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01 – Judas

#3

„Hör zu! Ich erlaube dir nicht, so zu reden.“ Maria Magdalena war aufgebracht. „Du kommst zu mir mitten in der Nacht. Du bist verstört. Ich nehme dich auf. Wenn du müde bist, dann schlaf! Wenn du sprechen willst, sprich! Ich werde dir zuhören, das bin ich gewohnt. Wenn du dich betrinken willst, bitte, das werde ich auch noch ertragen. Da hinten steht der Krug. Was ich nicht dulden werde, ist, wenn du dich versündigst an dem, was mir, was allen gläubigen Menschen heilig ist.“
––„Mir ist es doch auch heilig. Verzeih mir! Ich bin so … Ich kann es immer noch nicht glauben.“
––„Warum hat Jesus dich fortgeschickt?“
––„Er hat mich nicht fortgeschickt. Ich bin gegangen.“
––„Weshalb?“
––„Ich weiß nicht, ob er zu unfehlbar ist, um je etwas zu bereuen. Sonst würde ich sagen, er denkt, dass es ein Fehler war, mich aufzunehmen in seinen Kreis.“
––„Hat er das gesagt?“
––„Natürlich nicht. Nie käme ein solches Eingeständnis über seine hehren Lippen.“
––„Judas, du bist …“
––„… gottlos, ich weiß. Nein, das stimmt nicht. Aber ich bin nicht wie die anderen. Ich bin ein Zweifler. Und doch – ich bin fast sicher, ich möchte so gerne sicher sein – gerade das war es, was ihn bewogen hat, mich zu berufen. Nicht, dass er von sich aus um mich geworben hätte. – Oder doch? Der gute Hirte, der das verlorene Schaf mehr liebt als die ganze Herde. Er ist dem schwarzen Schaf hinterhergeklettert in die Schlucht. Doch dann hat die Herde geblökt, und der gute Hirte ist zu ihr zurückgekehrt. Nicht aus Feigheit, nicht mal aus Vernunftsgründen, sondern weil sein Weg vorherbestimmt ist, weil er seine Bestimmung hat, so wie ich meine, und dass diese Bestimmungen miteinander verwoben sind, ist die einzige Erfüllung, die ich je haben werde. Wir werden beide gerichtet werden. Auch voneinander. –
Es ist seltsam: Immer habe ich diese Vorstellung gehabt, dass ich an einem Baum hängen werde. Schon seit meiner Kindheit sehe ich mich da im Wind pendeln. Nicht gesteinigt. Nein, aufgehängt.“
––„Wie schrecklich! Was für ein böser Traum!“
––„Kein Traum, Maria Magdalena, eine Vision. Am Ende wird man ganz steif, wenn man da hängt. Es heißt, man lässt sogar noch einmal den Samen. Das muss doch ein sehr schöner Tod sein.“
––„Judas!“
––„Nun tu nicht so, als sei das neu für dich! Wie viele Männer hast du kommen sehen, hm? Und dann wieder gehen …?“
––„So, Judas, und jetzt gehst du!“
––„Wirst du verlegen? Du? Ach, das solltest du nicht! Du hast mehr Liebe gegeben als meine sogenannten Brüder. Dessen bin ich sicher. Sie sind fromm, vielleicht. Und dumm, bestimmt. Johannes, der Jesus den Staub von den Füßen lecken möchte. Und Simon, sein ‚Petrus‘, der unangefochten für ihn durchs Feuer geht und …“
––„… und du, der du alle anderen schlecht machst und selber zweifelst!“
––„Ja, ich zweifle. Und ich bin eifersüchtig. Das ist ihm nicht recht, obwohl es ihm bei Johannes gleichgültig zu sein scheint. Johannes ist eben ungefährlicher, weil er fügsamer ist. Ihn würde er nicht ins offene Messer laufen lassen. Denn Johannes ist gehorsam. Gehorsam, das ist es, was er will.“
––„Den kann er auch verlangen.“
––„Ja, aber ist das wirklich immer alles gewesen, was er wollte? Vielleicht ja. Gehorsam.“

30Wer nicht für mich ist, ist gegen mich […]

6Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist.

