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2002
Religion

Sonntagspredigt (2) am Mittwoch

So skeptisch bin ich gar nicht. Ich sehe es ein, wir müssen an die Zukunft denken, und darum fordere ich: nur noch Atomkraftwerke! Die haben keinen CO₂-Ausstoß, machen uns unabhängig von den Arabern und den Russen und sind viel billiger als Solaranlagen, für die, wie man lesen kann, mehr Energie eingesetzt werden muss, als so eine Anlage während ihrer ganzen Lebensdauer erzeugt: ein energetisches Negativgeschäft. Außerdem sind Atomkraftwerke in den letzten Jahrzehnten viel sicherer geworden, dabei haben wir ja schon 1986 das verrottete Tschernobyl heiler überstanden als so mancher Embryo ConterganⓇ. Kollateralschäden gibt es überall. Und warum sollen die Iraner, die wer weiß wie viel Öl haben, Atomkraftwerke bauen und wir nicht, obwohl bei uns viel fester steht, dass wir nicht mal Bömbchen als Nebenprodukte fabrizieren wollen? Warum dürfen überhaupt Islamesen Karikaturen veröffentlichen, in denen Israels Präsident als Schwein dargestellt wird, während ein dänisches Blatt sich nicht über Mohammed lustig machen darf? Wem ist denn nun alles erlaubt, und wer hat ethische oder ethnische Gefühle nicht zu verletzen? Mal gibt es Achselzucken, mal Morddrohungen. Das muss man wohl ertragen lernen oder sich zur Gleichgültigkeit disziplinieren. Nur wenn die Fanatiker diese Gleichgültigkeit als Schwäche oder gar als Kampfansage werten? „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ ist so ein kaugummifreundlicher Begriff. Aber man kann nicht auf der einen Seite Sicherheit verlangen und sich auf der anderen Seite vehement dagegen wehren, dass Telefone und E-Mails daraufhin überwacht werden, ob vielleicht demnächst mal jemand eine U-Bahn auf die Straße emporsprengt. In Abu Ghraib und in China müssen Abweichler stundenlang entblößt auf einem Bein stehen, und in Frankfurt finden es Passagiere indiskret, durchleuchtet zu werden. Absurd: Die einen stellen sich nackt mit gespreizten Beinen ins Internet, die anderen haben Angst, dass man mitbekommt, wenn sie ihre Omma anrufen. Die Intimsphäre wird von den meisten Menschen so klein gehalten, wie nur irgend möglich: ständig erreichbar, ständig was zu plappern, wobei das ‚dass‘ mit zwei ‚ss‘ von Bloggern nur noch derart wenig benutzt wird, das(s) ich glaube, das(s) man das zweite ‚s‘ demnächst streichen wird, schon um Kinder aus bildungsfernen Schichten nicht zu benachteiligen, wenn sie beim ‚Big Mac‘-Knautschen von ihren Hartz-IV-, Verzeihung, Bürgergeld-Eltern beigebracht bekommen, in was für einem Scheiß(ss)staat sie leben, während deren aufs Gymnasium hoffende Mitschüler, die in gehobenen Verhältnissen leben, mit Messer und Gabel essen und dabei von ihren Eltern darüber belehrt werden, dass Theaterinszenierungen, in denen man das Stück noch wiedererkennt, nicht mehr zeitgemäß sind, ab der sechsten, vielleicht demnächst auch erst siebten oder achten Klasse auf eine Abitur-Vorbereitungsschule gehen dürfen. Ist ja klar, dass die dann ihren Bachelor schneller machen. Zwar haben auch sie keine Ahnung davon, was die Menschheit emotional derart vorangetrieben hat in ihrem immer dynamischer werdenden Erfindergeist, dass wir jetzt da liegen, wo wir stehen, aber dafür sind sie passgerecht auf einen Beruf zugeschnitten, für den sie eventuell nach ein paar Jahren Pizzaaustragens auch die Chance bekommen, ihn als Langzeitpraktikanten zu erlernen.

