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Sprünge von Türmen  —   3. Kapitel: DER UNTÄTER

DER UNTÄTER – Schmelzen wie Schnee | #1

Was bleibt, ist der Tod und immer wieder der Tod. Er macht das Unendliche endlich, das Unerträgliche erträglich, das Ungreifbare fassbar, selbst ungreifbar wie die Stille, die ihn umgibt. Schrecken, vor dem wir fliehen, in den wir flüchten, wenn alles von uns abgleitet wie Schläge auf einen leblosen Körper. Was bleibt, ist dann nur noch der Tod.

Als ich zu spüren begann, dass die Katastrophe unabwendbar hereinbrechen würde, fing ich an, meine Vorbereitungen zu treffen. Ich war nicht der Mensch, der abwartet und hofft, an ihm würde der Kelch vorübergehen. Ich war es gewohnt, mich zu wehren, loszuschlagen, lieber zu früh als zu spät.
––Wenn sich der Feind endlich zeigt, ist er fast schon besiegt. Aber er zeigte sich nicht.
––Was ich wahrnehmen konnte, war eher die Ahnung eines Gefühls als eine beschreibbare Empfindung. Etwas wölbte sich über mir wie eine riesige, unsichtbare Grotte, die mit der Zeit schrumpfen würde, so lange, bis ich völlig isoliert wäre, gefangen, ohne Zugang zu irgendetwas, das außerhalb meiner selbst lag, der Möglichkeit beraubt, mich zu bewegen, zu atmen. Eingekreist. Schon in diesem frühen Stadium wusste ich also, dass meine Freiheit auf dem Spiel stand.

Wir waren zu viert: Sybille, Regina, Andreas und ich.
––Den Namen Regina mochte ich aus irgendeinem Grund nicht, das Mädchen, das sich hinter diesem Namen verbarg, oder genauer gesagt, zur Schau stellte, mochte ich umso lieber.
––Sybille sah auch gut aus, aber sie gehörte eher zu Andreas, wenn man das so genau trennen will.
––„Wir sind nur gute Freunde!“, das war unsere ständige Redensart. Dabei lag das Einschränkende offenbar in dem ‚gut‘, das zwar ursprünglich verstärkend gemeint schien, aber mit der Zeit zu einer unzureichenden Rechtfertigung unseres Zusammenseins herabgesunken war. Immerhin war unsere Freundschaft fest genug, um nichts anderes daneben gelten zu lassen, keinerlei Schranken voreinander zu kennen und mit den Mädchen auf eine Art zu verkehren, die nur bei den Pharaonen als geschwisterlich gegolten hätte.

