Teilen:

0601
Europa im Kopf  —   8. Kapitel: Trentino/Alto Adige

#8.2 Im übergeordneten Sinne

Für diesen Aufenthalt hatten wir uns vorgenommen, wieder mehr spazieren zu gehen. Im Sommer hatten wir überwiegend träge im Garten gelegen, ich hatte gelesen und geschrieben, statt die Beine zu bewegen und mein Herz von den Schönheiten der Natur bewegen zu lassen.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Irene las neulich, dass die meisten Familien keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr einnehmen – jeder geht irgendwann an den Kühlschrank und holt sich was raus.

Foto links: H. R./Privatarchiv | Foto rechts: RossHelen/shutterstock

Bei uns bildet(e) das Familien-Mittagessen am Sonntag den Höhepunkt der Woche, und bis tief in die Siebzigerjahre hinein wurde es sich genüsslich verdient: durch den allsonntäglichen Familienspaziergang. In Berlin meist durch den Spandauer Forst, angesetzt waren meist wie im Kino 90 Minuten, aber wenn Guntram die Orientierung verlor (Irene und ich hatten sowieso keine), konnten es auch schon mal zwei Stunden werden, dann durfte ich zu Guntrams Buße zeitweilig auf seine Schultern.

Foto: Obvious/shutterstock

Es war dramaturgisch schön, dass der Spandauer Forst fast nur aus Kiefern besteht, denn so konnte ich es später auf den Hamburger Ausflügen in den Klövensteen oder nach Hanstedt zu schätzen lernen, dass es auch Laubwälder gibt, die ich viel lieber mochte.

Foto: Nonna Smelova/shutterstock

Entgegen meinen Hoffnungen fing Guntram irgendwo zwischen verwurzelten Pfaden und bemoosten Erdlöchern an, sich jedes Mal seiner Militärzeit zu erinnern, was nach drei bis vier biografischen Sätzen dazu führte, dass er ein Soldatenlied anstimmte. Irene und ich trotteten wie Feldwebel neben ihm her, und ich wünschte mir, dass auf ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘ nicht noch ‚Ein Batzen und ein Heller‘ folgen würde. Etwas sträubte sich in mir. Damals.

Foto: H. R./Privatarchiv

Heute hätte ich es gern, wenn Guntram auf halber Höhe über der Etsch im Marschrhythmus loslegte: ‚Edeltraud, ach Edeltraud, du hundsgemeine Sau, fallera!‘, aber vermutlich hätte mir das auch damals schon gefallen.

Foto oben: Kate Mackinnon/shutterstock | Foto unten: staras/shuttertsock

Doch ans Ende dieser Peinlichkeit hatte Gott den Rinderbraten gesetzt. Der schmorte, seit wir das Haus verlassen hatten, geduldig auf dem Herd, nur wenn wir uns allzu sehr verlaufen hatten, wurde die Soße schon mal knapp. Am ersten und dritten Sonntag des Monats konnte das Dienstmädchen dann Wasser nachgießen. Am zweiten und vierten Sonntag ging das nicht, weil sie Ausgang hatte. Das war schade. Denn wenn sie, was unter der Woche nie vorkam, sonntags mit am Tisch essen durfte, war das fast wie Besuch.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

In jedem Fall war der Nachtisch festlicher als unter der Woche, ‚Hershey’s Syrup‘ mit Schlagsahne gab es zwar nur selten, denn das war – zu Halbgefrorenem verfestigt – der Heiligabendnachtisch, anschließend an den Karpfen, beides durfte nur ein einziges Mal pro Jahr auf den Tisch – aber Grießflammerie mit entsteinten Kirschen und Oetkers Schokoladenpudding mit seiner Vanillesoße waren auch den Apfel- und Birnenkompotts von Montag bis Samstag vorzuziehen.

