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Rundbriefe

Betrifft: Ad nauseam

Liebe Leserinnen und Leser,

Corona – ich kann’s nicht mehr hören! Corona: Ich kann kaum noch was anderes hören. Sobald ich meine Kopfhörer abnehme, beschallt mich nicht mehr meine Lieblingsmusik, sondern der Corona-Chor. Ich versteh’ die Leute nicht. Wahrscheinlich habe ich sie nie verstanden, ist mir aber erst jetzt so richtig aufgefallen.

Am Sonntag, dem 17. Oktober, kam ich nach drei (herrlich ignoranten) Monaten aus Italien zurück. Am Montag hatte ich einen Termin bei meinem Hausarzt. Am Dienstag war ich zum dritten Mal geimpft, ohne bereits zu wissen, dass ich nun ‚geboostert‘ bin. Inzwischen weiß ich: Wer nicht abgeboostert ist, ist angeschmiert.

Vielleicht habe ich einen besonders engen Kontakt zu meinem Hausarzt. Aber vielleicht beschränke ich meinen Wahnsinn einfach aufs Kreative und bin im Alltäglichen ganz vernünftig. Wenn es einen neuen Impfstoff gibt, dessen Wirkung mich betrifft, greife ich sofort zu. Gegen Malaria muss ich mich nicht impfen lassen. Die Anopheles-Mücke lebt in anderen Gegenden als ich das tue. Einen Impfstoff kontra Widerwillen gegen das abendliche Zähneputzen würde ich mir sofort spritzen lassen. Bei einem Impfstoff gegen abendliches Schokolade-Essen müsste ich erst nachdenken.

Ich hätte im Falle meiner Kanzlerschaft, kaum, dass der Impfstoff da war, unverzüglich eine Impfpflicht angeordnet und die Gerichte mit ‚nationalem Notstand‘ mundtot gemacht. Dann wär’ jetzt Ruhe. Die Prozesse wegen des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit würde ich seelenruhig aussitzen: bin ja im Ruhestand. Derweil können die unversehrten Kläger*innen krepieren.

Die Regierung hat schlechtes Marketing gemacht? – Kann nicht jeder selbst so verantwortungsvoll handeln, dass kein Marketing nötig ist? Werbung braucht man – außer in Lockdown-Zeiten – für saugfähiges Klopapier, nicht für Personalausweise oder Auto-Kennzeichen. Die Leute haben Angst vor einem Pikser (Bill Gates, Unfruchtbarkeit und so). Schade, dass die den Krieg nicht mehr erlebt haben. Da hätten sie lernen können, was berechtigte Furcht ist. Das Volk fürchtet sich heute vor jedem Dreck. Alles soll der Staat machen und mich gleichzeitig in Ruhe lassen. Vor Cannabis muss man sie bewahren, finden 70 Prozent der Deutschen, vor Corona nicht, finden 30 Prozent.1 – Gott, war das schön in Italien! Da hat Draghi richtig durchgegriffen.

Vorhin schrieb mir mein Freund Yasuo aus Japan: In Tokio gibt es heute fünf Corona-Fälle. – FÜNF! Asiaten sind eben disziplinierter, Europas Südländer offenbar auch. Der Katholizismus erzeugt eindeutig eher ein Gemeinschaftsgefühl als der Individualismus. Obwohl: Gerade die katholischen Österreicher sind im Lockdown. Die gespaltenen Deutschen blicken beidseitig der Kimme noch ins Regierungsloch. Im September hieß es: Covid – Abschied. Im November nun: drei Ge! – Ach nee! ‚Konnte man vorher nicht wissen‘ – außerhalb des Regierungsviertels schon. Inzwischen bezweifle ich, dass sich die Hinterbliebenen meinem Sarg ohne Maske werden nähern dürfen. Selbst wenn ich hundert werde. Die nagelneue Südafrika-Variante Omikron wird’s schon richten.

Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, hat gesagt, Joshua Kimmich sei falsch informiert. Daraufhin brach in den sozialen Medien ein Wut-Gewitter über Buyx herein. Die Kimmich-Unterstützer – vom einfachen Fan bis zum aggressiven Querdenker – werfen Buyx vor, ‚stur‘, ‚skrupellos‘, ‚unmoralisch‘ und ‚regierungshörig‘ zu sein, sie sei eine ‚Oberlehrerin‘ und eine ‚Schande für echte Humanisten‘. Eine Umfrage besagt, dass 15 Prozent der Wissenschaftler, die sich öffentlich zu Corona äußern, Morddrohungen erhalten, 22 Prozent der Befragten berichteten über Gewaltandrohungen. Nun hat Kimmich Corona, und wenn er nicht daran stirbt, sagen die Impfgegner: „Siehste!“

Auch ich bin ganz zufrieden. ‚Fortschritt wagen!‘ – Wohlfeile Überschrift. Keine Steuererhöhungen, keine Geschwindigkeitsbegrenzungen. FDP bestimmt die Finanzen. Die Ampel steht auf Gelb. Weder Stop noch Go; die richtige Position für ein gespaltenes Land.

