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Fast am Ziel

Roter Teppich | #66

Viel eher als von mir erwartet kamen Silke und Rafał an unseren Tisch. Engelsburg und Vatikan lagen hinter ihnen, die Getränkekarte lag vor ihnen. Erstaunlich: Manche Besucher brauchen mehrere Tage, um sich Roms bekannteste Attraktionen anzueignen, manche Schaulustige nur den Reiseführer, besonders, wenn er hübsch ist. Bei Hitze macht Kultur noch weniger Spaß als bei Regen, selbst wenn ich immer noch rennen könnte wie vor zehn Jahren, also wie zu meiner Schulzeit: Ich wäre nicht hingegangen, sondern sitzen geblieben.

Fotos (2): R. S./Privatarchiv H. R.

Leben zu müssen ist nichts Erfreuliches; das behaupten nicht mal die Religionen. Deshalb stilisieren sie unser augenblickliches Dasein zur Aufgabe hin: Bewähr dich, dann geht’s dir anschließend besser! Stimmt oft, hat aber nichts mit dem Jenseits zu tun. ‚Wieso hat Gott dies oder das nicht verhindert?‘, fragen sich Gläubige, wenn etwas Schlimmes passiert ist. ‚Weil es ihn nicht gibt‘, darf der Priester nicht sagen und deshalb redet er etwas länger, wie die Politiker auch: Lügen brauchen viel mehr Worte als die Wahrheit. Trotzdem haben die als ‚Populisten‘ bezeichneten nicht recht. Politiker und Presse lügen nicht, sie verschweigen bloß. Das ist auch richtig so, nur peinlich, wenn es rauskommt. Ich fürchte, und es macht mir keinen Spaß, das zu sagen, dass die Ränke schmiedenden Intriganten der Welt weniger Schaden zugefügt haben als die unbeirrbaren Ideologen. Wenn die es bis zur Macht geschafft haben, dann haben auch sie immer begonnen zu lügen, meist auch zu morden, in Notwehr natürlich, weil das Glück der Menschheit in Gefahr war. Und wenn es nicht geklappt hat? Die Konterrevolution gegen die Konterrevolution der Konterrevolution ist moralisch immer gerechtfertigt, sagen die, die übrig bleiben. Die Politik verträgt nur ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit, und die Geschichte ist dazu da, ihr das übelzunehmen.

Fotos (3): R. S./Privatarchiv H. R.

Da saßen wir auf einem der wieder mal schönsten Plätze der Welt, und immer wenn mir wieder mal ein paar Selfie-Touristen den Blick auf Borrominis Vierströmebrunnen versperrten, nahm ich das wieder mal zum Anlass, mich über alle zu ereifern, die ich für dümmer hielt als mich. Donau, Nil, Ganges, Rio de la Plata.

Fotos (3): R. S./Privatarchiv H. R.

Selbstgefälligkeit ist eine der wenigen Freuden, die das Alter erträglich machen: So wie die Unsicherheit Teil der Jugend sein sollte (sonst läuft etwas verkehrt), sollte die Besserwisserei Teil der Altersbelustigung sein (sonst ist es schade). Mich wird der Zweifel bis zu meiner letzten Erdensekunde begleiten, einen zuverlässigeren Partner habe ich nie gefunden. Das einzig Schlimme am Totsein ohne transzendente Fortsetzung ist, dass man nicht mehr sagen kann: „Ätsch, ich hab’s doch gleich gewusst!“ Diese unweigerliche Triumphlosigkeit der besserwisserischen Agnostik versaut einem den Gedanken an das Lebensende ziemlich.

Fotos (3): R. S./Privatarchiv H. R.

Wir verließen den Platz gegen zwei und nahmen eine Taxe zum Pincio, auch einer der schönsten Plätze der Welt, jedenfalls für mich: Lieber gucke ich von oben auf die Piazza del Popolo, als dass ich da unten stehe, aber wir gingen in die entgegengesetzte Richtung.

Fotos (2): R. S./Privatarchiv H. R.