Foto links: Joadl/wikipedia | Foto rechts: Viktor 1/shutterstock

Zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten wurde für die Erwachsenen Wein gereicht, mal Mosel, mal Rhein. Auf den Etiketten waren Wappen zu sehen, und irgendwie schien das Ganze, auch so wie es verabfolgt wurde, eher ins Museum als in den Magen zu gehören.

Was ich trank, weiß ich nicht so recht, mir schwant, mit Wasser verdünnter Himbeersirup. Milch war mir zu schwer, Tee war für mich zu stark, von Apfel- und Traubensaft bekam ich Durchfall, Brause und Mineralwasser hatten wir nicht im Haus – es wird schon Himbeerwasser gewesen sein.

Foto: H. R./Privatarchiv

Als Beilage zum Rinderbraten fällt mir spontan Rosenkohl ein, aber den gab es sicher nur von Oktober bis März. Und dann? – Rätsel der Geschichte.

Foto: Brent Hofacker/shutterstock

Je nach meiner Befindlichkeit schluckte ich die Rinderbratenbissen runter oder ließ sie in der Backentasche zu Mehl werden. Im zweiten Fall schob ich gegen Ende der Mahlzeit den Fleischklumpen mit der Zunge in meine Mundmitte und begann heulend Erstickung anzudrohen oder, falls ich besser gelaunt war, spülte ich den Kloß statt ins Klo mit Himbeersaft meine Kehle herunter.

Foto links: FocusGallery/shutterstock | Foto rechts: KK Tan/shutterstock

Was Spaß machte, war, die Kartoffeln in der Soße zu zerdrücken, und natürlich wäre das noch schöner gewesen, wenn mich meine Eltern rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht hätten, wie unfein das ist. Da aber auch Guntram den soßendurchtränkten Kartoffelmatsch liebte, wurde mir diese Benimmregel verschwiegen. Souverän zeigte er sich bloß, wenn er den Kristallteller an die Lippen setzte und den Kompottsud wegschlürfte. „Das darfst du nie machen!“, sagte er, „ich zeige dir nur, wie es nicht sein darf.“

Das war aber unschwer als Spaß zu entlarven und von vornherein nicht heuchlerisch gemeint. Irene kippte den Teller und nippte aus dem Löffelchen. Sie setzte das Gefäß erst zwanzig Jahre später an die Lippen, als ich dem gekochten Obst reichlich Rum zugefügt hatte. Selbstverständlich wurde nie geschwiegen beim Essen. Ich glaube, es ging überwiegend um Guntrams Berufserlebnisse. Er kam ja auch werktags mittags nach Hause, so dass die Kohleversorgung Berlins bei uns als Daily Soap auf den Tisch kam. Wie sonst wären mir noch heute abrufbare Namen wie Fräulein Schönjahn (Sekretärin), Herr Biella, Herr Milde, Herr Krohn (Mitarbeiter), Herr Mägdefrau, Herr Botta und Herr Schmittlins (Partner) geläufig?

Foto rechts/stehend v. l. n. r.: Herr Milde, Herr Biella, Herr Irgendwer, Herr Weißnicht; sitzend: Herr Schönhorst | Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Die Speisen wurden nicht diskutiert, und der Rest der Welt meines Wissens auch nicht, besonders nicht Irenes Herkunft; aber sonntags stand ja nicht wie sonst der Ablauf des Vormittags zur Debatte, sondern man konnte sich der Energie-Versorgung Berlins im übergeordneten Sinne zuwenden.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Zu Rolands Zeiten wurden am Sonntag schon seit Längerem keine Spaziergänge mehr gemacht, sondern Ausflüge. Der Unterschied lag in der Nahrungsaufnahme.

Fotos (4): H. R./Privatarchiv

Die Spaziergänge waren mit dem Rinderschmorbraten beendet, Ausflüge gipfelten in der Einkehr bei einem Gastwirt. Das Auto war dabei meist so geparkt, dass es nach der Mahlzeit schnell zu erreichen war.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Seit damals muss Guntram seinen vormittäglichen Rundgang Jenischpark – Elbufer allein machen, aber wenn außerhalb eine Haxe winkt, schließt sich die Familie an.

