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Sprünge von Türmen  —   3. Kapitel: DER UNTÄTER

Schmelzen wie Schnee | #9

Anfangs hatte ich den Schlaf mit Unmengen von starkem Kaffee verscheucht. Inzwischen glaubte ich, ohnehin kaum zu schlafen. In Wirklichkeit war es sicher umgekehrt: Ich schlief mehr, als ich wach war. Doch es war ein unregelmäßiger, stockender Schlaf, den ich mit dem Wunsch abstreifte, mir neue Anstrengungen zuzumuten. Hunger und Schmerz empfand ich unbeteiligt, als gehörten sie nicht mir, sondern nur dem Körper, den ich nicht mehr anerkannte. Manchmal spürte ich Blut auf der Zunge, mein Blut, wenn ich mich blutig gestoßen hatte und wie ein Tier über die Wunde leckte. Am liebsten hätte ich mit meinem eigenen Mund alles Leben aus mir herausgesogen, ausgeblutet und ausgespuckt.
––Es war ein böses, zuckendes Spiel.
––Ich war sicher, dem Vergnügen meines Todes nicht entgehen zu können.
––Zerstörung und Erfüllung liefen Hand in Hand und beide rückten näher.
––Es gab nichts, was ich brauchte, nichts, was ich wünschte, nichts, was mich hielt. Ich trieb hinaus und ich ließ mich treiben.
––Fern waren Ufer, Menschen, Wünsche. Alles neigte sich mir zu, überließ sich mir und den Wellen, die mich zärtlich, aber bestimmt mit sich forttrugen.
––Ich hörte auf zu atmen.
––Meine Glieder wurden schwer. Vor meinen Augen schwirrten grelle Punkte.
––Ich begann mich aufzulösen, langsam sank ich hinab, tiefer und tiefer.
––Mein Zwerchfell fing an, wild zu zucken, mein Herz schlug durch mich hindurch. Der ganze Körper bäumte sich auf, doch noch sank ich tiefer hinab, und mich überkam ein Ahnen unirdischer Gefühle, eine wohltuende Empfindung, rein körperlich, und doch genug, um nichts zu wollen als ein Andauern, eine Steigerung.
––„Das ist der Tod.“ Ich wusste es genau.
––Der Tod war ein Zustand sinnlicher Lust, eine körperliche Empfindung, ohne den Körper zu empfinden, und ich stand an seiner Schwelle.
––Ich spürte, wie das Leuchten zunahm, wie der Wunsch Gewissheit werden wollte. Ich hätte danach greifen können – da riss es mich mit Gewalt hoch, ich schnellte an die Oberfläche zurück, die Atmung setzte wieder ein, ich keuchte, um mich her war es kühl und taub.
––Der abgekämpfte, zähe Körper krümmte sich erschöpft. Eine kleine Kugel kann ihn vernichten, ein Sturz aus zehn Meter Höhe zerschmettert ihn. Doch diesmal hatte er es geschafft: Er hatte mich besiegt.
––So oft ich es auch versuchte, immer wieder zog es mich zurück. Ich konnte mich wehren, wie ich wollte – er blieb trotz allem der Stärkere.