„Ich habe mir den Rock doch gekauft“, sagte Regina, fast ohne Trotz.
––„Den gelben?“ Sybille richtete sich auf.
––Regina öffnete kurz die Augen. „Ja“, sagte sie.
––Wir lagen alle vier nackt nebeneinander.
––Zu beiden Seiten zog sich endlos der menschenleere Strand hin. Vor uns rauschte das Meer diskret. Hinter uns wölbten sich schützend die Dünen. Unter uns der sonnendurchglühte feine Sand, über uns der blechern heiße Himmel. Die Sonne zog von Osten nach Westen über uns hinweg. Der Wind zog von Westen nach Osten und verband uns durch seine Berührung. Es war Mittag.
––„Du bist verrückt!“ Sybille lachte, und in ihrem Erstaunen schwang eine Spur von Bewunderung darüber, dass Regina es gewagt hatte, sich über ihr Urteil hinwegzusetzen. „Du siehst unmöglich damit aus. Völlig unproportioniert!“
––„Ich finde, er steht mir ganz gut.“
––„Wann willst du ihn denn überhaupt tragen? Mit uns kannst du dich nirgendwo sehen lassen, wenn du ihn anhast. Er ist schlimmste Provinz.“
––„Nun reg dich nicht auf! Es ist doch nur gut, wenn du einmal nicht in meinem Schatten stehen musst!“
––Andreas sprang auf. „Ach, das ist schön! Gleich schlagt ihr euch!“, schrie er anfeuernd. „Wir wollen sehen, wie ihr euch blutig kratzt.“ Er stieß einen verzückten Schrei aus und sprang mit angewinkelten Beinen in die Luft. Dann ließ er sich mit leicht vorgestreckten Armen platt in den Sand fallen.
––Sybille strich Regina lässig übers Gesicht. „Wir denken gar nicht daran“, sagte sie mit spöttischer Zärtlichkeit.
––„Nein“, antwortete Regina und wandte sich Sybille zu. Sie rieb ihre Nase an Sybilles. „Dazu lieben wir uns viel zu sehr“, und während sich ihre Gesichter flüchtig aneinanderrieben, ließen sie beide ein sanftes, hingebungsvolles Summen hören.
––„Werdet nicht albern, sonst denken wir schlecht über euch!“, rief Andreas und warf eine Handvoll Sand nach ihnen.
––Sie stoben auseinander. „Du Schwein!“ Vereint schleuderten sie ihm mit beiden Händen Sand ins Gesicht.
––Er warf sich lachend auf den Bauch, streckte die Hände vors Gesicht und zappelte mit den Beinen.
––„Christian, hilf mir doch! Hilf deinem einzigen Freund!“ Aber er wartete nicht auf meine Hilfe, sondern warf sich über Sybille, die wild zu strampeln begann.
––„Du Tier! Man vergewaltigt keine Dame, wenn sie nackt ist!“ Regina stand ruckartig auf, stieß mich mit dem Fuß und forderte mit weinerlicher Stimme: „Ich will auch vergewaltigt werden!“
––Ich blinzelte kurz und sah ihren Kopf, umgeben von gleißendem Blau. „Ich kann nicht! Ich habe gestern zu viel getrunken“, sagte ich träge und drehte mich auf den Bauch.
––Sie stützte sich auf meinen Schultern ab und küsste mich auf den Nacken. „Wenn ich dich aber so lieb bitte“, raunte sie gedehnt und biss zu.
––Ich ließ keine Regung merken. „Sex ist schmutzig“, sagte ich, ohne nachzudenken.
––Andreas ließ augenblicklich von Sybille ab. „Kann ich dich auch nicht reizen?“, fragte er mit bebender Stimme.
––„Doch, du natürlich“, antwortete ich lustlos, „aber du willst mich ja nicht!“
––Er sprang auf. „Nur dich!“, rief er, packte mich bei den Füßen und schleifte mich ans Wasser.
––Die Mädchen waren begeistert. „Ja, das ist gut!“ Jede von ihnen packte mich an einem Arm, und so schwenkten sie mich eine Weile lachend durch die Luft.
––„Das macht frisch und munter und mannbar!“, rief Regina.
––Dann ließen sie mich mit einem wilden Aufschrei ins Wasser fallen.
––Ich stützte mich zwar, so gut es ging, mit den Armen ab, trotzdem drang mir das Salzwasser in Augen und Nase.
––„Ihr seid so langweilig!“, schrie ich wütend und klatschte mit der flachen Hand gegen eine Welle.
––Sie wurden plötzlich still und sahen mich verblüfft an.
––Das machte mich verlegen. Ich stand langsam auf und brummte: „Aber ich bin natürlich auch nicht viel besser.“
–– Sybille und Andreas lachten erleichtert und liefen Hand in Hand zu unserem Liegeplatz zurück.
––Regina kam auf mich zu, umarmte mich und sagte, während sie sich verträumt an meinem Hals hin und her wiegte: „Alle anderen Menschen sind noch viel, viel langweiliger.“

„Mein Nagellack ist weg!“, schrie Sybille aufgeregt.
––„Alles ist voll Sand. Meine Sonnenbrille ist sicher ganz zerkratzt“, sagte Andreas, während er die Gläser prüfend in die Luft hielt.
––„Es war eine so tolle Farbe“, jammerte Sybille und fuhr mit den Fingern planlos im Sand herum.
––„Such nicht so lange! Unglück macht hässlich. Ich kauf dir nachher einen neuen“, sagte Andreas gleichgültig.
––„Den gibt es nicht fertig. Das war eine Mischung.“ Sybille war ganz verzweifelt.
––„Sieh doch mal in deiner Tasche nach!“, sagte Andreas. Seine Stimme klang zufrieden, denn er hatte festgestellt, dass die Sonnenbrille nicht gelitten hatte.
––„Oh, du bist ein Engel!“ Sybille ließ das Fläschchen achtlos in die Tasche zurückgleiten und fiel Andreas um den Hals. „Du hast immer so fabelhafte Ideen!“
––Er lächelte geschmeichelt. „Und meine neueste Idee ist, jetzt ins Wasser zu gehen.“
––Regina ließ mich los. „Wir schwimmen um die Wette“, schrie sie und stürzte sich mit einer ungestümen Bewegung in die Wellen.
––„Gut“, sagte Andreas überlegen, „aber nicht, wer am schnellsten ist, sondern wer sich am weitesten hinauswagt, hat gewonnen.“
––„Das mache ich nicht mit“, verkündete Sybille und begann, mit ruhigen Stößen davonzuschwimmen.
––Ich schwamm in einiger Entfernung hinter ihnen her.
––„Scheinbar habe ich schlechte Laune“, dachte ich unwillig. „Warum eigentlich? Es ist eine so unnütze Vergeudung, sich angenehme Tage zu machen und sie nicht zu genießen. Ich könnte unter diesen Umständen genauso gut arbeiten. Die Sonne scheint warm. Das Meer und das Leben liegen ausgebreitet vor mir und warten nur darauf, durchschwommen zu werden. Nichts braucht mich zu sorgen, nichts zu ärgern. Woher kommt dieser kleine, schwarze Punkt, dieser lästige, störende Fleck, der sich weder deuten noch verscheuchen lässt?“
––Die anderen warteten auf mich.
––„Gleiche Chancen für alle“, sagte Andreas.
––Unsere Spiele nahmen wir immer ernst. Nun schwammen wir gemeinsam hinaus. Wir redeten kaum. Der Horizont blieb weit und unerreichbar, doch wir spürten den wachsenden Abstand zum Land.
––Sybille gab als Erste auf: „Mir reicht’s! Dasselbe noch mal zurück. Dann hab ich genug.“
––Regina schien erleichtert, dass sie so lange durchgehalten hatte. Sie schwamm noch ein paar Stöße und sagte dann zufrieden: „Ich kann sie nicht so allein lassen!“
––Zu zweit setzten wir unseren ziellosen Weg fort, schweigend und gelähmt durch die Gleichförmigkeit der Bewegungen.
––Nach vielleicht zehn Minuten hörte ich undeutlich Andreas Stimme: „Wir sollten auch zurückschwimmen.“
––Ich beachtete ihn nicht. Für mich gab es nur noch die verschmelzende Unendlichkeit von Fläche zu berühren, zu begreifen, zu durchqueren. Diese grenzenlose, bebende, schimmernde Weite war meine Dimension, die ich umfasste, in der ich aufging. Glück und Schmerz flossen zusammen im Jubel, der Welt entkommen zu sein. Sehnsucht ergriff mich, reglos zu verharren, aufzugeben in geometrischer Ruhe, in der Ausgewogenheit von Licht und Form, einzugehen in die Abstraktion dieser stummen Bewegung und hinabzusinken auf den Grund, wo alles ruht, auch der Wille zu wissen. Mein Kopf tauchte hinab. Ich passierte die Grenze von Licht und Wasser. Meine Augen schlossen sich. Meine Atmung stand still. Druck legte sich auf mich, und ich glitt tiefer hinab in Stille und Einsamkeit. Den lautlosen Grund tasten, seine Dunkelheit fühlen, sonst nichts. ––Gegen meinen Willen wurde ich wieder nach oben gedrückt.
––Ich wehrte mich, kämpfte. Vergeblich. Ich schoss zurück in Helligkeit und Lärm.
––„Was ist los?“ Andreas packte mich am Arm. „Ist dir nicht gut?“
––„Doch“, sagte ich gelassen.
––Er sah mich misstrauisch an. „Komm, wir wollen umkehren!“ Während er mich noch immer besorgt im Auge behielt, machte er eine Wendung.
––Ich folgte ihm wortlos.
––Das Land kam näher und mit ihm die Erschöpfung.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nora_n_0_ra (Porträt Mann), Kateryna Tsygankova (Schwimmer)