Fotos (6): H. R./Privatarchiv

Früher setzte sich anschließend immer der Nüchternste ans Steuer, um aus der Heide oder den Harburger Bergen zurückzufahren, also meist Roland, manchmal Guntram; jetzt fahre immer ich.

Fotos (4): H. R./Privatarchiv

Von der ‚Birra Forst‘ aus, am ersten Tag in Meran, war das nicht nötig: Die Gastwirtschaft liegt, wie das ganze Ortszentrum, nur fünf Fußminuten von unserer Zweitheimat entfernt. Ich zahle immer die erste und die letzte Rechnung. Im Nachhinein in Hamburg wirkt das dann, finde ich, immer so, als hätte ich meine Eltern die ganze Zeit über (von ihrem Geld) eingeladen.

Fotos (4): H. R./Privatarchiv

23 Kommentare zu “#8.2 Im übergeordneten Sinne

  1. Wo in der selben Familie Veganer, glutenfreie Esser, Fleischliebhaber und Keto-Extremisten aufeinander treffen, ist zusammen essen eh fast unmöglich.

    1. Ach Quatsch, man kann auch ganz normal zusammen kochen, solange man nicht militant is(st). Wer natürlich andere belehren und bekehren will, hat’s in der Regel schwer.

      1. Missionare haben’s nie leicht. Und Essen ist für viele sicherlich ebenso wichtig wie Religion. Wer 50 Jahre Fleisch gegessen hat, wird nicht von heute auf morgen zum Veganer. Davon abgesehen möchte ich immer noch eine schlüssige und eindeutige Studie sehen, die mir sagt, dass vegane Ernährung gesund und der Umwelt zuträglich ist. Ich warte.

  2. Bei meinen Eltern gab es jahrelang labbrigen Apfelstrudel mit Vanillesauce. Fällt mir bis heute (auch in leckerer Variante) schwer.

    1. Hershey’s Syrup war in meiner Kindheit so exotisch wie Xiao Long Bao oder Chiles en nogada. Vielfältigkeit auf dem Essenstisch ist wohl einer der großartigsten Vorteile der Globalisierung.

    2. Bei uns gab es traditionell einen wunderbaren Schokoladenkuchen. Wenn meine Mutter eines konnte, war es backen!

  3. Im Wald die Orientierung zu verlieren wäre für mich ein Albtraum. Dafür habe ich zu viele gruselige Psychothriller und Horrorfilme gesehen. Wo wir schon von 90 Minuten sprechen…

  4. Sein Gehirn zu bewegen ist doch ebenso wichtig, wie seine Beine zu trainieren. Alles zu seiner Zeit, nicht wahr?!

  5. Gerade beim Essen macht es doch besonders Spaß Regeln zu brechen. Kartoffelstampf in der Bratensoße, ein großes JA!

    1. Gibt es eigentlich mittlerweile ein Knigge für’s Netz? Das wäre doch mal eine hilfreiche Erweiterung. Genau wie ein Kurs in der Schule: Nutzen, Gefahren und Verhalten im Internet.

  6. Sonntagsspaziergänge mit Soldatenliedern klingt schon speziell. Da bin ich ganz froh, dass es bei uns so langweilig zuging wie es nunmal zuging.

  7. Dass Ihr Vater viele Berliner vor dem Kältetod bewahrt hat, wird sicher eine bewundernde Erinnerung sein. Meine Mutter erzählte mir, wie schlimm die Zeit war.

    1. Die Briten fragten meinen Vater, ob er die Kohle-Versorgung West-Berlins aus der Luft übernehmen könne. „Ja, das schaffen wir!“, antwortete mein Vater. „Es gibt nur eine kleine Schwiergkeit“, sagte der Offizier: „Die ersten Maschinen landen bereits heute Nachmittag … „

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

20 − 7 =