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Das Flammenschwert

#2 Merkwürdige Umstände

In den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts soll es in Hamburg – und in den meisten deutschen Großstädten – ausgedehnte Laubenkolonien gegeben haben, besonders in Niendorf, am Rande des Flugplatzes, aber in dem Jahr, von dem ich rede, neunzehnhundertzweiundneunzig, waren Schrebergärten wahrscheinlich schon seltener als Millionärsvillen.
––„Bist du sicher, dass wir Steffi Tante Stine schon anvertrauen können? Ist es nicht noch zu früh?“, fragte meine Mutter. „Vielleicht wäre es besser, sie im Kindergarten zu lassen.“
––Steffi schlief schon, aber Boris und ich belauschten meine Eltern vom Flur aus. Die Tür zum Wohnzimmer war halb geöffnet, und dass der Fernsehapparat nicht lief, bedeutete, dass ein ernsthaftes Gespräch stattfinden musste: So etwas konnten wir uns nicht entgehen lassen.
––„Warum denn nicht? Stine war doch mal Kindergärtnerin …“
––„Georg, sei nicht albern! Du weißt, sie wurde unter sehr merkwürdigen Umständen entlassen, und das neunzehnhundertsiebzig, als in den Kinderläden so gut wie alles möglich war.“
––„Immer wieder fängst du mit dieser Geschichte an! Damals lebte sie doch noch mit so einem Revoluzzer zusammen. Das ist lange her. Glaubst du, sie wird die Kinder abschlachten?“
––„Wir haben nie rausgekriegt, was damals wirklich passiert ist. Es hat sie aus der Bahn geworfen. Es hat sie kaputtgemacht.“
––Er hat sie kaputtgemacht – falls sie kaputt sein sollte.“
––„Doch, sie ist kaputt.“
––„Wenn du das wirklich meinst, müsstest du dich eigentlich etwas mehr um sie kümmern. Aber – also, ich glaube ja, sie ist ganz glücklich, so auf ihre Art.“
––„Ja, wahrscheinlich. – Sie ist vielleicht kein schlechter Mensch, aber ich könnte sie einfach nicht öfter um mich haben. Wenn ich nur an sie denke, werde ich schon kribbelig. Und wenn sie hier ist, erst! Vielleicht meint sie es ja gut, aber alles, was sie anfängt, führt irgendwie in die Katastrophe.“
––„Seit wann ist das so?“
––„Ach, wir hatten schon als Kinder Angst vor ihr. Wir fanden sie unheimlich. ‚Sie ist etwas krass‘, nannte Vater es. Trotzdem hat er seine Schwester gemocht. Manchmal hatte ich direkt das Gefühl, dass er sie insgeheim bewunderte. Aber Mutter – sie hat darauf bestanden, dass ihre Schwägerin nicht mehr zu uns ins Haus kam. Es muss damals schon irgendwas passiert sein, aber darüber wurde mit uns Kindern nicht gesprochen. Jedenfalls wollte Mutter sie nie wieder sehen, und wir haben sie nicht vermisst. Aber als Mutter dann die Augen geschlossen hatte, ist Stine auf ihrer Beerdigung erschienen: Ihr Schwarz war dermaßen schwarz, dass es beinah schon bunt aussah: der Hut, der Schleier, das lange Kleid. Mutter ist bestimmt ziemlich wütend gewesen über diesen Auftritt – falls es so was wie ein Leben nach dem Tod geben sollte.“
––„Hoffentlich nicht. Und wenn doch: hoffentlich mit anderen Sorgen. – Aber im Ernst: In den letzten Jahren ist doch immer alles gut gegangen. Morgen fangen die Ferien an, also deine Bedenken kommen etwas spät. Und Steffi – sie würde bestimmt ziemlich neidisch sein, wenn ihr Boris und Michael jeden Abend erzählen, was sie alles erlebt haben.“
––„Was werden sie denn erleben?“
––„Was Kinder eben so erleben.“
––„Eigentlich erzählen sie nie viel, wenn sie bei ihr waren … na ja, du hast sicher recht. Was soll schon passieren. Und Boris und Michael mögen sie offenbar lieber, als wir sie als Kinder mochten. Es ist nur … Stine wird dieses Jahr fünfzig. Seit den Wechseljahren ist sie noch merkwürdiger geworden.“
––„Wie meinst du das? Du siehst sie doch nie.“
––„Nein, aber am Telefon …“
––„Was hat sie gesagt?“
––„Ich kann das nicht so ausdrücken … die ganze Art … ich weiß auch nicht.“
––„Die Jungen sind doch gern bei ihr, sie freuen sich schon auf diesen fürchterlichen Garten, in dem man wirklich keinen Schaden mehr anrichten kann, und Steffi wird es ganz sicher auch gefallen. Außerdem – fandest du Stines neues Buch irgendwie anders?“
––„Nein, ihre Bilder sind wie immer: beruhigend altmodisch. Das ist ja das Beunruhigende, wo sie selbst doch so schrill ist. Kinderbuch-Illustrationen sind heute meistens viel weniger romantisch.“
––„Glaubst du eigentlich, dass sie gut verdient damit?“
––„So was frag ich sie nicht. Aber wenn sie wirklich Geld hätte, würde sie ja wohl nicht in dieser Holzhütte leben.“
––„Doch. Genau das trau ich ihr zu. Aber – sie ist deine Tante, du kennst sie besser.“
––„Ich kenne sie überhaupt nicht, niemand kennt sie; das ist es ja, was mich so ein bisschen beunruhigt. Ich weiß, sie ist harmlos. Sie tut mir auch leid. Na ja. Sie freut sich auf die Kinder, und die Kinder freuen sich auf sie, also lassen wir es dabei. – Soll ich dir noch ein Bier bringen?“

