Teilen:

1912
Europa im Kopf  —   7. Kapitel: Lombardei

#7.3 Unten Löwe, oben Raubvogel

Wir gingen in mein Lieblingslokal ‚Il Grifone‘ – zu Deutsch: der Greif –, ein Geschöpf, das – wie Sirmione – im zweiten Jahrtausend vor Christus erstmals erwähnt wird, und zwar in Syrien, dem Land, das ja im Augenblick wieder die Welt und seine Einwohner verstört. Der Greif, das possierliche Tierchen, hat einen Löwenleib und einen Raubvogelkopf, ist also in der Mythologie wesentlich besser aufgehoben als in der Realität.

Fotos oben (2): R. S./Privatarchiv | Foto unten: Friedrich Johann Justin Bertuch, via Wikimedia Commons. PD-Art

Wir saßen direkt am See unter Olivenbäumen, die Kellner waren aufmerksam und distanziert, und ich hatte wie so oft Gelegenheit, all die Male wiederzukäuen, die ich hier mit all meinen Lieben die Jahre hindurch gewesen war. Darüber hinaus zwang ich mich auch, etwas von der Speisekarte zu nehmen, obwohl mich eigentlich überwiegend der aufgetakelte Karren mit den Nachspeisen reizte. Da nehme ich dann immer gleich vier (kleine Portionen natürlich). Wo sonst kann man sich noch so auf frische Walderdbeeren und amarettotriefende Torten verlassen? Giuseppe war gut gelaunt und voll des Lobes für Sardinien, Rafał war etwas unruhig. Carsten hatte sich vom Navi eine Abkürzung aufschwatzen lassen, fast wie Martin, und beim Ausweichen am Hang hatte er Rücklichter und Kotflügel hinten rechts beschädigt. Es hatte wohl eine kleine Auseinandersetzung gegeben, wie bei Schicksalsschlägen üblich: „Hättest du Tante Gwendoline diese Reise mit der Titanic geschenkt, gehörte uns jetzt Wilford Castle!“ „Bullshit, die wär doch als Erste gerettet worden …“ Oder im vorliegenden Fall: Hätte Silke nicht abgeholt werden müssen, wäre das Auto heil geblieben. Aber ohne die umwegige Abkürzung auch.

Foto oben links: Alex Perez/unsplash | Foto oben rechts: czarny_bez/Fotolia | Foto unten: Everett Historical/Shutterstock

Vom ‚Grifone‘ ist es nur ein kurzer Weg am Kanal entlang, durch das Tor des Castello Scaligero, zum Portal des ‚Grand Hotel Terme‘. Da standen auch schon Carsten, Silke und Sally in der Halle, und alle drei verliehen auf ihre ganz persönliche Weise der Freude Ausdruck, uns zu sehen. Die Ankömmlinge bekamen auf der Seeterrasse etwas zu essen, wir drei bereits Mahlzeitversorgten etwas zu trinken, und dann brach Giuseppe auf in die Provinz, Rafał mit Carsten ins Leben, Silke in die Rekonvaleszenz und ich in die Nachtruhe.

Am Freitag belegten wir nun nicht zwei, sondern vier Liegestühle. Die Engländerin beschwerte sich um aller Gunst; sie war schon ein sehr durchgebratenes Filetstück. Aber noch mehr Gefallen fanden Silke und Rafał an zwei uralten Damen in weißblondem gelbstichlosen Afrolook. Ich erinnere mich, dass meine Eltern und ich mal einen Eurovisionswettbewerb im Fernsehen sahen. Die lange Bühnentreppe schritt ein Sänger erwartungsvoll im Abendanzug herab. Auf der Treppenmitte stolperte er und purzelte den Rest der Stufen runter. Wir fielen aus unseren Sesseln vor Lachen. Als wir uns wieder beruhigt hatten, merkten wir, dass der Sänger Komiker war und das Ganze eine Showeinlage. Statt erleichtert zu sein, waren wir enttäuscht. Wenn wir das gleich gewusst hätten, hätten wir nicht gelacht. Ein bisschen so erging es Silke und Rafał, als sie am nächsten Tag feststellen mussten, dass die skurrilen Afrofrisuren Badekappen waren. Aber: gelacht ist gelacht – auf der Hochzeit oder auf der Beerdigung, und aus der Welt schaffen kann man ein Lachen nicht mehr, was besonders Kundry im ‚Parsifal‘ schlecht bekommen war. (Wagner-Unkundige können das bei Bedarf ergoogeln.)

