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01 – Judas

#7

„Wir saßen beisammen. Die Sonne war untergegangen, und die Hähne hatten aufgehört zu krähen. Petrus nickte beflissen zu allem mit dem Kopf, was Jesus sagte, ein richtiger Knecht, wie der HERR ihn braucht. Ich saß in der Ecke, etwas abseits und sah aus dem Fenster. Draußen war noch ein Leuchten, geheimnisvoll, unbestimmbar. Der Klang einer fernen Harfe schwebte vorbei. Drinnen war es stickig und dumpf. Maria, Simons Maria, kam mit einem Pfund Nardenöl. Einem ganzen Pfund, es war bestimmt dreihundert Silbersekel wert! Sie griff in den Napf, nahm von der Narde und verrieb das Öl in ihren Händen. Der ganze Raum begann zu verschweben. Ein betörender, atemverschlagender Duft. Eher bitter als süß, das Aroma von Liebe und Tod. Die anderen wurden zu Schatten. Sie hatten aufgehört zu reden und saßen schweigend. Ich sah nur ihn in der Dämmerung und sie zu seinen Füßen. Sie begann ihn zu salben, seine Haut zu berühren, zu massieren. Er schien es zu genießen. Seine Augen waren halb geschlossen. Vielleicht war er auch so tief in Gedanken, dass er sie gar nicht bemerkte. Sie knetete seine Zehen mit Hingabe. Ihr Kopf war tief vornübergebeugt, als wolle sie seine Füße mit den Lippen berühren, und dann sah sie auf zu ihm wie eine Katze, die ein Kosen herausfordert, um schnurren zu können. Jesus atmete tief und ruhig. Mit halb geöffnetem Mund, den Kopf an die Wand gelehnt, überließ er sich ihren Händen. Ein Vorgefühl kommender Lüste und Schmerzen, ein Verschmelzen. Nur manchmal lief ein Zucken durch seine Nasenflügel. Von seiner Stirn glitzerte ein Schweißtropfen, schob sich an der linken Braue vorbei und ließ sich aufsaugen vom Barthaar, dem Bart, den ich damals an meiner Haut gespürt hatte.
––Ich stand auf mit einem Ruck. ‚Dieses Öl hätte man verkaufen können und das Geld den Armen geben, Narde ist sehr kostbar, und gute Werke sind mehr wert als Salbungen. Die Wohltaten, die man dem eigenen Leib erweist, zählen nicht vor dem Himmel, nicht wahr, Meister?‘
––Maria richtete sich verwirrt auf.
––Er blieb ganz ruhig, äußerlich. Seine Augen öffneten sich und sein Mund schloss sich. Er sah mich an ohne Gefühlsregung. Keine Kälte, keine Nachsicht.“

10[…] Was bekümmert ihr das Weib? Sie hat ein gutes Werk an mir getan.

11Ihr habt allezeit Arme bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 26,10–11

„Am Raunen der anderen hörte ich, wie Wellen der Abneigung gegen mich hochschlugen. Maria kniete wieder nieder und begann mit ihren Haaren seine Füße zu trocknen. O Gott, ich hätte ihn doch auch gesalbt, nicht nur seine Füße, seinen ganzen Körper, und mit meinen Haaren hätte ich ihn getrocknet, über und über, wenn er mich nur den Saum seines Umhangs hätte küssen lassen. Ich ging nach draußen. Ich brauchte frische Luft und einen Schluck Wasser. Ein Kamel wurde vorbeigezogen, willig, geduldig; der Unterkiefer schob sich gemächlich von rechts nach links und wieder zurück, eintönige, gleichmütige Bewegung, es stakste davon, wohin auch immer.
––Am nächsten Morgen war es dann so weit: Es hatte sich in Bethanien und in der Umgebung herumgesprochen, dass wir angekommen waren. So arg steht es noch nicht um uns, dass wir nicht doch etwas Neugier hervorrufen können. So folgten uns schon genügend Menschen nach Bethphage, um Aufmerksamkeit zu erregen. Im Ort hielt Jesus an und schickte Philippus und Bartholomäus vor. Sie sollten eine Eselin mit einem Fohlen suchen und zu ihm bringen. Zunächst wunderte ich mich darüber. Erst später merkte ich, wie wohldurchdacht sein Plan war. Nach ungefähr einer Stunde kamen die beiden zurück. Sie hatten jemandem zwei Tiere für den Tag abgeschwatzt. Und so hielt er seinen Einzug ganz nach Vorschrift – wie der Prophet es geweissagt hatte.“

5Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 21,5

„Die Menge, die sich um ihn sammelte, wurde immer größer. Gaffer ziehen Gaffer an. Der Zeitpunkt war genau richtig gewählt. Jerusalem quoll über vor Menschen, und immer noch strömten sie von allen Seiten, auf allen Wegen in die Stadt. Mit Ziegen, Maultieren, Kamelen. Mit Karren und Zelten. Passah – das Fest der Feste. Und wir mitten in dem Sog. Zwanzig jubelten ihm zu. Vierzig, die es sahen, jubelten gleich mit. Da unten lag Jerusalem, uns, ihm zu Füßen. Wir konnten hineinsehen in die inneren Tempelhöfe, aus denen der Rauch vom Brandopferaltar aufstieg. Die viertürmige Antonia unmittelbar daneben, mit den römischen Soldaten, das Zeichen weltlicher Macht. Auf der anderen Seite der Stadtmauer die drei hochragenden Türme des Herodes-Palastes, Pontius Pilatus war wohl schon herübergekommen von Caesarea, um dort sein Quartier für die Festzeit aufzuschlagen. Dazwischen Jerusalem: der Schauplatz. Hier wird es passieren. Hier muss es passieren! Nicht in irgendeinem abgelegenen Winkel in Galiläa, nein, hier vor den Augen der Welt! Jemand kletterte am Stamm einer Palme herauf, riss einen Wedel ab und schwenkte ihn. Kinder machten es ihm nach, dann auch Frauen und Männer. Immer mehr Menschen hatten plötzlich Palmenzweige in der Hand, die Begeisterung wälzte sich vor uns her wie eine Lawine. Sie standen Spalier, endlos, und dann begannen sie, Laute auszustoßen, kleine, vogelartige Laute, die immer heftiger anschwollen, aus Hunderten von Mündern, erst vor Aufregung, dann in Verzückung. Ihre Gesichter waren grell, von der Sonne und von ihren Schreien. Palmenwogen fluteten auf beiden Seiten neben uns her, Wogen, die uns hätten verschlingen können. – Massenwahn.
––Ich musste an mich halten. Die Mauern des Jubels quetschten mich zwischen sich zusammen. ‚Meister!‘, rief ich, ‚sie werden uns umbringen!‘
––Er sah gelassen zu mir herab. ‚Mich werden sie umbringen‘, sagte er. Und dann blickte er wieder nach vorne und winkte ihnen zu.
––Die Leute unten in der Stadt starrten erstaunt auf den Zug, der sich ihnen entgegendrängte. Aber sie waren abgebrühter als die Dorfbewohner. Missbilligung und Gleichgültigkeit mischten sich in den Jubel. Die Menge verlief sich. Trotzdem, Aufmerksamkeit war geweckt. Wer eine solche Anhängerschaft sammeln konnte, der konnte auch zur Bedrohung werden. In der Hauptstadt ist alles politisch, und Jesus ist nicht einfältig genug, das nicht zu wissen. Und so geht vielleicht mein Traum doch in Erfüllung, dass unser gemeinsames Leben, das in Verinnerlichung begann, jetzt noch im Aufstand endet. Kein persönlicher Racheakt, sondern ein politischer Akt. Aber auf welcher Seite stehe ich? Wohl auf der, auf der ich im Grunde immer stand. Und immer noch stehe. Es durchzuckte mich, als er die Tische der Händler umstieß, sie aus dem Tempelvorhof zu treiben versuchte und dabei schrie: ‚Macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus!‘
––Mein eigener Vater ist ja Kaufmann. Wie viel trennt mich von ihm? – Ein erschreckender Augenblick, dieser Ausbruch von Jähzorn. War das spontan oder war es berechnet? Zumindest bedeutete es offene Revolte. Alle seine Reden bisher, das Gezeter gegen die Reichen und gegen die harmlosen Pharisäer, das war ziemlich gefahrlos gewesen. Es gefiel den Armen und tat kaum jemandem weh. Hier aber ging es um die Sadduzäer, und das kann tödlich sein. Jeder Mensch weiß, dass die Sadduzäer an diesem Handel vor dem Tempel verdienen, dass sie die Steuern und das Sekelopfer kassieren. Wem das nicht passt, der geht in die Wüste wie die Essener oder zuckt die Achseln – aber offener Angriff: Das gab es noch nie. Sie werden sich wehren. Und sie haben die Macht.
––‚Jesus, o mein Jesus‘, stammelte Maria Magdalena, ‚Gott schütze dich!‘
––Ihre Angst tat Judas wohl. ‚Wenn sie es für nötig halten, werden sie die Römer gegen das eigene Volk rufen, du wirst es sehen.‘
––Ohne die Hilfe der römischen Behörden wäre ihr Finanzsystem unmöglich. Wie sollten sie allein die Geldtransporte aus der Diaspora sichern? Ein Aufstand gegen die Römer wäre für sie genauso gefährlich wie für die Römer selbst. Jesus weiß das. Nur wenn man die Wunde kennt, kann man den Finger so zielsicher hineinbohren. Es ist sein letzter Versuch. Vor ihren Toren verkündete er noch einmal die ‚Auferstehung des Fleisches‘, wie er es nennt. Ein Gedanke, wunderbar und erschreckend zugleich. Für die Sadduzäer bedeutet der Tod das Auslöschen der menschlichen Existenz. Das klingt zunächst beruhigender und ist doch noch grauenhafter und unfassbarer für mich. – Aber ich zähle nicht mehr. Ich habe nie gezählt. – Noch einmal diese Siegesgewissheit: ‚Der Tempel von Jerusalem, das größte Heiligtum der Welt, wird dem Erdboden gleichgemacht werden, nur meine Lehre bleibt bestehen.‘ – Vermessen? – Sicher. Wahnsinnig? – Wahrscheinlich. Gotteslästerlich? – Vielleicht. Aber, Himmel! Diese Kraft, dieser Glaube, der Berge versetzt. Nie habe ich ihn mehr bewundert als an diesem Tag, nie war ich mehr bereit, ihm zu folgen, überall hin, nie war ich bereiter, an ihn zu glauben, an ihn und an seinen Gott. Und dann war alles nur ausgeklügelte Berechnung? Ein mörderisches Spiel, das mich in die Rolle des Mörders presst? Ich kann es immer noch nicht fassen. Und doch gab es da schon Zeichen für seine Ungerechtigkeit: Er predigte weiterhin Nächstenliebe und dachte an nichts anderes mehr als an sich und seinen Plan – sein Schicksal.“

