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Fast am Ziel

Schwere Sprache | #95

Mario schrieb mir in meinen Blog, meine Texte seien ‚kurzweilig‘. Palaver. Kurzweilig zu schreiben kann reich und berühmt machen. Beides macht nicht unbedingt glücklich. Im Film erzählen sich die Gangster gern: „Nach diesem Coup hören wir auf. Dann liegen wir in Acapulco am Pool und Bräute im Bikini servieren Margaritas.“ Natürlich geht alles schief, weil der todsichere Tipp mehr tot als sicher war, und den Hauptdarstellern bleibt die Einsicht erspart, dass man sich am Pool nach ein paar Wochen fühlen kann wie der Salzrand der Margaritas.

Das, was mir immer am wichtigsten war, schon zu einer Zeit, in der ich noch Religiösem und Ideologischem neutral oder gar sympathisierend gegenüberstand, war die Frage: Wie sehr beeinflusst der Körper den Geist, und wie sehr beeinflusst der Geist den Körper? Experimente sind schwierig und auch nicht durchgehend überlebbar. Ich habe solch ekstatische Zustände in angemessenem Alter erlebt und fand es überhaupt nicht einfach, danach weiter zu existieren. Seither rede ich mir ein, dass Beschaulichkeit und Anhäufung von Wissen erstrebenswert wären, und wenn ich gerade mal Glück habe, glaube ich mir auch. Aber meistens sehne ich mich zurück nach jenen Minuten, in denen es mir gleichgültig war, ob mich mein Hormonspiegel oder das Göttliche ergriffen hatte; Leichtsinn oder Schwachsinn; schwindelnde Höhen oder modrige Tiefen.

Fotos (7): Privatarchiv H. R.

Zu leben besteht zum größten Teil aus Akten und Abwaschen. Aber man fummelt sich so durch. Totsein besteht – hypothetisch – aus Seligkeit oder nix, also so wie vorher, vor dem Lebenmüssen. Auch nicht schlecht. Das Sterben zwischendurch ist das Problem, denn man weiß aus Erfahrung (nur so vom Zugucken), dass es ein hilfloser, oft schmerzhafter Zustand ist, auf den sich nicht mal Masochisten freuen. Am liebsten würde ich das gar nicht wissen.

Mein Blog beschäftigt mich sehr, nicht nur inhaltlich. Finden Menschen es schön, so häppchenweise zu lesen? Ist das cool – oder wie es früher hieß: ‚modern‘? Ich schreibe jedenfalls lieber längere Passagen, am Block im Blog. Kommen die Bilder auf Smartphone überhaupt zur Geltung? Mein Schreiben ist nicht bloggerecht, ist mir klar. Ich lese andere Blogs, und ich wundere mich. Man muss sich durchtasten durch diesen Schlick aus Lügen, Hoffnungen und Einsichten. Wer gar nichts von sich preisgibt, findet keine Anhänger; wer alles von sich preisgibt, verliert sie auch schnell wieder.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich weiß ja, ich bin verbal inkontinent. Ich habe mich davon abbringen können, das Leben zu bewerten, aber nicht, es zu beworten. Meine erste Eigenständigkeit. Später kamen noch andere dazu. Meine Aversion gegen das Ficken zum Beispiel: Erinnert mich fatal an Hetero-Sex und hat mir wohl Aids erspart. Welche Rundungen einen abstoßen und welche einen trotz aller Vorliebe für das Kantige anziehen, das kann man sich nicht aussuchen, aber je besser man sich beherrscht, desto mehr lässt man sich entgehen – und desto eher entgeht man selbst Strafe, Krankheit und Tod. Aber schon immer gab es diese Gottesgeschöpfe, die, ob sie es wollten oder nicht, andere Früchte begehrten, als das Obst, das der Masse schmeckte.

Menschen lieben es, dasselbe zu begehren. Das eint so schön – wie einen Fußballverein. Als ich mit den anderen Nachkriegsjungen aufwuchs, war das in einer ganz anderen Welt als die Welt, in die unsere Eltern hineingemusst hatten. Trotzdem waren sich meine Altersgenossen und ihre Väter über etwas einig: Es war sehr traurig, dass sie niemals Sex mit Marilyn Monroe und Brigitte Bardot gleichzeitig würden haben können. Mir blieb da nur der Katholizismus; und nach wie vor werde ich nicht versuchen, mich dem sexuellen Mainstream erläuternd anzudienen, ‚versteht mich doch!‘, denn das wäre geradeso, als wollte ich Biogras käuende Kühe mit einem Rezept für Rinderfilet locken. Oder den Papst mit Satanskult. Das schaffe ich nicht.

Trotzdem wundere ich mich – inzwischen? –, dass den meisten Intellektuellen und Idioten das Eindringen in das Innere eines anderen Menschen so viel bedeutet: Nicht nur in die Seele wollen sie, nein, in den Körper.

