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Europa im Kopf  —   8. Kapitel: Trentino/Alto Adige

#8.7 Die Verantwortung der Kassiererin

‚Unterwegs‘ zu sein bedeutete, als wir Anfang August in der Freien und Hansestadt Hamburg auf Reisen gingen, etwas ganz anderes als jetzt, da wir in der österreichisch-italienischen Welt Merans eingetroffen sind. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich verschwenderisch gewesen, doch leider hatte ich das nicht mal angemessen genießen können. Wieso nicht? Sollte da womöglich etwas Freudlos-Protestantisches in mir schlummern? Mein Stammbaum sagte: „Nein“. Ich sagte: „Mein Preußentum ist schuld.“ Shopping-Queen werde ich wohl nie. Sowieso lebe ich ja umsorgt wie ein alter Lebemann im First-Class-Hotel. Darüber hinaus kann Rafał mich alten Sterbemann massieren, beruhigen und besohnen. Er nennt mich ‚Hanni‘, wenn er mich zum Essen ruft, und ich buchstabiere es natürlich wie ‚Honey‘. Leben tue ich in Hamburg wie in Meran in wenig Eigenem, sondern überwiegend in den Anschaffungen meiner Mutter. Das kann man ‚traditionsbewusst‘ nennen oder ‚faul‘. Äußerlichkeiten sind wichtig: Sie bilden das Innere ab oder verschweigen es. Was bleibt, ist immer die Idee im Kopf – von Berlin, von Prag, von Europa, von Nächstenliebe, von Sex, von Untergang – und diese Idee geht unter mit dem, der sie gedacht hat. Manchmal auch nicht. Und dann verändert sie die Welt, diese Idee, die zum richtigen Zeitpunkt gedacht wurde. Wenn Jesus, Kant und Marx das noch erlebt hätten! Nur leider sind sie tot und bleiben es auch.

An unserem Mittagstisch bleibt das meistdiskutierte Problem, wie man die eingenähten, oft kratzenden Wäschezeichen aus neuen Stricksachen entfernt, ohne die Ware zu verunglimpfen. Rafał hat sich schon mal bei zu beherztem Scherenschnitt ein Hemd an der Naht beschädigt. Silke ist der Meinung, dass bei teureren Kleidungsstücken die Kassiererin dafür verantwortlich sein müsste, die eingenähte Inhaltsangabe sachgerecht zu entfernen. Ich bin wenig vertraut mit dem Thema, gebe aber Silke recht. Die Herkunft eines Produktes zu erfahren, kann genauso enttäuschend sein, wie seine eigene Zukunft zu kennen. Oft wäre das bloß deprimierend. Gut, dass wir wenig darüber wissen. Traurig, dass wir vielem darüber glauben. Schön, dass wir, solange wir leben, darüber nachdenken können, welcher Modeladen welche Marken führt. Aber dann tragen die anderen das Geschirr in die Küche, und ich sitze da wie die olle Omma, der man eine Mischung aus Respekt und Geringschätzung zukommen lässt, bevor man den Nachtisch hinstellt.

Foto links: Tarzhanova/Shutterstock und ankreative/Shutterstock | Foto rechts: Moving Moment/Shutterstock

Inzwischen bin ich ja ein gut sortierter Secondhandshop. Aus zweiter Hand erfahre ich, was so abgeht: Torsten aus Osnabrück, zum Beispiel, wollte im Dreier durchgefickt werden. Haben Rafał und Carsten aber nicht gemacht, behaupten sie. Sally hätte sich nicht so angestellt, jedenfalls nicht im November, wenn sie läufig ist. Hat mich je etwas anderes interessiert? Nein, ich habe immer nur Sex gewollt. Das zu behaupten, macht mir Spaß, aber es trifft weder auf meine Kindheit noch auf mein Alter zu.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Genau genommen war das mit dem Sex nur zwischen 1972 und allerallerhöchstens 1992, aber so genau darf ich es redlicherweise nicht nehmen, wenn es nicht ums Praktikum, sondern um die Theorie geht. Meine ersten Erektionen hatte ich auf dem Schulweg zwischen Hasensprung und Koenigsallee. Weil sie für mich so erstaunlich waren wie die erste Menstruation für ein unaufgeklärtes Mädchen, habe ich das nicht vergessen. Es hat mich damals verwundert, aber nicht verschreckt. Wenn heute an meinem Leib etwas in Sekundenschnelle anschwillt, würde ich Rafał mit erstickter Stimme bitten, den Krankenwagen zu rufen. Erotische Gedanken waren am Hasensprung nicht im Spiel, so, wie ich heute erotische Gedanken hegen kann, ohne dass mir eine Erektion widerfährt.