Titelgrafik mit Material von Shutterstock: rudall30

28 Kommentare zu “#7

  1. Auf welcher Seite stehe ich? Eine Frage, die sich im Leben wieder und wieder und wieder stellt. Zumindest wenn man nicht nur passiver Mitläufer sein will.

    1. Manchmal geht es aber auch gar nicht um Seiten. Ginge es in der Politik weniger um links oder rechts, würden die Menschen vielleicht eher zusammen finden.

  2. Nächstenliebe und das eigene Schicksal müssen sich nicht widersprechen. Den Punkt der Ungerechtigkeit würde ich nicht unterstreichen.

    1. „Als Jesus vor zweitausend Jahren ans Kreuz von Golgatha geschlagen wurde, und er sich nicht wehrte gegen die Schläge, die Peitschenhiebe, die Spucke, den Tod als Unschuldiger am Verbrecher-Kreuz, als er nicht Legionen von Engeln herzu rief, seine Feinde zu vernichten; als der Sohn Gottes sich um unserer Schuld willen unter uns Menschen demütigte, da passierte genau dies: Gott schloss Frieden mit uns. Frieden, der nicht durch erneute Schuld infrage gestellt wird. Frieden, der stärker ist als Ungerechtigkeit. Gott verzichtete auf die ihm zustehende Gerechtigkeit. Er brach den Teufelskreis auf. Und besiegt damit das Böse. Jesu Tod ist Gottes Angebot des Friedens an die Menschheit. Eines Friedens, aus dem neue, dauerhafte Gerechtigkeit erwächst.“

    2. Alle Menschen sind Sünder und Gott ist vollkommen gerecht, wenn er gemäß seiner Heiligkeit jeden Sünder verdammt und richtet. – So lehrt es uns die Kirche. Ob man mit dieser Art von Religion etwas anfangen kann muss jeder selbst entscheiden.