Die Antwort abzuwarten, war zu riskant, wir huschten in unser Zimmer zurück, Boris drückte die Klinke ganz langsam herunter, schob die Tür zu und ließ die Klinke vorsichtig wieder nach oben gleiten. Er war gerade eben unter der Decke, als unsere Mutter den Kopf durch die Tür steckte.
––„Ist hier noch Unruhe?“
––Kein Laut.
––„Gute Nacht, schlaft jetzt!“, sagte sie unbeirrt, aber bevor sie die Tür schloss, schickte sie noch einen zarten Kuss in die Luft, wie einen kleinen, unsichtbaren Schmetterling.
––Als ich sie in der Küche hörte, flüsterte ich: „Boris?“
––„Ja …“
––„Meinst du, sie merken was?“
––„Ich weiß nicht. Steffi ist das Problem.“
––„Wir müssen auf sie aufpassen.“
––„Ja. – Vielleicht ist ja auch alles anders, diesmal.“
––„Hoffentlich nicht. – Was sind die Wechseljahre?“
––„Das ist die Zeit, als Ostdeutschland zu uns gekommen ist“, erklärte mir Boris.
––Ich fragte mich, welche Veränderungen das wohl in Tante Stines Garten und Verhalten bewirkt haben könnte, und wünschte mir im Einschlafen, dass Ostdeutschland wieder weg wäre.

