einen freien Tisch in der ersten oder zweiten Reihe des beliebtesten Cafés an der Piazzetta. Da kommen alle vorbei, die zur Anlegestelle der Dampfer wollen, und so ist der kleine Platz mit Bars an drei Seiten und dem Wasser an der vierten eine Plattform, über die all die Eisschlecker und Sonnenbrillenträger hinwegmüssen oder -wollen, die meisten von ihnen ganz offensichtlich keine Darsteller, sondern Bühnenarbeiter.

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Es wäre schon eine große Hilfe für den Anblick, wenn mehr als zwei Farben zu tragen nur mit Sondergenehmigung erlaubt wäre (noch strikter als Wählen oder Kinderkriegen). Manchmal freuen sich die Augen schon, wenn sie auf Rentnerbeige mit schlichtem Grau ausruhen dürfen. Aber Lästern ist an solchen Urlaubsorten Teil des Genusses. Man selbst setzt sich dem ja auch aus, und die unerträglichsten Langweiler sind die, die weder beobachten noch merken, dass sie beobachtet werden, weil sie nichts im Kopf haben als die Lottozahlen oder das Wohl der Menschheit. Da bin ich anders: Natürlich möchte auch ich gern noch etwas Bedeutendes machen: einen Film über Michelangelo oder über Angela Merkel drehen oder eine Dokumentation über jemanden schreiben, der sich, angeekelt vom Zustand der Welt, im Keller auf Nagetiere legt, nichts mehr isst, nichts mehr trinkt und nicht mehr aufsteht: Selbstmord auf Ratten.

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Rafał trinkt Aperol Spritz, stärkere Rauschmittel braucht er nicht. Er ist so ausgeglichen, wie ich nie war. Silke hat heute den Hörer abgenommen, als er anrief. Zum ersten Mal. Rafał wollte, dass sie kommt. Ich schwankte; aus Furcht, dass ich dafür moralische oder sonst wie übelnehmerische Gründe hätte, ließ ich es mir nicht anmerken. Morgen wird Carsten in Sirmione eintreffen; er könne Silke doch mitbringen, meinte Rafał. Ich widersprach nicht, war nur froh, dass ich es nicht war, der Carsten diesen Umweg zumuten wollte. Meine Aufgabe war eine andere: Die erforderlichen acht Tage im Voraus hatte ich Silkes Zimmer noch um Haaresbreite abbestellt, sonst wäre eine Stornogebühr fällig geworden. Nun musste ich zusehen, ob sich das, bis auf eine Nacht, rückgängig machen ließe. Ich war sicher: ja. Aber die Antwort war: ‚Nein!‘ Wer hat denn so viel Geld, sich einen Aufenthalt hier leisten zu können? Ein paar Russen hatten wir schon beim Mittagsimbiss beschlechtachtet: Bademantel und Champagner. Putin im Kopf. Also, sagte die Chefin hinter dem Tresen, morgen Abend ginge es hier, dann zwei Tage da und zum Schluss noch dort. Das fand ich nicht praktikabel. Ich rief Silke an, gleich vom Empfang aus, und sagte: „Tut mir leid, es klappt nicht.“

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Rafał und ich aßen auf der Hotelterrasse am See. Ich hatte vorbestellt. Fast immer nehme ich nur zwei Vorspeisen; damit hoffe ich, meinen Magen zu überlisten. Mein Zimmer war groß, meine Nacht lang. Irgendetwas geschieht immer, zumindest im Kopf.

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„Ach“, sagte ich am Donnerstagmorgen zu Rafał, „vielleicht ergibt sich ja noch etwas mit den Zimmern. Dann soll Carsten Silke eben doch abholen.“

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Wir lagen auf Liegestühlen in der ersten Reihe. Die Berge liegen weit, man kann sich vorstellen, in einer Bucht am Meer zu liegen. Sirmione liegt im Flachland, wieder mal am letzten Hügel; es liegt in der Lombardei, gehört also zu Mailand, Provinz Brescia. Die Berge, die man jenseits des Liegestuhles und des Seeausläufers sieht, gehören zum Veneto, also Verona, und der obere Teil des Sees gehört zum Trentino, also zu derselben Provinz wie Bozen und Meran, auch wenn das ‚Alto Adige‘, nördlich von Trient, halb ernsthaft, halb kokett, auf seine Eigenständigkeit pocht. Wie friedlich kann Geografie sein! Und wie lebensfeindlich! Immer mehr Flüchtlinge kommen über das Mittelmeer und inzwischen auch über Land. Ich lese darüber und auch darüber, dass ein Läufer trainiert, den Marathon erstmals in weniger als zwei Stunden zu laufen, also in einer Stunde, neunundfünfzig Minuten und neunundneunzig hundertstel Sekunden höchstens. Oder mindestens? Die Zeit zu besiegen war immer und ist mehr denn je ein Maßstab. Jeder weiß, dass die Zeit unbesiegbar ist, aber fast jeder will ihr vorher etwas abtrotzen und den Ruhm dafür abkassieren: ‚Oh, Sie haben nur eine Stunde bis nach Pinneberg gebraucht?‘ ‚Oh, Sie sind schon über sechzig?‘ Silke ist da noch gut im Geschäft; ich habe mich ausgeklinkt, ohne zu wissen, ist das jetzt Einsicht oder Resignation? Oder kämpfe ich doch immer noch? Ja, mit meinem Optimismus unter der Gesichtsmaske.