Vielleicht haben die Menschen sogar im Biedermeier gedacht, sie lebten in einer total verrückten Zeit. Gespalten war die Gesellschaft damals zweifellos: Liberale, Monarchisten. Heute dürfen die Idioten mit den durchgeknalltesten Ideen auf die Straße gehen. In Holland und Belgien tobte der Mob. Das Demonstrationsrecht liebe ich genauso sehr wie die Wasserwerfer. Wasser ist kostbar. Jauche ist billiger.

In meinem Blog sehen wir die Spaltung zwischen Büro und Bohème Satz für Satz. Ob das gut geht?

Skeptisch,
Hanno Rinke



1Quelle: Laut ‚Handelsblatt‘ vom 25.11.2021 sind 30 Prozent der Deutschen für Legalisierung von Cannabis; laut ‚taz‘ 30 Prozent der Deutschen ungeimpft.
Cover mit Material von Julian Hochgesang/Unsplash (Auto) und Shutterstock: Rejean Bedard (Möwe), Alliance Images (Frau), stockyimages (Mann), Vereshchagin Dmitry (Kreuzfahrtschiff), steamroller_blues (Collie)

24 Kommentare zu “Betrifft: Ad nauseam

  1. Ich verstehe auch nicht woher auf einmal diese große Impfdiskussion kommt. Bisher hat man sich doch auch impfen lassen um sich vor schlimmen Krankheiten zu schützen. Was ist auf einmal anders?

    1. Dass gerade die sonst als langweilig und ordentlich geltenden Deutschen so eine schlechte Impfquote haben bleibt mir auch ein Rätsel.

      1. Es gilt heutzutage eben auch als Freiheit auf eine Impfung zu verzichten und möglicherweise am Virus zu sterben. Nur dass man dabei gegebenenfalls Intensivbetten belegt und andere Menschen auch noch in Not bringt, dafür fehlt mit jegliches Verständnis.

      2. Sich schädlich zu verhalten und dabei noch wie ein(e) Freiheitsheld(in) vorzukommen, das ist in der Menschheitsgeschiche nichts Neues. Dabei Dummschwätzern auf den Leim zu gehen – auch das gab es immer schon. Im Digitalen ist die Menschheit lernfähig, im Analogen offenbar nicht.

      3. Man dachte ja vor ein paar Jahren noch, dass wir durch das Internet vielleicht schlauer würden. Mittlerweile hat man eher das Gefühl, dass die Menschheit eher schneller verblödet.

  2. Die Ampel ist tatsächlich erstmal gelb. Wer hätte gedacht, dass gerade die FDP es schafft sich so präsent in das Koalitionspapier zu bringen.

    1. Wenn die Grünen sich nicht stark in die Regierung einbringen, dann wird das böse für sie enden. Gerade wo viele so große Hoffnungen in eine grüne Beteiligung gelegt haben.

      1. Der Wechsel ist nach 16 Jahren nötig. Ich freue mich über neue Impulse von der kommenden Regierung.

  3. Haben die Leute wirklich Angst? Also eher vor einem Piekser und den ungewollten Nebenwirkungen als vor Omikron-Corona?

    1. Die immer neuen Mutationen machen mir auch Angst. Weitaus mehr als irgendwelche Langzeitwirkungen einer Impfspritze. Keine Frage.

      1. Als es die ersten HIV-Medikamente gab haben sich die Betroffenen darauf gestürzt. Endlich gab es eine Chance auf ein normales Leben. Die ständige Angst unter den Gesunden sich anzustecken und sein Leben zu riskieren wurde langsam kleiner. Großes Aufatmen. Kein direkter Vergleich, nur ein Besipiel. Trotzdem. Zum Thema COVID müssen Kimmich und andere querdenkende Menschen erst einmal schauen was die Langzeitstudien sagen. Vielleicht ist COVID ja doch noch besser als was mit einer Impfung auf einen zukommen würde. Es geht nicht absurder.

      2. Vor Aids hatte ich wirklich Angst. Vor Corona fühle ich mich geschützt. Vielleicht müssen wir uns von nun an jährlich gegen die neuen Varianten impfen lassen. Lästig, aber in den Griff zu kriegen. Haben schon alle Biontech-Aktien?

      3. Wenn das erste Omikron-spezifische Vakzin auf den Markt kommt schnellt die bestimmt noch einmal nach oben…

  4. Schlechtes Marketing würde ich das gar nicht nennen. Für eine Schutzimpfung sollte ja auch gar keine Werbung nötig sein. Wie im Rundbrief ja auch angemerkt. Was man ihr vorhalten kann ist, dass sie planlos agiert hat. Und teilweise immer noch planlos agiert. Da sollte man als Bürger ja teilweise verantwortungsvoller agieren als von der Regierung empfohlen.

      1. Dass Scholz gleich mit einer Impfpflicht vorprescht, hat mich überrascht. Sollen sie mal machen. Über zu viel Tatendrang will ich mich erstmal nicht beschweren.

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