Das erste Haus in Roms Stadtpark, der Villa Borghese, ist die Casina Valadier, benannt nach ihrem Architekten, der sich ziemlich viel Zeit ließ: Von 1816 stammen die Pläne, 1837 war das Gebäude fertig. Sogar die Elbphilharmonie wurde schneller eingeweiht. Schon in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Villa zu einem Restaurant gemacht. Ob sie das als Prostitution empfand? Auch nicht schlimmer, als im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt zu werden. Dann ging es hin und her, 1990 wurde das alles geschlossen. An meinem 58. Geburtstag, am 19. Juni 2004, fand die Wiedereröffnung in meiner Abwesenheit statt. Roland, Pali, Guntram und Harald waren in dieser Reihenfolge gestorben, und Irene hätte schon ein wenig überlegt, ob sie in Rom oder in Bozen ist.

Fotos (2): R. S./Privatarchiv H. R.

Der Zugang über den roten Teppich macht erwartungsfroh, falls er nicht abschreckt, was womöglich gegenüber einer unerwünschten Klientel sogar beabsichtigt ist. Ich wollte nicht oben, sondern im Garten sitzen, zumal das Restaurant im ersten Stock erst abends öffnet.

Foto: R. S./Privatarchiv H. R.

Eine ‚TripAdvisorin‘ war von dem Ambiente unten allerdings schwer enttäuscht gewesen: ‚Dort befand sich eine Terrasse, ohne nennenswerte Apartheit und niemand anderes saß dort. Es war klar, dass man uns aufgrund der (meiner)äußeren Erscheinung nicht im noblen Innenbereich haben wollte. Ich habe sehr viele sichtbare Tattoos und grünes Haar. Offenbar entspreche ich nicht der dort forcierten Zielgruppe. Ich empfand dies als sehr unverschämt, mein Geld ist nicht schlechter als das anderer Gäste. Nie wurde ich dermaßen abgefertigt ob meines Äußeren wie in der Casina Valadier.‘

Foto: R. S./Privatarchiv H. R.

Auch wir waren die einzigen Gäste, und die ‚Apartheit‘ machte uns nichts aus, sondern die Location exklusiver. Besonders hübsch waren die Toiletten, aber die Mini-Burger waren auch niedlich.

Foto: R. S./Privatarchiv H. R.

Wie sehnsüchtig habe ich in den Sechzigerjahren spät abends die Villa Borghese durchstreift; erfolglos, aber unzusammengeschlagen, was ja vielleicht bereits ein Erfolg war. Doch schon ein paar Jahre später, 1975, schrieb ich an Pali:

Ich habe mit alten Männern geschlafen und junge Frauen erregt, um mir meine Lust zu beweisen, aber irgendwas in mir muss knabenschänderisch sein, sonst würde es mich nicht so zu schmalen Brustkörben und dünnen Armen ziehen. Ich umfange gern Haut und Knochen, so wie ich Haut und Knochen war, und die Traurigkeit einer glücklichen Kindheit, und die Traurigkeit über den Verlust der Kindheit und über den Verlust der Traurigkeit gaukeln mir eine Zärtlichkeit vor, ein Strömen, das vielleicht nur Narzissmus ist. Es war unser erster Abend in der Ewigen, wir hatten im Innenhof des Lokals unter den Weinranken gegessen, die Luft würzte die ohnehin würzigen Speisen, und der Frascati gab meinen Empfindungen Aroma. An Schlafen war nicht zu denken. Irgendetwas trieb mich durch die Straßen. Und dieses ‚Irgendetwas’ war wohl als Neugier verbrämte Geilheit. Ich landete in einem Club, in dem die Schönheit der Einrichtung aus den Gästen bestand. Hungrig und unschlüssig stand ich am Tresen. Aber das Angebot, obwohl nahezu unter sich, forderte seinen Preis. Das war natürlich ein Schock. Ich zahl doch nicht! Mein Ruf und so weiter. Die wunderschönen, stolzen Römer, so stolz, dass sie sich lieber bezahlen lassen und hetig vorkommen, als etwas umsonst zu tun, was ihnen dann doch Spaß macht. Deren Ruf und so weiter. Ich rechnete im Stillen schon mit finanziellen Offerten an mich, aber nein, Angebote nur von Ausstellern, ich war sofort als Käufer enttarnt.

