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Fast am Ziel

Rohrschneider mit Schneidrädchen | #73

Den Nachmittag verbrachte ich wie den Vormittag auf meiner Terrasse und sah der Sonne dabei zu, wie sie ihre seit Millionen von Jahren festgelegte Bahn zurücklegte; sie wurde angebetet, verehrt und verflucht und ist doch nichts als ein Stern. Einer, ohne den wir nicht leben könnten. Mein Buch über die jüdische Familie in Wien war da schon abwechslungsreicher, und die Augen zu schließen und zu beobachten, was das Hirn an Gedanken ausbrütet, ist mindestens so anregend.

Foto: cobalt88/Shutterstock

Auf die Realität sehe ich wie eine Wahrsagerin auf ihre Glaskugel. Leben tue ich in meiner Unwelt. Die Wirklichkeit ist als Vorlage ein ernst zu nehmendes Angebot, aber ohne Gestaltung ist sie unbrauchbar. Erst die Fantasie macht im Kopf des Konsumenten etwas mit ihr, wovon Pornografie-Erzeuger und Reiseveranstalter gut leben können. Wer lebt schon für die Wirklichkeit? Kaum jemand. Man lebt für die Illusion, die man seiner jeweiligen Haltung möglichst langfristig anpassen möchte. Hält diese Illusion lange, nennt man sie Utopie und hofft trotzdem, sie zu erreichen. Es ist viel geschafft. Wollen wir hoffen, dass es so zügig weitergeht, damit die Menschen in Afrika bald nicht an der Frage verzweifeln, wo sie etwas zu essen finden, sondern an der, warum sie leben. Und dann?

Foto links: PIXEL to the PEOPLE/Shutterstock

Viele fragen sich, was nach ihrem Tod passieren wird. Ich bekomme durch meinen Zustand jetzt schon eine plastische Vorstellung davon, wie es sein wird, wenn ich tot bin: Das Leben geht weiter, und ich bin nicht dabei. Alles das, was ich nicht mehr erleben werde – es fällt mir schwer, dort nicht hinzudenken: all die Bauten, Errungenschaften, Auseinandersetzungen, an denen ich keinen Anteil mehr haben werde. Aber die Menschen, die heute geboren werden, werden ihre Urenkel ja auch nicht mehr erleben. Oder doch? Dreihundertjährige im Altersheim, Weltregierung im Kreml. Fußgängerzonen auf der Elektro-Autobahn. Touristenverbot in Venedig. Nicht alles, was man nicht haben kann, ist wert, dass man es bedauert. Menschen, die unbedingt die Zukunft erleben wollen, sind mir genauso unverständlich wie die, die gern geboren sind. Schleift sich ja alles ab. Dauernd rieche ich den Schmirgel. Manchmal duftet er wie Jasmin, manchmal stinkt er wie ausgekotzte Scheiße.

Foto: Shchipkova Elena/Shutterstock

Enden müssen irgendwann sein. Manche Autoren schreiben sie zuerst, damit sie wissen, wo die Erzählung hinführt. Ich bin fasziniert von Anfängen. Wie wurde Rom zur Weltmacht, wie und was hat Kim Kardashian angefangen, um weltbekannt zu werden? Wie trafen sich im Film beim ersten Mal die Blicke von Menschen, deren Rumgewurschtel im Bett mich später bloß mehr oder weniger appetitlich vom Handlungslauf ablenkt?

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Der Anteil dessen, was ich selbst noch erlebe oder sogar durchlebe, schrumpft immer mehr: Es gibt kein Einkaufen, Kochen, Spazierengehen mehr für mich, höchstens noch Pflichtübungen in diesen Richtungen. Das liegt an meinem Alter, aber mehr noch an meinem Gebrechen. Der Vorsatz, das Verbleibende umso intensiver zu gestalten, klingt löblich. Wer blind wird, hört besser; oder riecht besser oder schmeckt besser. Stimmt das? Wer leblos wird, stirbt besser. Und damit bin ich zurück am Anfang meiner Nachmittagsbetrachtung, und es wird Zeit, wieder auf die Terrasse zu gehen und im Abendrot wieder den Negroni einzunehmen. Wie gestern. Wie vor 41 Jahren.