    1. Ich würde behaupten: nein. Es muss sich ja auch nicht jede Handlung, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, tatsächlich als solche herausstellen.

      1. Funktioniert das denn auch noch wenn man die Dreifaltigkeit miteinbezieht?

  3. Die Historizität der Tempelaktion ist umstritten, da zum einen das Verhalten Jesu im Widerspruch zu dem in der Bergpredigt geforderten Gewaltverzicht zu stehen scheint und theologische Motive die Szene dominieren – Johannes setzt die Tempelaustreibung mit der Vollmachtsfrage und der Prophezeiung der Tempelzerstörung in Zusammenhang (Joh 2,18−19 EU), Markus mit der Öffnung des Gottesdienstes für Nichtjuden (Mk 11,17 EU) – und zum anderen eine derartige Handlungsweise nach Ansicht vieler Historiker von der besonders in Festzeiten wachsamen und streng durchgreifenden Tempelpolizei unmittelbar unterbunden und geahndet worden sein müsste. Andererseits hat die Vertreibung der Händler aus dem Tempel und die Befreiung der Opfertiere durch Jesus geschichtlich kein Vorbild und keine Parallele, was als Hinweis auf die Echtheit der Überlieferung gewertet werden kann. Vermittelnde Positionen schlagen vor, die so genannte Tempelreinigung könnte unauffälliger und ihr Ausmaß wesentlich begrenzter gewesen sein, als es die neutestamentlichen Quellen schildern, und sie könnte sich auch in einem schwer zu beaufsichtigenden Teilbereich des Tempelareals abgespielt haben. (WIKIPEDIA)

    1. Wie bei allem in der Bibel geht es doch am Ende nicht um historische Authentizität, sondern um die Bedeutung der Geschichte…

      1. Jesus Zorn richtete sich meiner Meinung nach generell gegen den Missbrauch des Tempels als Handelsplattform und speziell gegen die überhöhten Preise und damit einhergehend dagegen, dass die Händler ihre Käufer betrogen. Der Tempel soll also als Gebetsstätte erhalten bleiben, es geht um Respekt vor Gottes Haus.

      2. In Jesaja 56, 6-7 erfährt man ein wenig wie Gott sich seine Tempel vorgestellt hat: “Und die Fremden, die sich dem HERRN zugewandt haben, ihm zu dienen und seinen Namen zu lieben, damit sie seine Knechte seien, alle, die den Sabbat halten, dass sie ihn nicht entheiligen, und die an meinem Bund festhalten, die will ich zu meinem heiligen Berge bringen und will sie erfreuen in meinem Bethaus, und ihre Brandopfer und Schlachtopfer sollen mir wohlgefällig sein auf meinem Altar; denn mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker.”

  4. Hahaha, ich frage mich ob Jesu Jünger wirklich so wild darauf gewesen sind seinen ganzen Körper zu salben. Ich habe die Anhängerschaft bisher immer etwas intellektueller verstanden 😉

    1. Man kann das wahrscheinlich so nennen, wenn man möchte. Kühle Berechnung oder Gottes Wille, zwei Seiten der selben Medaille.

      1. Man brauch nur an die Sintflut und die Arche Noah denken. „Mörderisches Spiel“ ist provokant, aber auch nicht weit weg von der Wahrheit.

      2. Provokante Auslegungen der Bibel gab es schon immer. Zum Beispiel schrieb Richard Dawkins über den Gott des Alten Testamentes: Gott ist „die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur, eifersüchtig – und noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger, ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.“ (Gotteswahn, S. 45)

      3. Dawkins ist eingefleischter Atheist. Mich interessiert eher wie Gläubige Katholiken ihren Gott kritisieren.

      1. Anscheinend hatten Sie Recht 😉 Judas #8 pünktlich zum Freitag Abend. Und obwohl man die Geschichte allzu gut kennt, bleiben die Beiträge spannend.

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