Geld, auch wenn man es nicht hat, wirkt ernüchternd. Und meine romantischen Vorstellungen von Glutäugigkeit, Sehnigkeit und Cäsarentum passten nicht recht zu dieser geschäftstüchtigen Willigkeit. Nun half allerdings auch, dass ich wie üblich nur das Geld für zwei Drinks bei mir hatte: eine Mischung aus Geiz und Vorsichtsmaßnahme. Das hielt mir nach einer Weile ihre Leiber vom Leibe, auch wenn sie traurig schienen. Verständlich, schwul oder nicht schwul: Es schläft sich schon netter mit mir als mit einem zahlungskräftigen Fettwanst. Die Touristen, wenig ehrbare Kaufmänner, kicherten mir ihr Einverständnis zu und fragten mich: „Why not join our party?“ Aber ich machte mich wieder mal auf dem verkehrten Bein gemein und ließ mir auf dem Klo die Tarife erklären. 20.000 Lire galt wohl als Einheitspreis. Womöglich gewerkschaftlich abgesichert. Ich hatte nicht mal 2.000 und hätte ich sie gehabt, hätte ich sie nicht ausgegeben.

Ich ging. Aber ein besonders Glutäugiger, besonders Sehniger, besonders Cäsarischer kam hinter mir her und nahm mich am Arm. Ich fühlte mich mehr als nur an den Arm gefasst, und unangenehm war es mir auch nicht. Er wollte mir das Geld stunden. Morgen könnte ich zahlen. Unter Freunden gelte ein Wort. Er nahm meine Hand und schüttelte sie. Offenbar waren wir handelseinig geworden. Aber ich hatte doch noch gar nichts gesagt. Vielleicht, wie ich nichts gesagt hatte … Ich war gerührt, von diesem Vertrauen. Aber vor allem war ich natürlich brünstig. Und während in meinem Hotelzimmer schon Harald von der Fraulichkeit der Serviererin träumen mochte und der Cäsarische bei redlichen Leuten zur Untermiete wohnte, fanden wir uns schließlich im Park der Villa Borghese wieder. Na, Rom wird auch darüber hinwegkommen. Ich schon schwerer. Die Art, wie er sich abfertigen ließ, die aufmerksame Unbeteiligtheit, entsetzte mich. Aber ich fand keinen Weg, ihn aufzutauen oder selbst aufzuhören. Pinienduft tränkte die Nacht. Eine Flasche ‚Acqua di Selva‘ sinnlos verschwendet. Entgeistert und elektrisiert nahm ich mir, wofür ich bezahlen sollte, und er wachte über mein Tun und das der Polizeistreife in der Ferne.

Fotos (2): R. S./Privatarchiv H. R.

Bis dahin. Der Brief geht noch endlos weiter, aber Silke und ich nahmen eine Taxe zurück zum Hotel. Zu Fuß ist der Weg kürzer. Wenn ich die Kraft hätte, mich zum Laufen zu zwingen – was wäre dann gewonnen? Selbstvertrauen am Ende oder die Bahre auf halber Strecke? Der Fahrstuhl ist gängiger als der Rollstuhl, und das Bett ist anheimelnder als die Terrasse, solange die Sonne wütet. Ab fünf ist es dann draußen auszuhalten. Da sitze ich dort oben, tief in Rom, und ich denke vor mich hin.

1984 hatte ich gar nicht nach Rom gewollt, sondern nach Kairo. Das wurde 1 722 Jahre später gegründet als Rom, nämlich 969 n. Chr. von Dschauhar as-Siqillī, und wäre mal etwas anderes gewesen als das ewige Italien. Eigentlich hatte ich Kairo sowieso nur als Ausgangspunkt einer Flussfahrt nach Luxor geplant, möglichst ohne Agatha Christies ‚Tod auf dem Nil‘. Irene hatte mich zu Bernstein-Aufnahmen nach Tel Aviv begleitet, und vor Bernsteins nächstem Auftritt in Florenz gab es eine Woche Pause, in der Geschichtsbewusstsein und Gemüt bedient werden sollten, aber eine Sitzplatzgarantie für den Flug von Tel Aviv nach Kairo konnte ich nicht bekommen. Der Flug sei ‚vielleicht‘ ausgebucht. Ein Flug ist ausgebucht oder nicht, argumentierte ich, kam aber nicht weiter. Die Nilfahrt auf dem Luxusdampfer mit Übernachtungen war teuer. Ich mochte nicht riskieren, dass die Tickets verfielen, weil wir nicht von Tel Aviv weggekommen wären und hatte umgebucht auf Rom.