Unsere Mutter fing um neun Uhr an zu arbeiten. Sie lieferte normalerweise Steffi gegen halb neun im Kindergarten ab und nahm dann den Bus zu ihrer Dienststelle.
––Mein Vater wollte immer schon um acht in seinem Büro sein und fuhr deshalb gegen halb acht mit dem Wagen von zu Hause weg. Ob neun Uhr für ihn nicht auch gereicht hätte? Das hätte unserer Mutter das Leben erleichtert, aber damals war nun mal alles, wie es war, und wir fragten nicht, warum.
––Viertel vor acht hielt unser Auto vor Tante Stines Haus auf dem breiten, trübgelben Sandweg, der die Hauptverkehrsader innerhalb der Laubenkolonie repräsentierte. Neben den beiden geschorenen Gärten rechts und links, deren Putzigkeit gewiss mühsam erarbeitet worden war, stellte Tante Stines Grundstück zweifellos eine Kampfansage dar: Eine aufrührerische Pufferzone zwischen zwei friedliebenden Staaten, und die feindselige Präsenz dieses Puffers wurde durch Tante Stines eigene Erscheinung noch auf herausfordernde Weise unterstrichen. Es machte ihr keinerlei Mühe, uns drei Kinder gleichzeitig in die Arme zu schließen, schwieriger war es schon für uns weiterzuatmen.
––„Du hast zugenommen“, sagte mein Vater. Etwas Netteres fiel ihm so schnell nicht ein.
––„Ich weiß, ich verkörpere das Laster der Völlerei.“ Tante Stine sah nicht mal auf von unseren Köpfen, „aber nenn mir einen einzigen Menschen, der mich heftiger lieben würde, wenn ich dünner wäre!“
––„Schlank sein, macht das Leben leichter“, sagte mein Vater. Es wurde immer peinlicher.
––„Essen macht das Leben erträglicher“, antwortete Stine.
––Das war wirklich keine Unterhaltung nach dem Geschmack meines Vaters. „Gegen sieben komm ich sie abholen“, sagte er und ging zurück zum Auto.
––Auf halber Strecke schien er sich zu besinnen. Er drehte sich noch mal um und fragte: „Geht es dir gut?“
––„Das siehst du doch!“
––„Ich hab es etwas eilig jetzt, wir sprechen heute Abend.“
––„Ja? Worüber denn?“, fragte Stine.
––Mein Vater hob die Hand halb hoch und lächelte, wenn auch unfröhlich, um zumindest anzudeuten, dass er Stines Frage als Scherz begriffen hatte, dann fuhr er – ich fand, schneller als sonst – davon.

24 Kommentare zu “#2 Merkwürdige Umstände

  1. wie passend zu diesem Wochenende?!

    „…. Was sind die Wechseljahre?“
    ––„Das ist die Zeit, als Ostdeutschland zu uns gekommen ist“, erklärte mir Boris.
    ––Ich fragte mich, welche Veränderungen das wohl in Tante Stines Garten und Verhalten bewirkt haben könnte, und wünschte mir im Einschlafen, dass Ostdeutschland wieder weg wäre.

    1. Meine Kinder interessieren sich in letzter Zeit mehr für astrophysikalische Phänomene. Aber vielleicht kommt hierzu später noch etwas.

  2. „Essen macht das Leben erträglicher“ ist in der Vergangenheit auch mein Mantra gewesen. Auch wenn ich versuche nun Diät zu halten und bewusster zu essen, gönne ich mir besondere Genussmomente. Dem Schlankheitswahn bin ich allerdings nicht verfallen. Butter muss einfach mal sein und dürr sein gehörte noch nie zu meinen Idealen.

    1. Essen macht das Leben ohne Frage erträglicher. Es kann ja trotzdem jeder seine eigene Diät haben. Der Grundsatz bleibt.

  3. Unsinn habe ich zwar die meiste Zeit getrieben, aber meine Eltern belauschen gehörte irgendwie nie dazu. Vielleicht waren die Gespräche aber auch einfach zu langweilig. Wer weiss…

    1. Solange man über andere reden kann, lässt es sich aushalten. Wenn es persönlich wird, wird es schnell unangenehm.

      1. Momentan würde ich sagen der „Big Talk“ (gibt es das Wort tatsächlich?). Jedenfalls merkt man das an den außerordentlich fiesen Reaktionen und Attacken auf eine Greta Thunberg.

      2. Wobei diese Hasser ja nicht unbedingt Zeit in tiefer führende Gespräche investieren, sondern online schnell ein paar Zeilen hinklatschen um Dampf abzulassen.

  4. Ahhh, ein Ausflug in die Welt der Tratsch-Vorurteile … sie ist so anders, so merkwürdig, man hört dies und das … ich kenne diese Sätze nur zu gut.

      1. -> „Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Cherubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.“ Gen 3,24

  5. Jedenfalls passiert noch irgendetwas (ziemlich überraschendes oder wahnsinnig schreckliches) mit Stine! Spannung, Spannung!

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