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Sprünge von Türmen  —   3. Kapitel: DER UNTÄTER

Schmelzen wie Schnee | #11

Die folgende Zeit war das über Wochen verteilte Erwachen aus einer Narkose, nur dass alle Symptome der Genesung in ihr Gegenteil verkehrt waren: Meine Unsicherheit kehrte zurück.
––Ich gewann neues Zutrauen zu meiner Schwäche. Meine Unausgeglichenheit und all die zahllosen, abschattierten Spannungszustände zwischen geschlossener Gerafftheit und fasernder Zerrissenheit erkannte ich wieder wie gute Freunde, deren Fehler man nüchtern einschätzt, aber von denen man doch weiß, dass ihre guten Seiten überwiegen. Mich selbst erkannte ich wieder, all jene Empfindungen und Impulse, die in den ganzen Jahren kaum spürbar in mir angelegt gewesen waren. Erst im vergangenen Sommer waren sie klar hervorgetreten, und ich hatte mich mit ihnen abgefunden, ohne mir darüber Rechenschaft abzulegen. Ich wollte mit dem Material, das mir zur Verfügung stand, arbeiten. Mein Weg war vage vorgezeichnet, aber ich konnte ihn doch nach Kräften gestalten und meine Eigenschaften so einzusetzen versuchen, wie es mir am günstigsten erschien.
––Eine Bestimmung, auch wenn sie Vernichtung bedeutet, hat wie jede Gewissheit etwas Beruhigendes.
––An der Meinung der anderen lag mir gar nichts, zumindest redete ich mir das ein. Ich konnte mich nur auf mein eigenes Urteil verlassen. Ich wollte mir wieder erlauben zu leiden, aber nicht auf diese tierische, haltlose Art, die mich nur beschämt hatte, ohne mich weiterzubringen.
––Es ist gefährlich, wenn die Dinge an sich uns berauschen, sie entgleiten uns.
––Fand ich etwas, wofür sich der Einsatz lohnte, war ich gerettet, doch ich kannte nur einen Einsatz: das Leben. Dabei wollte ich meine Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber auf alle Fälle unterdrücken. Ich wollte bewusst sterben und genau wissen, wofür ich mich entschied. Ich wollte das Lachen und das Licht genossen haben, bevor ich es verließ, und ich wollte mir die Wahl nicht leicht machen. Sind Zweifel und Suche dem Menschen nicht angemessener als der Glaube, es gäbe eine Belohnung oder eine Bestrafung – danach? Mein Ziel stand mir vor Augen, doch ich brauchte noch eine gewisse Zeit, bis ich es direkt ansteuern konnte. Ich wollte das Gift des Lebens trinken, planmäßig, bewusst. Ich wollte mich ins Leben stürzen, so wie man ein Stück zurücktritt und einen Anlauf nimmt, damit man den Graben dann umso sicherer überspringen kann.

Natürlich gibt es im Allgemeinen eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, und selten läuft eine Spur so eingleisig, dass man nicht noch während der Fahrt auf einen anderen Schienenstrang überwechseln könnte. Nur läuft auch die Zeit weiter. Was man einmal unterlassen hat, kann man nicht nachholen.
––Wer sich nicht rechtzeitig entscheidet, bleibt ewig auf dem Rangierbahnhof – glaubte ich. Deshalb musste ich handeln, solange ich mich noch in der Gewalt hatte. Wenn schon ein Zusammenstoß, dann auf freier Strecke bei hoher Geschwindigkeit!
––Nun kann eine Handlung, oder genauer gesagt: eine Entscheidung, auch im Nichtstun bestehen. Es ist ein Unterschied, ob man nichts tut, weil man es will oder nichts tut, weil man nichts will.