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Und dann ging ich ins Wasser. Es roch nach harten Eiern, um die kulinarisch akzeptabelste Ausdrucksweise zu wählen. Der heißen, schwefelhaltigen Quelle im See haben die Erbauer unseres Hotels eine Filiale abgerungen, in der ich nach Rafałs Anleitungen einige Minuten lang unbeholfene Bewegungen vollführte und mich dann von hinten bespritzen ließ: Aus ungeahnten Öffnungen blubberten 35° warme Fontänen, so dass einem die Luft gar nicht mehr so glühend heiß vorkam.

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Ich kenne so etwas von Saturnia, mitten in der Toskana. Da war ich mehrmals, klar, mit meinen Eltern, und es stank wesentlich beeindruckender; aber dazu ist Leben ja da: um einen abzuhärten. In Sirmione riecht es eben schwefelig; so ist das nun mal. In Saturnia überraschte es mich, dass nicht nur Erholungsbedürftige das aushielten, sondern auch Nachtigallen; denn so war es. Vom frühen Abend an sangen sie, und Irene, die bei unserem letzten Aufenthalt dort schon ziemlich schwerhörig war, sagte ergriffen: „Ja, ich höre sie. Ich höre nochmal die Nachtigallen.“ So ab elf, das muss ich zugeben, waren dann die Frösche lauter. Wohl dem, der immer auf der richtigen Frequenz schwerhörig ist.

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Carsten war inzwischen unterwegs. Silke beugte sich den Beschlüssen leicht verzagt, und mit welcher Begeisterung Carsten den Schlenker zu ihr und ihren dem Niveau des Hotels angepassten Koffern auf sich nahm, hatte Rafał zu vertreten. Zunächst aber kam Giuseppe. Er hatte eine Tante am See besucht, mit der er zwischendurch auf Sardinien gewesen war. Wenn ich eine ältere Dame wäre, würde ich mich vor Giuseppe fürchten. Doch erst mal wollte er sich von uns verabschieden, bevor er wieder für drei Monate in Brasilien sein Wesen treiben und uns anschließend zum Weihnachtsfest in Hamburg besuchen würde.

Foto oben links: elwynn/Shutterstock | Foto oben rechts: H. R./Privatarchiv | Foto: stockyimages/Shutterstock

19 Kommentare zu “#7.2 Im Blickfeld

  1. Eine Sondergenehmigung für Mehrfarbigkeit, hahahah! Irgendwie wahr, aber wenn ich durch die Stadt laufe wünschte ich mir manchmal es gäbe Prämien für’s Farben kombinieren. So grau und beige und langweilig wie die Deutschen gerne sind…

      1. Ahhhhh je nach Laune würde ich sagen. Beides kann auch ganz gut zur Weissglut führen.

  2. Mit der Zeit ist das so eine Sache: Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei. Und sicherlich immer und immer eiliger. Das hätte selbst Orwell nicht erwartet.

      1. Ist es wirklich nur das Geld? Geht es nicht trotzdem oft noch um besser, schneller, weiter, mehr…?

      2. Nicht nur, aber auch. Sich selbst als einmalig darzustellen war früher Päpsten und Landesherren vorbehalten, heute wollen fast alle für irgendwas bewundert werden.

      3. Wir leben halt in der Zeit der Selbstdarstellung. Wer schönt ist benutzt Instagram, wer schlau ist Twitter, wer mitteilen will was er gerade ist Facebook.

    1. Für solche Hetzjagten ist die Furcht, etwas zu versäumen, ausschlaggebend. Die Digitalisierung macht ein unerschöpfliches Angebot, die Auswahl fällt vielen schwer.

  3. ‚Putin im Kopf‘ wäre ein wunderbarer Titel für die kommende Trump-Biografie. Collusion hin oder her. Das Thema wird keines seiner politischen Vorhaben jemals überlagern können.

    1. Das nennt man wohl kompromittiert wie im Textbuch. Stimmt schon, ob es letztendlich zu einem Verfahren kommt oder nicht, allein durch die jahrelangen Ermittlungen ist Trump so in seinem außenpolitischen Handeln eingeschränkt wie lange kein Präsident.

  4. Wäre ein Film über Merkel denn zwingend bedeutend? Ist ihre Kanzlerschaft überhaupt bedeutend? Ich finde wenn man ihre Amtszeit in Betracht zieht, hat sie Deutschland erstaunlich wenig geprägt.

    1. Wie auch immer man zu Merkels Politik des Abwartens steht, wer es schafft über 4 Legislaturperioden im Amt zu bleiben, der prägt das Land auch. Ob im Guten oder Schlechten kann jeder für sich selbst entscheiden.

    2. Ich bin wirklich kein großer CDU-Freund, aber Angela Merkel ist wahrscheinlich eine bessere Kanzlerin gewesen, als alle immer behaupten mögen.

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