Oh, wenn ich doch nicht diese Glückseligkeit zu fühlen bräuchte! Wenn ich doch endlich verlöschen könnte! Meine Eltern bemerkte ich erst, als sie schon dicht neben mir standen. Ich sah ihre entsetzten Gesichter und spürte, dass ich nackt war.
––Das Zimmer türmte sich verwüstet vor mir auf. Die Luft schien gegoren. Sie würgte mich in der Kehle. Jalousien wurden aufgerissen. Der Tag blendete, Straßenlärm, Kühle. Licht und Worte drangen auf mich ein, Hände griffen nach mir.
––Ich kauerte auf einem Sessel, bei dem Versuch aufzustehen, brach ich zusammen.
––Sie stützten mich, wuschen mich, flößten mir etwas ein, als ich schon im Bett lag. Dann war es still und dunkel.
––Ich begann die vielen Worte, die sie gesagt hatten, langsam zusammenzusetzen und ihren Sinn zu verstehen. Freunde, die tagelang vergeblich versucht hatten, mich zu erreichen, hatten meine Eltern benachrichtigt. Sie waren sofort hierhergekommen, aber der Schlüssel hatte von innen gesteckt, sie hatten die Tür aufbrechen lassen müssen.
––Ich zwang mich, nicht weiterzudenken. Ein tiefes Unbehagen breitete sich in mir aus. Scham, Ekel, Erniedrigung. Ich steckte den Kopf unter die Decke. Ich wollte nie mehr einem Menschen gegenübertreten. Wie konnte ich mich rechtfertigen? Was sollte ich sagen?
––Niemand sollte sich um mein Schicksal kümmern.
––Ich wollte niemanden sehen, nichts tun als schlafen, gefühllos, gedankenlos, nur schlafen und träumen, dass alles anders wäre, dass ich ein anderer wäre, alles ungeschehen machen, mich ungeschehen machen, oder überhaupt nicht träumen, schlafen mit dem Kopf im Sand, nicht da sein. Als der Arzt kam, wachte ich auf und sah in ratlose Gesichter.
––Ich wurde geprüft, abgehorcht, befühlt, beklopft und durchdringend betrachtet. Abgeschätzt und zum Leben verurteilt. Leichtes Essen, Ruhe, Schlaf. „Völlige Erschöpfung, leichtes Fieber. Ursache nicht ganz klar. Vielleicht ein Infekt, im Darm vermutlich. Wird schon werden!“
––Ich hätte erleichtert sein müssen – niemand wird es je erfahren –, aber ich war es nicht. Das lastende Gefühl der Scham ließ nicht nach.

Meine Eltern nahmen mich mit nach Hause, und da lag ich in meinem Zimmer und war froh, wenn ich allein sein konnte. Ich versuchte Tag und Nacht zu schlafen, um nicht diese grenzenlose Beschämung ertragen zu müssen, diese Furcht vor Verachtung und Verständnislosigkeit, über die weder Lesen noch Schreiben noch Musik hinweghalf.
––Ein prüfender Blick ließ mich zusammenzucken. Ein hervorgehobenes Wort verursachte mir Übelkeit. Jeder schien zu ahnen, was während der letzten Woche mit mir geschehen war, doch niemand sagte etwas. Es gab nichts Greifbares, aber die Zweifel und Verdächtigungen standen unwidersprochen im Raum und senkten sich beklemmend auf mich herab, sobald ich die Augen öffnete.
––Noch im Halbschlaf versuchte ich, mich zu belügen. Aber es half nichts. Ich wachte doch auf, und die Abstände zwischen den einzelnen Perioden des Schlafes wurden immer kürzer. Allmählich ließ sogar mein Wunsch zu schlafen nach. Ich stand immer häufiger und länger auf.

Meine Spaziergänge wurden täglich ausgedehnter. Ich stapfte durch regenfeuchten Sand, rechts die bröckelnden Klippen, links das ruhelose Meer, das sich beharrlich und siegesgewiss in den Strand nagte, Welle um Welle.
––Die Sonne vergilbte. Herbststürme zerfetzten den Himmel. Vom Absterben der Natur war hier unten nichts zu spüren. Was nie geblüht hat, kann auch nicht verwelken. Allmählich verließen mich die Gespenster. Die Last wurde erträglich, schien auszutrocknen und glitt schließlich zerstäubt von mir ab.
––Ich hörte auf, ständig daran zu denken. Ich konnte wieder mit Menschen zusammen sein, ohne mich ihnen hilflos ausgeliefert zu fühlen. Doch als die letzten Schatten gewichen waren, gab es nichts, was mir blieb. Ich war wie ein Schlachtfeld, auf dem erbitterte Kämpfe gewütet hatten. Nur war Waffenruhe eingetreten, aber das Land lag verbrannt, entstellt, verwüstet. Alles war niedergewalzt, der Boden unfruchtbar, öde, tot. Ich ließ die Dinge geschehen, mit mir, von mir. Ich tat, was man von mir erwartete, gründlich, zuverlässig, pflichtbewusst. Der Ernst des Lebens schien mir endlich klargeworden zu sein. Ich hatte meine Reife erlangt.