Am vierten Advent fuhr ich zu meinen Eltern.
––Mein Bruder war über Weihnachten auch zu Hause. Er ist Rechtsanwalt. Im vergangenen Winter hatte er sich mit Hilfe meines Vaters eine eigene Praxis eingerichtet.
––Ich empfand keine besondere Zuneigung für meinen Bruder, aber da wir uns nicht verstanden, hatten wir uns darauf geeinigt, einander zu achten. Menschen, zu denen man keinen Zugang hat, muss man durch Gleichgültigkeit oder Höflichkeit unschädlich machen. Im Rahmen der Familie scheint die zweite Lösung besser. Das Einzige, was mich an meinem Bruder fesselte, war Linda, seine Verlobte, die uns am zweiten Weihnachtstag besuchen kam. „Du bist eher hier, als wir dich erwartet hatten“, sagte ich, während ich ihr aus dem Mantel half. „Meine Eltern und Peter haben sich nach dem Mittag hingelegt und sind noch gar nicht wieder auf.“
––„Ja, ich bin schneller durchgekommen, als ich dachte“, antwortete sie.
––„Und deine Fahrweise ist ja gefürchtet“, sagte ich. „Komm rein!“
––Sie lachte. „Du übertreibst. – Oh, euer Weihnachtsbaum sieht wieder fantastisch aus! Hast du ihn geschmückt?“
––Ich zuckte die Achseln. „Was blieb mir anderes übrig?“
––„Letztes Jahr war er ganz anders, viel bunter“, sagte sie. „Diesmal ist er so würdevoll, ganz in Silber. Hat diese Wandlung auch bei dir stattgefunden?“ Sie lächelte.
––„Ich glaube, nicht“, sagte ich. „Würde ist etwas, worauf ich gar keinen Wert lege. Abstand, ja. Aber Würde, das ist etwas, das man zur Schau stellt, das äußerliche Abfallprodukt der Weisheit. – Aber ich will dich nicht kränken, ich weiß ja, wie sehr du an solchen Dingen hängst.“ Ich wollte sie herausfordern: „Umgangsformen in jeder Lebenslage.“
––„Was meinst du damit?“, fragte sie.
––„Na, deine Verlobung zum Beispiel“, sagte ich.
––Sie sah mich verständnislos an.
––„Liebst du Peter?“, fragte ich.
––„Ja natürlich!“ Sie klang erstaunt.
––„Warum heiratest du ihn dann nicht gleich oder lebst mit ihm zusammen? Eine Verlobungszeit ist doch etwas ziemlich Albernes.“
––„Mir liegt auch nicht viel daran“, sagte sie, „aber solange uns die Konventionen nicht schaden oder uns allzu sehr einengen, können wir sie doch mitmachen, denen zu Liebe, die darauf Wert legen.“
––„Das halte ich für verkehrt“, sagte ich. „Man erweist den Menschen keinen Dienst, wenn man mit ihnen weiter Ringelreihen tanzt. Stattdessen muss man ihnen erklären, dass es keinen Sinn ergibt, Dinge fortzusetzen, wenn sie ihre Bedeutung verloren haben.“
––„Bist du streng!“ – Ein kleiner Wink, ein großer Zaunpfahl. – „Die meisten Menschen hängen an den Maßstäben, an die sie sich gewöhnt haben. Sie stützen sich immer weiter auf ihre Normen. Umzulernen, dazu haben sie weder Zeit noch Lust. Was willst du ihnen denn anderes geben?“
––„Die Wahrheit“, sagte ich und wusste gleich, wie dumm das war. „Ich meine, man muss ihnen erklären, dass nichts allgemeingültig ist, sondern dass sich jeder für sich selbst bewusst sein muss, dass …“ Ich brach ab, weil ich nicht genau wusste, wie ich weiterreden sollte.
––„Der Wunsch, die Menschheit zu bekehren, ist der neu bei dir?“ Sie fragte es nicht spöttisch.
––Verwirrt war ich trotzdem. „Nein, nein, das will ich gar nicht. Das passt gar nicht zu mir. Ich wollte es nur dir erklären.“ Und weil mir das zu hilflos klang, setzte ich ohne rechten Bezug nach: „Ich glaube, du bist ziemlich prüde.“
––Sie lächelte. „Weil ich mich verlobt habe?“ Doch dann wechselte ihr Tonfall: „Ich glaube, ich habe bisher noch nichts gefunden, wofür es sich gelohnt hätte, meine ‚Prüderie‘ aufzugeben. Solch gute Waffe gibt man nicht kampflos aus der Hand.“
––„Und Peter?“, fragte ich.
––„Peter werde ich heiraten“, sagte sie bestimmt.
––„Du hast es gut! Du hast ein Schlupfloch gefunden, in das du kriechen kannst.“
––„Hältst du die Ehe für eine Feigheit?“, fragte sie.
––Ich war verblüfft, dass sie überhaupt auf meine Worte eingegangen war, und ich wusste nicht, ob sie mit ‚die Ehe‘ ‚diese Ehe‘ meinte. „Nein“, sagte ich, „für ein Glück. Besonders für Peter. Du bist der schönste Mensch, den ich kenne. Ich kenne, wenn auch in der Minderzahl, hübsche Frauen und gut aussehende Männer. Aber zwischen ihnen und dir besteht keine Ähnlichkeit. Begriffe wie ‚anmutig‘ und ‚edel‘ haben für mich einen unangenehmen Beigeschmack. Aber auf dich treffen sie zu. Es ist eigenartig, dass man das Schöne bewundern muss, weil man dahinter das Wahre und Gute zu sehen meint, alles Begriffe, an die ich nicht glaube und an die ich doch immer denken muss, wenn ich dich sehe.“
––„Wie ich dich kenne, Dinge, die du schrecklich langweilig findest, wie ein ebenmäßiges Gesicht ohne Ausdruck.“
––„Kann man etwas schön finden, ohne es zu lieben?“, fragte ich.
––„Erst machst du mir Vorwürfe und dann Elogen!“, sagte sie. Sie wich mir aus, aber ich war auch wirklich penetrant.
––„Aber man kann sich lösen von dem, was man liebt.“ Ich ließ mich gehen mit Worten: „Jede Trennung, jeder Verzicht ist ein schmerzlicher Akt von Befreiung. Noch in der Verzweiflung kann man es genießen, solcher Empfindung überhaupt fähig zu sein, denn sicher ist auch das eine Auszeichnung. Es macht das Leiden fast schön, und was schön ist, muss man lieben.“ – ‚Mein Gott‘, dachte ich, ‚ich liebe das Leben immer noch, nur anders, widersprüchlicher, zwiespältiger und ohne den Wunsch nach Erfüllung. Warum lasse ich es zu, dass ich mich so quäle?‘
––Linda sagte nichts, aber ihr Blick wanderte über die gediegenen Möbel hinweg in den herausgeputzten Garten, so als wollte sie sagen: ‚Du hast es gerade nötig!‘
––Und ich musste ihr recht geben.
––Oben schlug eine Tür. Schritte kamen die Treppe herunter. Peter trat ins Zimmer.
––Sie sprang auf.
––Er nahm sie in die Arme, und ich knackte eine Nuss.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nora_n_0_ra (Porträt Mann), Dean Drobot (Frau mit Champagnerglas), Seprimor (Augen), Kitti Krotsurikan (Hand mit Zigarette), alpkhan photography (nackter Mann), Pixel-Shot (Plattenspieler), kate_k (Weihnachtsbaum)