28 Kommentare zu “DER UNTÄTER – Schmelzen wie Schnee | #1

    1. Das ist ja das spannende an dieser ganzen Gruppe von Turmspringern, bereits angefangen beim Vater. So richtig sympathisch war da bisher niemand.

      1. Man ist ja gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Langweilig sind diese Herrschaften jedenfalls beileibe nicht.

    2. Klingt in der Tat sehr anstrengend. Dieses halb scherzhafte, halb mahnende „sonst denken wir schlecht über euch“ kenne ich aus dem etwas weiteren Freundeskreis. Also zumindest diese Stimmung. Ich denke immer, dass so etwas weniger scherzhaft gemeint ist, als es verkauft wird.

    1. Manchmal kann ja etwas nicht zu tun ebenso schicksalsträchtig sein wie etwas zu tun. Untätigkeit wird dann quasi von selbst zur Untat. Also doch alles in einem 😉

      1. „Wer das Böse ohne Widerspruch hinnimmt, arbeitet in Wirklichkeit mit ihm zusammen.“

  1. ‚Der Welt entkommen‘ taucht so oft als Ziel auf, in Romanen genau wie in Meditationskursen 😉 Man sollte viel mehr Energie aufwenden an dieser Welt etwas zu ändern.

      1. Wirklich? Die einen sind aus der DDR geflohen, die anderen blieben und wollten etwas ändern. (Allerdings nicht den Anschluss an die Bundesrepublik vorbereiten.)

      2. Na aus der DDR fliehen ist ja noch einmal etwas anderes als der Welt entkommen zu wollen. Ich meinte auch nur, dass man erst einmal dieses Gefühl braucht, dass die Dinge so wie sie sind nicht stimmen.

  2. Tja „warum eigentlich“ hat man schlechte Laune? Die Frage habe ich mir schon so oft gestellt. Vor allem wenn man morgens schon schlecht gelaunt aufwacht und wirklich keinen guten Grund finden kann.

      1. Kommt drauf an wie schlecht die Laune ist. Wenn man eh nichts erledigt kriegt, dann ab ins Bett. Solange man die Zähne zusammen beißen kann und den Schweinehund mit Leckerli besänftigen kann, ab zum Zug.

    1. Aber da dieser Christian ja eher untätig ist und da im letzten Teil der Erzählung eben auch noch die Tochter zu Wort kommen wird glaube ich eher, dass der besagte Sprung noch etwas zu warten hat.

    1. Also die Erzählung ist sicher nicht dokumentarisch, aber das meinten Sie wohl auch nicht. Im echten Leben ist bestimmt jeder Satz schon einmal gefallen. Wirklich originell kann man nach mehreren tausend Jahren Leben auf der Erde sicher nicht mehr sein 😉

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