Silke fühlte sich noch matt; Rafał und Carsten stiegen die glitschige Leiter hinab in den See, ich in den Schwefel, und Sally lag da und wollte fressen. Ich mag Sally, aber ein Tier könnte mir nie einen Menschen ersetzen. Was mich an Tieren stört, ist, dass sie keinen Humor haben, und ich höre schon die Tierpsychologen, die sagen: ‚Doch!‘, und mir irgendeinen Blödsinn erzählen. Nein, kein Humor, und außerdem will Sally nicht meine Seele, sondern meine Leberwurststulle, auch wenn ich ihr Anhänglichkeit nicht absprechen will. Mir ist klar, nicht nur Tiere haben keinen Humor, es gibt auch eine gehörige Anzahl humorloser Menschen. Ein Mensch ohne Humor ist wie ein Bad ohne Bidet: Man kommt zurecht damit, aber anders ist es besser. In jedem November wird Sally läufig, dann will sie neben Wurst auch Sex, das dauert aber nicht lange. Die Menschen wollen ständig beides, und das steht allzu oft im Widerspruch. Darüber ärgere ich mich bei Flüchtlingen, die aus armen Gegenden kommen, Kinder in die Welt setzen, die sie nicht ernähren können. Nach dem Motto: ‚Ich ficke, und du musst dich um das kümmern, was dabei rauskommt‘. Verantwortungslos. Ich weiß: Die im Laufe der Geschichte durchgeführten Geschlechtsakte dienten überwiegend nicht dazu, weiteren Personen das Leben zu ermöglichen, sondern dazu, Arbeitskräfte fürs Feld oder Thronfolger für Herrscher zu erzeugen. Heute zählen diese Argumente nicht mehr, und wenn der Papst keine Empfängnisverhütung mag, dann soll der Vatikan all die Kinder satt machen, die er nicht verhindert hat. So, das war jetzt genug Schwefel. Raus und unter den Sonnenschirm!

Foto oben: Nejron Photo/Shutterstock | Foto unten: ekntrtmz/unsplash

Mittag unter gespannten Netzen und entspannten Russen. Draußen liegen, draußen lesen, draußen lachen: auf der Piazzetta. Nochmal essen. Reden. Schweigen. No news are good news. Wie schön sind Tage, über die es nichts zu sagen gibt!

Foto: R. S./Privatarchiv

Der Sonnabend verlief auch nicht anders. Ich trat auf meinen Balkon, sah auf den See und ließ den Tag beginnen. Silke hatte sich erholt. Nach einer Woche im Zimmer hatte sie viel an Bräune eingebüßt und verzichtete auf den Sonnenschirm. „Ich bleibe besonnen und lasse mich nicht besonnen“, dachte ich im Schatten. Auf dem Liegestuhl fallen mir nur Sätze ein, die ich nicht verwerten kann. Trotzdem blieb ich liegen; die Boutiquenbummel der anderen drei traute ich mir nicht zu und war beschäftigt damit, sie nicht zu vermissen. In einem der Geschäfte erfuhr Silke die Namen der beiden besten Restaurants von Sirmione: eins einfach, eins elegant.

Zuerst mal war das elegante dran: ‚La Speranzina‘. Nach dem obligatorischen Aperitif auf der Piazzetta saßen wir in der ‚Kleinen Hoffnung‘ nicht im Garten, sondern drinnen; das war dann noch eleganter. Alles war sehr weiß und edel. Das Essen war hervorragend. Manchmal werde ich wütend über meine Appetitlosigkeit, weil keine Übersättigung Anlass hatte, sie hervorzurufen.

Ich begleiche mit meiner Kreditkarte die Rechnungen der Schlemmerstätten, meistens habe ich vergessen, auf die Summe zu gucken, vielleicht war ich auch zu betrunken. Silke wusste das und guckte geradezu neugierig hin; so wusste sie auch, wie viel Trinkgeld angemessen war, und sie konnte mich beraten oder sogar auslösen.