Also, ich will mich nicht beschweren: Meine Eltern haben mir beigebracht, wie man sich benimmt und dass man sich nicht verschuldet. Mein (mangelndes) Bedürfnis, große Gewinne oder kleine Kinder zu machen, hat kein Unheil angerichtet. Zugegeben, wenn ich nachmittags aus dem Haus gehe, mache ich verantwortungsloser- und zunächst mal überflüssigerweise das Licht an: Erstens schreckt es nach Sonnenuntergang Einbrecher ab, zumal ich keine Lust habe, mit denen darüber zu diskutieren, ob Eigentum Diebstahl am Volk sei, und zweitens sieht es behaglicher aus, wenn ich spätabends allein nach Hause komme, und es ist nicht alles so einsam und finster. Ich weiß, dass man im Kleinen anfangen muss, aber nicht beim Sparen, das bringt gar nichts. Schon mein Vater sagte: „Vermögen werden nicht erspart, sondern durch Ideen vergrößert.“ Davon lebe ich nun und versuche täglich, mein Wissen, meine Anteilnahme und meine Unterhaltsamkeit zu vergrößern. Ich habe immer nur abgebrauchte Autos gefahren und nie einen Porsche gekauft, obwohl ich weiß, dass ich dadurch 8 000 Arbeitsplätze bei Porsche gefährde, ohne dadurch wenigstens irgendein Kind zu ernähren oder zu bilden. Ich halte einen iPod nicht für einen Ei-Pott und ich weiß auch, dass man in Tokio Hotel nicht übernachten kann. Darüber hinaus weiß ich, wer in Austerlitz gewonnen und wer in Waterloo verloren hat und dass das derselbe war. Ich weiß, dass man Dinge tun muss, die unvernünftig sind und dass man Glücksmomente braucht, selbst wenn man schon im Rausch den Kater ahnt. Bereits das macht mich altmodisch. Früher waren doch immer alle älter als ich, wieso sind denn jetzt alle jünger? Die wissen hoffentlich, wo’s langgeht. Ich jedenfalls wusste das mit Anfang zwanzig. Geht meistens schief. Und da wo’s gerade bleibt, ohne Krümmung, ohne Zweifel, da winkt als Belohnung das Scheitern. Nur der gewundene Weg führt ans Ziel. Hoffentlich gibt es eins. Sonntag ist so ein Tag, an dem ich – Kirche hin, Braten her – daran glauben möchte, dass wir ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln könnten, das niemanden ausschließt und das uns alle gemeinsam weiterführt in eine Welt, in der dieser riesige Eisberg des Jammers mit jedem Tag ein wenig schmilzt, bis wir im Glück ertrinken können.

Foto: Public Domain/pxhere

25 Kommentare zu “Sonntagspredigt (2) am Mittwoch

  1. ‚Vermögen werden nicht erspart, sondern durch Ideen vergrößert‘ ist ein sehr schlauer Satz. Meine Eltern waren nicht besonders wohlhabend und haben mir nur mitgeheben ‚Du kannst an allem sparen, außer wenn es um Essen geht‘.

      1. Hahaha, das stimmt. Wobei ich die französische Esskultur immer ein bischen überbewertet finde 😉

      2. Beim Essen würde ich mich fast anschließen, bei der Esskultur eher nicht 😉

  2. Sich selbst und damit seine Daten öffentlich zu machen ist nicht das Gleiche wie überwacht zu werden. Es geht um Kontrolle über sein eigenes Leben.

      1. Der Handel mit Online-Daten boomt, und wir haben die Auswirkungen noch gar nicht richtig erkannt. Natürlich geht es nicht um irgendwelche belanglosen Fotos auf Facebook, es werden ja bspw. massenweise Passwörter „geklaut“ und weiterverkauft. Da gibt es viel Handlungsbedarf sowohl bei den Verbrauchern als auch von Regierungsseite.

      2. Den meisten scheint das allerdings recht egal zu sein. Da postet man dann einmal kurz, dass man Facebook nicht erlaubt seine Daten zu benutzen (natürlich völliger Quatsch), und denkt damit ist alles erledigt. Besorgnis sieht so nicht aus.

  3. Theaterinszenierungen, in denen man das Stück wiedererkennt sind durchaus zeitgemäß. Ich verstehe aber auch, dass Regisseure einen Text selbst interpretieren möchten. Sonst wäre es ja, als würde man jedes Jahr aufs neue Casablanca verfilmen. Mit immer wechselnden Darstellern aber Einstellung für Einstellung identisch. Wer verlangt so etwas denn ernsthaft vom Theater?

    1. Das ist ja nun nicht dasselbe, wie wenn Don Giovanni als post-apokalyptisches Sci-Fi-Drama inszeniert wird.

    2. Das behaupten ja auch nur die konservativen Bildungsbürger beim Mittagessen. Genügend Cover-Versionen und die Teile zwei bis fünf von erfolgreichen Filmen gibt es wahrlich genug, „Die Räuber“ müssen bestimmt nicht in den Kulissen der Mannheimer Uraufführung spielen.

      1. Ich wollte gerade sagen… Wer ist denn der große Oscar-Favorit dieses Jahr? A Star is Born, der mittlerweile schon fünf mal verfilmt wurde.

    1. Bonmots sind nicht dazu da, wahr zu sein, sondern einschmeichelnd zu klingen. Ohne ein Stückchen Wahrheit sind sie allerdings Tinnef. Und lernen tut man nun mal aus Umwegen und Niederlagen: Das sagen sich zumindest alle, die es nicht bis aufs Siegertreppchen geschafft haben.

      1. …und sogar oft die, die es auf’s Podest schaffen. À la „Hätte ich nicht […], hätte ich es nie bis hierhin geschafft“.

      2. Meine Tante sagte neulich Bauern (mit ihren Bauernweisheiten) seien die eigentlichen modernen Philosophen. Fällt mir nur gerade ein 🙂

      3. Wenn man aber nur mit Feuilleton-Weisheiten aufwarten kann, muss man trotzdem ernten gehen und dabei auf die dicksten Kartoffeln verzichten.

  4. Ihr Stammtischler erfüllt leider auch inhaltlich die Stammtisch-Klischees. Populistisch, platt, uninformiert. Mit Absicht? Dabei ist’s doch so wichtig, dass(!) sich viel mehr Menschen aufregen.

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