31 Kommentare zu “Schmelzen wie Schnee | #11

  1. Schlimm, wenn man sich mit den eigenen Familienmitgliedern nicht versteht. Sich dennoch gegenseitig zu achten und entsprechend zu behandeln scheint da noch die beste aller Lösungen zu sein.

    1. Entweder man arrangiert sich oder man gibt den Kontakt eben auf. Anstrengend wird es ja nur, wenn man sich selbst oder wenn man sich gegenseitig konstant quält.

      1. Sich einfach komplett von der Familie zu distanzieren ist allerdings auch irgendwie verpönt, nicht? Aber meistens ist das ka zum Glück auch nicht nötig.

      2. Das kommt doch wirklich immer auf die Umstände an. Wer aus einer Laune heraus nicht mehr mit seinen Eltern spricht, der stößt möglicherweise auf Unverständnis. Es gibt aber auch genügend ernstere Fälle, wo niemand eine solche Entscheidung in Frage stellen würde.

  2. Elogen! Das habe ich ewig nicht gehört oder gelesen. Der Begriff muss aber auch 1968 schon überaus rar gewesen sein.

  3. Was für ein wichtiger und richtiger Satz: Man muss den Menschen erklären, „dass es keinen Sinn ergibt, Dinge fortzusetzen, wenn sie ihre Bedeutung verloren haben“.

      1. Für viele Menschen ist Religion nach wie vor relevant. Auch wenn man selbst nicht gläubig ist und da auch keinen Bedarf sieht.

      2. Verbieten funktioniert nie. Ein gesellschaftliches Umdenken wäre aber schon nett.

      3. Verbieten funktioniert durchaus. Ohne Verbote würden wir gar nicht erst stubenrein. Allein mit guten Beispielen ist ein Staat nicht zu lenken.

      4. Meiner Erfahrung nach stacheln Verbote aber meistens eher an, als dass sie abschrecken. Aber klar, antiautoritäre Anarchie bringt natürlich auch nicht weiter.

  4. Man kann sich sicherlich auch lösen von dem, was man liebt. Aber niemand tut das doch leichtfertig oder ohne schwerwiegenden Grund.

      1. Ein schwerwiegender Grund wäre, wenn man selbst dabei zugrunde ginge. Aber zumindest in der Oper verzichtet Violetta dennoch auf Alfredo, damit dessen Schwester den Mann aus gutem Hause abbekommt, der sonst empört das Weite suchen würde, weil ihr Bruder es mit einer Kokotte treibt.

  5. Ich galube es gibt kaum Menschen, die sich wirklich nicht darum kümmern, was andere von ihnen denken. Man kann sich das natürlich einreden, so wie es Christian eben auch tut. Aber letztendich bleibt da doch immer irgend etwas hängen.

    1. Christian weiß ja selbst, wie sehr er auf Effekte aus ist, also darauf, andere zu beeindrucken. Sein Versuch, sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen, ging bereits schief.

      1. Das liegt wohl größtenteils an der Unsicherheit, deren er sich ja ebenfalls bewusst ist. Da müssen dann als Ausgleich manchmal die großen Effekte herhalten.

  6. Was man unterlassen hat, kann man nicht mehr nachholen. Aber das Schlimmste ist sich deshalb Vorwürfe zu machen und andauernd zurückzublicken. Je mehr man über diese Versäumnisse nachdenkt, desto mehr versäumt man auch weiterhin.

    1. Deswegen hilft diese Einsicht ja auch. Zurückblicken tun meistens die, die die Hoffnung haben doch noch irgendwas nachzuholen.

    1. Er meint das wohl wie vieles andere provokant. Man rettet sich in eine Art finanzielle und soziale Sicherheit, entgegen den eigenen Gefühlen.

      1. So sehe ich das auch. Hinzu kommt die Befürchtung, diese Möglichkeit selbst nicht zu haben und sie deshalb bei anderen herabzusetzen.

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