14Ihr seid meine Freunde, so ihr tut, was ich euch gebiete.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 12,30 | Matthaeus 18,6 | Johannes 15,14

„Und er will unbedingten Glauben. Alles andere ist Sünde. Also will er mehr als Glauben. Er will Einfalt, schlimmer: Dummheit.“

3Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.

25Ich preise dich, Vater […], daß du soches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.

18[…], wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, […].

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 5,3 | Matthaeus 11,25 | Johannes 3,18

„Und schließlich: Armut. Sie scheint fast schon einen Anspruch auf den Himmel zu sichern.“

25Gedenke, […], daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Lukas 16,25

„Und diese Umkehrung soll dann bis in alle Ewigkeit gelten. Ist das gerecht? Eher kommt ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Diese immer wiederkehrende Anklage gegen die Reichen und Gebildeten. Das sorgte natürlich für den Zulauf der Armen und Ungebildeten. Was ihm jetzt noch bleibt, sind die, die er gerufen hat: die Unselbstständigen, die Mittellosen, die Einfältigen. Bei ihnen findet er seinen Zulauf. Sie kann er nach wie vor beeindrucken, zumindest auf dem Lande.“
––Er wischte sich die klebrigen Haare aus der Stirn, als wären es krause Gedanken, Krähen, die man fortscheucht. „Ich hätte mir die Kasse nicht aushändigen lassen dürfen. Das war schon sein erster Schritt, mich in die Enge zu treiben: Den Sohn des Kaufmanns, den Zweifler, mit dem schmierigen Geld abspeisen und Petrus die lauteren Seelen fischen lassen. Jeder an seinen Platz!“ Judas sprang auf. Einen Schritt vor, einen zurück, dann setzte er sich wieder. „Er ist geworden wie alle, die es zu etwas bringen wollen, ohne es zu etwas gebracht zu haben. Er braucht Ergebenheit und Feigheit. Einen wie mich, der noch denkt, den verleumdet er. So lange, bis seine Verleumdungen wahr werden. Er wird es noch erreichen!“
––„Du versündigst dich, Judas. Halt ein! Bitte!“ Sie hatte angstvoll die Hände vors Gesicht geschlagen.
––Judas sah sie an. Er hätte sie gerne verachtet, aber sie rührte ihn.
––„Ach, er war nicht immer so. O nein. Und ich liebte ihn nicht für das, was er jetzt ist, sondern ich liebe ihn als den, der er damals war, als ich noch in meinem Elternhaus lebte. Ein angehender Kaufmann, eine vorhersehbare Zukunft. Geld. Reisen, vielleicht Rom. Rom! Ein Einzelgänger, schon damals. Wenn ich am Abend auf den Hügel stieg, mich an meinen Lieblingsplatz kauerte, verborgen zwischen Felsen, den Duft von Eukalyptus und Zypressen einsog und mir, um Sehnsucht und Überdruss zu betäuben, den glühenden Sonnenuntergang zwischen die Beine holte, dann wartete ich auf ihn. Manchmal lag ich mit der Brust am Boden, im Staub zuckend wie die Schlange, aber das Genick nach den roten Wolken gereckt. Manchmal lag ich auf dem Rücken, die rechte Hand eng im Schoß, fast ohne zu atmen. Ich sah nur den Himmel, in dem durchsichtige Kringel durcheinanderstoben, und ich hörte, halb betäubt, die fernen, fernen Stimmen der Menschen und der Tiere, die mir nichts anhaben konnten. Die weiche Luft über mir, der harte Felsen unter mir, dazwischen ich: Nahtstelle, Narbe, Teil der Dämmerung und wild auf die Dunkelheit.“

20Wer arges tut, der haßt das Licht und kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Johannes 3,20

„Und so sind wir uns auch bei Nacht begegnet, Jesus und ich. Mein Gott, wie leer war ich von diesem Leben dort und wie voll von ängstlicher Erwartung. Geld, Geschäfte und – vielleicht! – Rom. Diese ständige Furcht! Diese furchtbaren Gesetze und die schreckliche Angst, sie zu übertreten. Der Abstieg vom Hügel, in Reue, in Bitterkeit und Selbstverachtung. Ewige Verdammnis und, schlimmer noch, sofortige Entdeckung. Fragen, Flecken. Ich hatte wieder einmal das Allerheiligste betreten. Gesündigt gegen das Fleisch und, vor allem, gegen den Geist. Wann würde Gott mich strafen? Wann würde ich vom Aussatz befallen werden? Ausgestoßen. Ein Kranker, ein Sünder.“