Ich habe mich daran gewöhnt, mein Aussehen eine Katastrophe zu finden. Im Film zu sehen, dass ich mal hübsch war, das muss reichen. Nachdem die Sonne weggegangen war, taten wir das auch. Für den letzten Abend am Meer hatte ich ein Lokal direkt am Wasser in Porto St. Stefano ausgesucht, das im Internet leichter zu finden war als in der analogen Wirklichkeit. Wir mussten – im Auto, wie sonst? – wieder mal eine Fußgängerzone durchqueren, und die Menschen, die sie zwischen Booten und Cafés entlangschlenderten, ließen sich durch uns nicht aus der Ruhe bringen, lynchten uns aber auch nicht. Es ging bergauf, die Menschen blieben unten, und wir konnten nur beten, dass uns kein Auto entgegenkommen würde. Der Klügere stürzt ab. Wir nicht, wir hatten Glück. Rafał parkte am Rande der Straße und der Legalität, wir stiegen erwartungsfroh aus und stellten fest, dass es da zwar ein Restaurant gab, aber nicht das, für das wir gebucht und uns fein gemacht hatten. So etwas führt immer zu leichten Gereiztheiten und Schuldzuweisungen, bleibt aber harmlos, wenn es nicht nur der Anlass ist, tiefer greifende Konflikte auszutragen. Doch die gab es nicht. Wir fuhren wieder in die Menschen, stellten den Wagen zur Seite und nahmen die für uns bestimmten Plätze im „Il Moletto“ ein. Was das heißt, weiß ich nicht; ich fand nur „tagliatubi a moletta“ und dazu die Übersetzung „Rohrschneider mit Schneidrädchen“. Begegnet einem auch nicht alle Tage. Es war alles ziemlich beschaulich und nicht übermäßig laut.

Foto: Dmitriy Yakovlev/Shutterstock

Ein Abend am Hafen: Schiffe, Leute, Knoblauchbutter. August im Süden. Für die Rückfahrt hatte sich das Schicksal noch eine kleine Überraschung ersonnen: An der schmalsten Stelle unseres Pfades zum Hotel schickte es uns ein anderes Auto entgegen, Rafał schrammte den Fels ein wenig und behauptete, darüber vor Gram die ganze Nacht nicht geschlafen zu haben. Das fand ich übertrieben; denn die Beule war unerheblich, aber Rafał neigt ja zu Übertreibungen. Schlaf braucht er so gut wie gar nicht. Wenn er recht hätte, schliefe er keine Nacht mehr als drei Stunden, das ist ja noch weniger als ich esse.

7 Kommentare zu “Rohrschneider mit Schneidrädchen | #73

  1. Die Umwelt als Unwelt. Manche Zukunftsvision kann einem wirklich Angst machen. Als Dreihundertjährige durch’s Leben gepflegt zu werden wird sich zumindest bis zu meinem Tod gottseidank nicht bewahrheiten. Die Touristenscharen in Venedig würde ich hingegen nur allzu gern verboten wissen. Obwohl mich das natürlich selbst miteinschließen würde. Alles hat Vor- und Nachteile. Das Leben auch. Mir macht’s trotzdem Spaß. Zumindest meistens…

  2. „Enden müssen irgendwann sein.“ Völlig richtig, irgendwann muss auch mal gut sein. Damit wäre doch auch schon die Frage aus dem oberen Abschnitt beantwortet: die Frage was nach dem Tod passiert, nicht wahr?!

    1. Nichts ist zwar wenig, aber nach einem erfüllten Leben ist doch die Aussicht auf ein Ende auch irgendwie tröstlich. Es kann ja nicht ewig weitergehen. Will man doch auch gar nicht. Bis in alle Ewigkeit auch noch im Jenseits mit den nervigen Kollegen kegeln oder die Idiotien von Trump und Co. verfolgen möchte ich jedenfalls auch nicht.

    2. Bis in alle Ewigkeit weitergehen muss es wirklich nicht. Und die Zukunft miterleben muss auch nicht unbedingt sein. Ich finde man sollte genauso wenig der Vergangenheit hinterherrennen wie zu viele Zukunftsträume haben. Sonst verpasst man ja doch nur das ‚Hier-und-jetzt‘ und ist schon wieder unzufrieden. Nichts geht über den Moment.

  3. Man lebt nicht nur FÜR die Illusion, sondern auch IN seiner eigenen Illusion, nicht wahr?! Wir bilden uns doch alle unsere eigene Wirklichkeit. Echte Gemeinsamkeiten gibt es doch gar nicht. Alles ist durch unseren eigenen Charakter, durch unser Sein gefiltert. Deshalb sind Gespräche ja auch so mühsam. Weil man sich nie wirklich gegenseitig verstehen kann. Man kann’s lediglich versuchen. Solang man noch jung und motiviert und hoffnungsvoll ist…

  4. Richtig: Das Gewesene — „ich war mal hübsch“ usw. — mit hineinnehmen in die Gegenwart, die so selbst verhübscht wird.
    Gehbehindert? Die Worte und Wortspiele laufen desto besser…

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