Foto links oben: MZStock/Shutterstock | Foto rechts oben: Oleh Phenix/Shutterstock | Foto unten: H. R./Privatarchiv

Hartwig Hensel hatte den größten Schwanz der Klasse; das behauptete er zumindest und zeigte ihn als Aufmunterung vor dem Schwimmunterricht und als Gute-Nacht-Kuss im Schullandheim sehr gern herum. Da ich keine Vergleichsmöglichkeiten zu haben glaubte und an mir nie runtersah, nahm ich das als gegeben hin, aber nie in die Hand. Damals bemerkte ich zwischen einem Mannsglied und einem Regenwurm an Ekligkeit keinen Unterschied, wobei ich – der Wette mit Detlev wegen – einen Regenwurm schon mal in den Mund genommen hatte.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv | Foto unten: Krisana/Fotolia

Nachdem Hartwig Hensel an der Eiche sein Leben gelassen hatte, sah ich das schon etwas pragmatischer. Zwar hatte ich noch Pali 1972 auf Capri mit meiner hingeworfenen Floskel „Das Stückchen Darm, das da unten raushängt, ist doch nicht das ganze Gedöns wert“ verschreckt, und erst, nachdem er sich fachkundig hatte unterrichten lassen, dass meine Einlassung anatomischer Unfug war, konnte er wieder befriedigend kopulieren. Trotzdem hatten meine sexuellen Präferenzen doch eine gewisse Gestalt angenommen, gegen die Widerstand zu leisten aussichtslos war.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv | Foto unten: Magic mine/Shutterstock

In meinem Partykeller war es zuvor fast so keusch zugegangen, wie zu der Zeit, als er noch mein Eisenbahnkeller gewesen war. Wurde es dann allzu leise, weil wir Mozart hörten oder Harald sich an Evelyn zu schaffen machte, sagte Irene beim morgendlichen Honigbrötchen: „Du weißt, dass wir wegen Kuppelei belangt werden können.“ Ich konnte mir meine Mutter in Handschellen abgeführt, weil sie gegen Haralds Eigenmächtigkeit nicht eingeschritten war, schlecht vorstellen, aber dann fiel zu Irenes Glück 1969 der Paragraf, ich allerdings 1972 Pali in die Hände.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv | Foto unten links: Africa Studio/Shutterstock

27 Kommentare zu “#8.7 Die Verantwortung der Kassiererin

  1. Haha, die Vorstellung dass ihre Frau Mutter wegen Kuppelei aus dem Partykeller gezerrt wird würde zwar gut zu den anderen Geschichten des Blogs passen, aber soweit würde wahrscheinlich nicht mal die AfD gehen.

    1. Da all meine Fakes wahr sind, kann ich ruhig ein bisschen Wahres einschmuggern, das dann als Lüge gilt. Alice im Wunderland Weidel und ihre Lebenspartnerin würden aus AfD-Sicht sicher nicht widersprechen.

      1. Wahre Fakes sind mal was neues. Wenn’s spannend ist beschwere ich mich jedenfalls nicht. Who cares about Fake News? 😉

  2. Langsam aber sicher kommen wir an den Punkt wo sexuellen Präferenzen generell keinen Widerstand mehr dulden. Wenigstens etwas ist 2019 besser als noch vor dreißig Jahren.

  3. Das Stückchen Darm… LOL! Ich frage mich allerdings auch ab und an ob Sex nicht ganz grundsätzlich überschätzt wird.

    1. Allgemein will ich das gar nicht sagen, aber was sicherlich stimmt ist, dass man(n) sich selbst gerne beim Sex überschätzt.

      1. … oder zu wenig zutraut. Es heißt ja „Dumm fickt gut.“ Glaub ich nicht. Ich finde, „phantasievoll “ macht es besser.

      2. Dumm fickt gut habe ich auch noch nie verstanden. Intelligenz ist sexy!

  4. Ah endlich mal jemand der dies ebenso sieht wie ich: Äußerlichkeiten bilden das Innere ab. Ganz genau so ist es nämlich. Darum sind Äußerlichkeiten auch gar kein so blöder Wegweiser.

    1. Und trotzdem bleiben Äußerlichkeiten doch immer nur ein erster Anhaltspunkt. Wenn man das Innere eines Menschen so leicht durchschauen könnte, wären viele Probleme längst gelöst.

  5. Unterwegs sein bedeutet sicherlich für jeden etwas anderes. Mich hält es am leben. So sehr ich mein Zuhause liebe, unterwegs sein, neues entdecken hält mich jung.

    1. Wahre Worte. Allerdings vergessen viele, dass man auch in seiner eigenen Stadt unterwegs sein und Entdeckungen machen kann.

  6. Zumindest in meiner Vorstellung gibt es Schlimmeres als als alter Lebemann im First-Class-Hotel umsorgt zu werden.

    1. Viel besser als Menschen die einen umsorgen zu haben geht doch gar nicht. Wer will den allein alt werden? Egal ob First Class Hotel oder anderswo…

  7. Meine Mutter hat Multiple Skerelose, sitzt im Rollstuhl und ist hinsichtlich ihres Bewegungsradius eigentlich stark eingeschränkt. Trotzdem hat sie ihr Abo für das Düsseldorfer Schauspielhaus. Trotzdem trifft sie sich zweimal in der Woche zum Brunch mit Freunden. Trotzdem geht sie auch selbst in die Stadt, um Besorgungen zu erledigen. Selbstverständlich ist dies nicht immer leicht und mit gesonderten Hürden verbunden. Allerdings hat sie ihr Netzwerk aufgebaut, um auch trotz aller Barrieren ‚unterwegs‘ sein zu können. Ich finde es fantastisch, dass dies alles möglich ist, solang der Wille groß genug ist und man sich nicht aufgibt.

    1. Ich bewundere immer wenn Menschen entgegen der allgemeinen Erwartung über ihre Grenzen gehen. Wirklich sehr ermutigend für jeden der langsam gebrechlicher wird.

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