Die Wohnung war mustergültig aufgeräumt.
––Ich arbeitete fleißig, ließ keine Vorlesung und kein Seminar aus, schrieb ausführliche Briefe nach Hause. Ich erledigte alle meine Arbeiten gewissenhaft, ging jedem überflüssigen Zusammentreffen oder Gespräch aus dem Wege und handelte folgerichtig. Ich hatte keine eigene Meinung mehr.
Ich aß, trank, schlief und arbeitete regelmäßig, ein seelenloser Roboter, den man vergessen hatte abzustellen. Wenn der Wecker morgens klingelte, stand ich auf, ohne zu fragen, ob ich müde sei. Ich wusch mich gründlich, frühstückte in Ruhe und ging zum Bahnhof. Im Abteil hielt ich mir eine Zeitung vors Gesicht und unterrichtete mich über das Weltgeschehen. In den Hörsälen und Seminaren sonderte ich mich, so gut es ging, ab. Wenn mich jemand fragte, was es in der Mensa gäbe, wusste ich oft kaum noch, was ich gegessen hatte. Obwohl ich zu vermeiden versuchte, Freunde zu treffen, gab ich mir dennoch die größte Mühe, nicht schlecht gelaunt oder unzufrieden zu wirken. Ich verschanzte mich hinter Strebsamkeit und Sachlichkeit und rief dadurch bei meinen früheren Freunden sicher mehr Abneigung hervor, als ich es durch mürrisches oder aggressives Verhalten vermocht hätte. Meine Klausuren schrieb ich gut vorbereitet und ohne Furcht. Meine Hausarbeiten waren lange vor dem festgesetzten Termin fertig. Abends machte ich regelmäßig einen kurzen Spaziergang. Danach aß ich und arbeitete anschließend bis halb elf. Ich zog mich langsam aus, wusch mich und putzte mir sorgfältig die Zähne. Ich ging ins Bett, las vielleicht noch eine Notiz und löschte pünktlich um elf Uhr das Licht. An den Wochenenden machte ich einen längeren Spaziergang, schlug Einladungen aus und behandelte ungebetene Gäste so liebenswürdig, dass sie mich bald völlig verstört wieder verließen. Von Zeit zu Zeit las ich ein Buch, weil es mir jemand empfohlen hatte. Manchmal hörte ich Radio, um mich zu informieren, aber meistens arbeitete ich an Aufzeichnungen, Ordnern, Ausarbeitungen. Und wozu das alles? Um vorwärtszukommen? Um mich zu quälen, um mich zu töten? Ich legte mir keine Rechenschaft darüber ab.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nora_n_0_ra (Porträt Mann), Kateryna Tsygankova (Schwimmer), Davizro Photography (Daumen runter), Dean Drobot (Frau mit Champagnerglas), bellena (Café), Seprimor (Augen), Kitti Krotsurikan (Hand mit Zigarette), alpkhan photography (nackter Mann)

35 Kommentare zu “Schmelzen wie Schnee | #9

    1. Ich tippe auch nicht auf dieses Kapitel für einen der großen Sprünge. Das wird bestimmt erst das große Finale zum Abschluss 😉

    2. Vielleicht wacht er am Ende mit rasendem Herzen auf und stellt fest, dass alles nur ein Traum war. Abstürze in schwindelerregende Tiefe ist im Alptraum allerdings mindestens genauso bedrohlich wie im echten Leben.

      1. Solche langen Dialoge und Beobachtungen sind in Träumen selten. Ich kann im Traum Gott sei Dank fliegen und deshalb unbesorgt von allen Klippen springen. Traue ich mir das nicht zu, weiß ich, dass ich wach bin.

      2. Fliegen konnte ich im Traum noch nie, Herr Rinke, nur fallen oder mit dem Auto in vor mir fahrende Fahrzeuge krachen, dabei wie wild bremsend, aber ohne zum Stillstand zu kommen. Dafür schreibe ich aber im Traum die besten Briefe – auf den Punkt formuliert, ohne lange nach Worten suchen zu müssen. Es sprudelt nur so aus meiner gedanklichen Feder … ganz leicht und frei.