Der Sonntag war genauso wie der Samstag, vom Ablauf her. Da wir nicht in die Messe gingen, merkten wir sowieso keinen Unterschied. Für uns ist doch jeder Alltag ein Sonntag mit offenen Läden; denn für uns ist noch nicht aller Tage Abend mit geschlossenen Lidern; für keinen von uns Überlebenden; aber ich bin hier der Älteste.

Foto oben links: Derek Story/unsplash | Foto oben rechts: Jim/Fotolia | Foto unnten: Lucas Cranach, Der Jungbrunnen, Gemäldegalerie Berlin/Wikimedia Commons

25 Kommentare zu “#7.3 Unten Löwe, oben Raubvogel

  1. Wie spannend und wie wahr, über Berufs-Komiker lacht man tatsächlich weniger herzhaft als über das echte Leben.

  2. Menschen ohne Humor sind noch um Längen deprimierender als ein dreckiger Hintern. Dann lieber bidetlos durch’s Leben.

    1. Manchmal kann man es sich nicht unbedingt aussuchen. Aber in den Fällen wo es möglich ist, würde ich auch den ungewaschenen Popo vorziehen.

  3. ‚Ich ficke, und du musst dich um das kümmern, was dabei rauskommt‘ ist sicherlich eine problematische Lebensweise, aber ebenso sicherlich kein spezifisches Problem von Flüchtlingen.
    #Faktcheck

  4. Jeder Tag ein Sonntag, schöner kann man sein Leben nicht leben. Und ich zähle langsam meine verbleibenden Arbeitsjahre…

    1. Wikipedia hat erstaunlich viel zum Thema zu bieten:
      Bloody Sunday (1887), a combined police and military attack on a demonstration in London, England, against British repression in Ireland
      Bloody Sunday (1900), a day of high casualties in the Second Boer War, South Africa
      Bloody Sunday (1905), a massacre in Saint Petersburg that led to the 1905 Russian Revolution
      Marburg’s Bloody Sunday (1919), a massacre of civilians of German ethnic origin in Maribor during the protest at the central city square
      Bloody Sunday (1920), a day in which British soldiers shot civilians during a GAA match in Dublin, Ireland, during the Irish War of Independence
      Bloody Sunday (1921), a day of violence in Belfast, Northern Ireland, during the Irish War of Independence
      Bloody Sunday (1923), a day of police violence in Sydney, Cape Breton Island, Nova Scotia, during a steelworkers‘ strike for union recognition
      Bloody Sunday (1926), a day of violence in Alsace
      Altona Bloody Sunday, a 1932 confrontation among the Sturmabteilung and Schutzstaffel, the police, and Communist Party supporters in Altona, Hamburg
      Bloody Sunday (1938), police violence against unemployment protesters in Vancouver, British Columbia, Canada
      Bloody Sunday (1939) or Bromberg Bloody Sunday, events in Bydgoszcz, Poland, at the onset of World War II
      Bloody Sunday on Volhynia (1943), a massacre of Polish population by OUN-UPA nationalists
      Bloody Sunday (1965), the violent suppression of a March 7, 1965, civil rights march in Selma, Alabama, by state and local law enforcement
      Bloody Sunday (1969), violence after a protest in Taksim Square, Istanbul, Turkey
      Bloody Sunday (1972), shooting of civilian protesters by the British Army in Derry, Northern Ireland

      1. Ach du lieber Gott, nach dem Kommentar nehme ich meinen eigenen am besten zurück 😯

  5. „Der Greif“ kommt mir so wahnsinnig bekannt vor. Allerdings definitiv nicht aus Sirmione. Oder meine Erinnerung spielt mir Streiche…

    1. Vielen Dank für den Tip, mir ist es wieder eingefallen. Das Bozener Hotel war es auch nicht, vielmehr die Organisation (und natürlich das angeschlossene Magazin) für zeitgenössische Fotografie! -> siehe dergreif-online.de

  6. Weiß kann manchmal sehr vornehm und noch viel öfter wahnsinnig kitschig sein. Gut gewollt ist halt trotzdem oft schlecht gekonnt.

    1. Weiß erinnert mich immer an die Côte d’Azur, schleimige Touristen und viel zu viel Rosé. Aber das ist natürlich nur meine rein subjektive Sicht.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

12 − elf =