Unsere Alitalia-Maschine flog zur selben Zeit wie die Egyptair nach Kairo, und so machte ich mir den Spaß, zum fünfzig Meter weiter gelegenen Schalter zu gehen und zu gucken, wie viele Menschen denn wirklich von Israel nach Ägypten wollten: Da saßen zwei Herren im Anzug (Geschäftsleute, Diplomaten?) – das war’s. Ich habe mir seither meine Hasenfüßigkeit immer wieder mal übelgenommen. Es hätte doch problemlos geklappt! Nun werde ich nie auf dem Nil gewesen sein, aber manchmal denke ich: „Wenigstens eines dieser Erlebnisse weniger, die ich nun nicht mehr teilen kann.“ Erinnerungen ohne den Menschen, mit dem man sie gemeinsam geschaffen hat, verlieren an Wert. Der Tod lässt uns zurück, allein, und die Erinnerungen schmecken wie schal gewordener Wein. Oder sie werden besonders kostbar. Ein zerfließender Harzer – spezieller Genuss oder reif für den Müll. Käse, Käse.

Rom war nicht Afrika, aber auch schön, 1984. Mal regnete es, mal nicht. Ein Ausflug ans Meer, ein Blick in die Schaufenster. Das Schönste am Wiederkommen ist, dass man sich nicht mehr zwingen muss, Sehenswürdigkeiten zu studieren. Diesen Vorteil hätten wir in Luxor nicht genossen. Ein Ausschnitt meiner festgehaltenen, festgefahrenen Erinnerungen ist hier zu besichtigen:

6 Kommentare zu “Roter Teppich | #66

  1. „Lügen brauchen viel mehr Worte als die Wahrheit. Trotzdem haben die als ‚Populisten‘ bezeichneten nicht recht.“ Das Wort zum Mittwoch! Welch Glück, dass die Holländer das auch rechtzeitig eingesehen haben. Geert Wilders hätte neben all den Angstmachern vom Kaliber eines Trump oder Erdogan gerade noch gefehlt.

    1. Auch wieder wahr. Trotzdem beruhigend, dass die Mehrheit der Niederländer diesen populistischen Unsinn durchschaut hat.

  2. Erinnerungen verlieren mit der Zeit an Würze und werden immer schwammiger. Anders sieht es mit besonders reifem Käse aus. Der gewinnt mit zunehmendem Alter tatsächlich an Charakter und Aroma. Verklärte Erinnerungen können natürlich trotzdem manchem Zeitgenossen angenehmer sein als die Wucht eines fast zerfließenden Bleu d’auvergne. Alles ist Geschmacksache.

  3. Manchmal ist Reden Silber und Schweigen Gold. Das gilt, so finde ich, in besonderen Situationen durchaus auch für die Presse. Aber auch für unzählige überflüssige Tweeds und Facebook-Müll, die tagtäglich um Follower und Likes buhlen und von wirklich wichtigen Dingen ablenken. Ganz schlimm finde ich es, wenn derartige Überflüssigkeiten in den Medien auch noch eine Plattform finden.

    1. Naja, das muss man aber schon etwas differenzierter sehen liebe Frau Schön. Selbstredend findet sich in sämtlichen sozialen Netzwerken massenweise Informationsmüll, Fake News und irrelevantes Zeugs. Trotzdem agieren Twitter und co. natürlich auch als Nachrichtenkanäle bzw. dienen den traditionellen Medien als Zulieferer. Wenn beispielsweise ein amerikanischer Präsident über Twitter Politik macht, gehört dies selbstverständlich in die abendlichen TV-Nachrichten. Die Fülle an Informationen macht es schwieriger zu filtern was wirklich wichtig ist. Da haben Sie recht. Das liegt allerdings weniger an den sozialen Netzwerken als solchen, sondern vielmehr an den Menschen, die diese nutzen.

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