      3. Komponieren geht auch sehr gut im Traum. Leider lässt sich anschließend nicht überprüfen, ob das Entschwundene mehr Bach oder mehr Schrott war.

    1. Immerhin hat er seine Reife erlangt. Oder fühlt zumindest erst einmal so. Solche intensiven Empfindungen verfliegen mitunter ja mal schnell.

      1. Sein Gemütszustand scheint ja immer wieder recht nahe am Wahnsinn zu sein. In wieweit man seinen Gefühlen oder Aussagen trauen darf, darüber kann man dann wohl streiten.

  1. Starker Kaffee wirkt bei mir leider gar nicht mehr. Vielleicht sollte ich mal ein paar Wochen Entzugskur machen um mich wieder zu entwöhnen.

      1. Ich wäre auch nicht so ganz überzeugt, dass ein regulärer Studien- oder Arbeitstag auf Ecstasy besonders produktiv wäre.

      2. Arbeiten muss er ja laut eigener Aussage eh nicht. Wie tüchtig er als Student ist, ist schwer einzuschätzen. Wenn man die Einschätzung von neulich (viel reden / wenig tun) als Wegweiser nimmt, dann passiert da vielleicht ebenso wenig.

  2. So richtig durchschaue ich den Erzähler trotzdem noch nicht. Er tut sich schwer mit seinem Leben, gut. Aber er wehrt sich ja zudem auch gegen jede „Glückseligkeit“, die er fühlt. Versucht also fast bewusst sich unglücklich zu machen.

    1. Diese provozierte „Glückseligkeit“ ist gleichzeitig unerträgliche Wonne und saugender Schmerz. Er fühlt, dass da etwas nicht stimmt, aber kann nicht davon lassen.

      1. Kann man nach einem Morgen vor den Politik-Nachrichten aus Amerika ein wenig von dieser Glückseligkeit bekommen?

      2. Oder bis ins nächste Jahr. Falls dieser Clown wirklich durch die Gerichte ziehen will.

      3. Die Wahl ist doch so gut wie entschieden. Trump hat kaum noch Chancen, daran werden auch die paar an den Haaren herbeigezogenen Klagen nichts ändern. Die meisten sind ja eh bereits von den jeweiligen Gerichten abgeschmettert worden.

  3. Die Erzählung ist so detailgetreu geschrieben, man kann auf allen Etappen ziemlich genau nachempfinden, wie sich der Protagonist fühlt, was ihn umtreibt. Der Rausch sowie das Abebben sind sehr eindringlich. Und doch bleibt mir dieser Mensch sonderbar fremd und sehr fern von meinem eigenen Leben.

    1. Identifizieren muss man sich vielleicht ja auch gar nicht. Trotz allem ein sehr intensiver Einblick in die Psyche dieses jungen Mannes.

  4. Je nach Sichtweise erscheint Christian als völlig auf den Wahnsinn zusteuernder oder als ganz normaler Jugendlicher. Man muss wohl auch geduldig sein und abwarten wohin die Geschichte noch führt.

    1. Ich hoffe ja eigentlich nicht, dass sein Verhalten das eines völlig normalen Jugendlichen ist. Bei mir war es jedenfalls nie so schlimm.

      1. In der Jugend erscheint manchmal vieles wahnsinnig dramatisch. Wenn man 20 Jahre später zurückblickt, sieht das meistens schon ganz anders aus. Das mag hier ähnlich sein.

      2. Bei mir war es auch nicht sooo schlimm. Vor allem deshalb nicht, weil ich die meisten Abgründe in meine Figuren gelegt habe, damit ich selbst die Türme lieber zum Ausschauhalten nutzen konnte.

      3. Da lobt es sich wenn man viel Fantasie und Kreativität hat. Da gibt es dann wenigstens ein Ventil bzw. eine Ausdrucksform für solche Wahnsinnigkeiten 😉

  5. Mir fällt jetzt erst auf, dass jedes Titelbild eine andere Animation bzw. eine andere Ecke des Bildes akzentuiert. Was für ein schönes Detail.

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