26Wirst du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchen und tun, was recht ist vor ihm, […], so will ich der Krankheiten keine auf dich legen, […]; denn ich bin der HERR, dein Arzt.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – 2.Mose 15,26

„Ein Arzt, der nicht heilt, sondern straft. Ich war krank vor Angst und Schuld. Der Satan musste in mir stecken, das wusste ich. Schon deshalb, weil ich – trotz allem – das Leben so liebte. Doch das Leben dient der Erfüllung der Gesetze, nicht dem Vergnügen. Darum das Gebot: keinen Schmuck, keine Zierpflanzen vor dem Haus und keine Blumen im Haus. Meine Eltern vernachlässigten diese Forderungen. Sie liebten Pracht und galten nicht als fromm. Pracht! Was würde man wohl in Rom darunter verstehen? Aber hier war nicht Rom. Ich mochte von Glück sagen, dass ich sprechen und sehen konnte, denn ich malte mir aus, dass sie geflüstert und ihre Geschlechtsteile geküsst hatten, während sie mich zeugten, und das soll, gemäß der Schrift, zu taubstummen Kindern führen. Ich hätte es ihnen gegönnt, Lust empfunden zu haben, aber ich dachte auch: ‚So also ist Gott, er straft nicht nur die Sünder, sondern auch deren unschuldige Nachkommen.‘ Wir würden uns erhalten bleiben, meine Eltern und ich, in ewiger Verdammnis: Sie, weil sie genusssüchtig waren, ich, weil ich schwach war. Obwohl ich kämpfte, nicht gegen Blumenschmuck, aber gegen Gedanken. Ein von Gott Verstoßener und den Menschen Ferner. Warum nur lastete der Fluch auf mir, sprechen und sehen zu können? Und denken. Warum hatte ich nicht wenigstens den Gleichmut meiner Eltern, die die Regeln weitherzig auslegten und mir deshalb fremd waren? Ich nahm die Regeln genau und scheiterte an ihnen. Qual – und Lust: Ich liebte die Versuchung wie mich selbst.“

Titelgrafik mit Material von Shutterstock: rudall30

21 Kommentare zu “#3

    1. Sich erhängen klingt ja an sich auch schon mal nicht sonderlich erstrebenswert. Wer sich zu dem krassen Schritt überwindet, dem ist bestimmt auch die Erektion egal.

  1. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. An den Satz habe ich mich gar nicht erinnert. Klingt eher nach Mafiaboss als nach Bibelzitat.

  2. Hier ist das für mich völlig nachvollziehbare Dilemma: Ich nahm die Regeln genau und scheiterte an ihnen!

      1. Religion hat selten Flexibilität. Gerade die Regeln geben der Kirche ja die Macht.

  3. Man kann die inneren Kämpfe des Judas gut auf viele viele andere Situationen übertragen. „Ich war krank vor Angst und Schuld. Der Satan musste in mir stecken, das wusste ich.“ In der ein oder anderen Form, vielleicht ein wenig abgeschwächter, kennen wir das doch alle.

    1. Die Bibel ist so ein spannender Leitfaden fürs Leben … wenn man nicht jedes Wort obsessiv, versessen, religiös betrachtet 😉

      1. Hahaha, seine Religion unreligiös zu betrachten ist allerdings eine herausforderung

  4. Gerechtigkeit. Was für ein Thema. Ich persönlich glaube, wer im Leben / in der Religion nach Gerechtigkeit sucht, hat schon verloren. Wir können unser Bestes tun und auf das Beste hoffen. Mehr wohl nicht.

      1. Das Problem mit dem Glauben an einen gerechten Gott ist, dass Schicksalsschläge wie Krankheiten, der Verlust von geliebten Menschen etc. fast noch unerträglicher werden. Weil man das selbst erlebte dann grundsätzlich als gerecht betrachten muss.

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