Ich halte mich nicht für erwähnenswert feige, aber besonders nach meinem Schlaganfall, stürze ich ungern. Beim weiblichen Schoß kann man sich an so gar nichts festhalten, und in Tiefen einzudringen, ist mir wohl nicht gegeben: weder von Gott noch von sonst irgendwem. Ich hänge an der Oberfläche. Und Frauen haben nun mal, bei aller Wertschätzung der Klitoris, keinen Schwanz, während der männliche Anus neben seiner anderen Funktion auch als Vagina-Pendant gelten kann, freilich ohne deren Fortpflanzungspotenzial. Ich mag das alles nicht, denn ich sehe das sehr eng und dunkel. Diese Extreme, an die ich eigentlich nicht glaube: Schwarz und Weiß, Gut und Böse, rechts und links – rechts ist bei mir behindert, und so erlebe ich Zwiespalt ganz physisch. Die eine Hälfte macht etwas, die andere folgt nicht, weil sie nicht will oder weil sie nicht kann – für die Koordination ist das unerheblich: Sie funktioniert einfach nicht. Nekrotisches Gewebe im Hirn zu haben, ist ja von der Vorstellung her noch unangenehmer, als ein Schweineherz zu besitzen, weil das eigene weniger leistungsfähig war als das säuische. Was findet da hinter meiner Stirn statt und was nicht mehr?

Geilheit zum Beispiel findet wie alle Wünsche zunächst mal im Kopf statt, wogegen man sich schlecht wehren kann, aber dann wandert sie zielsicher nach unten. Und was passiert da? Triebforschung? Wer richtig Hunger hat, frisst der auch als Islamist jedes Schwein? Wer wirklich geil ist, der fickt vielleicht auch jede Ziege? – Wichtige Überlegungen. Religion, also Kultur, besteht darin, uns die Schweine und die Ziegen abzugewöhnen; und aus unserer unausgelebten Auflehnung gegen diese Zivilisierung entsteht Kampf – und Kunst: verdrängte Gier. Jeder bekommt davon die Krankheit, die ihm zusteht, aber nicht immer den Zuspruch, den er sich wünscht.

Es gibt ja Menschen, die werden wahnsinnig geil, wenn sie Verachtung spüren. Sie lassen sich erniedrigen und winseln unterwürfig, während sie gefesselt und ausgepeitscht werden. Also, zu denen gehöre ich nicht. Ich mag Lob. Besonders verlegen macht es mich nicht. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass Anerkennung so wichtig ist. Verlogene Komplimente von Mitarbeitern, routinierte Seufzer von Nutten, profundes Wissen, dass man, weil man gottgefällig lebt, in den Himmel kommt – all das macht froh; Misstrauen macht nicht froh, selbst wenn es vor Schlimmerem bewahrt. Das Selbstbewusstsein, auf niemandes Meinung angewiesen zu sein – macht das froh?

Ich habe mich mit ‚Leichter Sprache‘ beschäftigt. Ein genaueres Gegenteil zu meiner Ausdrucksweise ist kaum denkbar.

Rick war Gangster und eines Tages starb er eines in seinem Beruf natürlichen Todes: Er wurde erschossen. Vorgestern hatte Rick noch geglaubt, dass Daisy es ernst meinte, als sie sagte: „Ich mach mich an Jerry ran, und wenn er mir seinen widerlichen Fickschwanz gegen den Bauch drückt, knall ich ihn ab und sage, es war Notwehr. Wenn ich von den Bullen gefragt werde, ob ich ihn nicht einfach hätte wegstoßen können, sage ich: ‚Nein!‛“

Da ist nun alles drin, was in Leichter Sprache nicht sein darf. Ich versuch’s mal, das zu ändern, damit ‚Personen mit kognitiven Einschränkungen‘ mich verstehen: Rick machte so Sachen. Er starb. Er war tot, anschließend. Darf ich jetzt die Zeitebene nach hinten zu Daisy wechseln oder geht das nicht, und ich muss vorwärts beim Frühstück des alleinerziehenden Hauptkommissars weiterschreiben? Ich erwäge, auf Personen mit kognitiven Einschränkungen zu verzichten, jedenfalls in meinem Blog, im wahren Leben ist das ja nicht nötig.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ganze Sätze gelten ohnehin nicht mehr viel. Die Bilder zählen und ‚prägen sich ins kollektive Gedächtnis ein‘. An Geschriebenem reichen Twitter-Botschaften und (Un-)Wörter des Jahres. Nörgeleien eines alten Mannes. Ich hätte so gern jemanden, der an mich glaubt; mit der gleichen Intensität, mit der ich nicht an Gott glaube; aber sie sind alle tot; ich muss selber an mich glauben, sonst bleibt mir nichts als meine Verachtung für die, die weniger aus ihrem Leben gemacht haben als ich.

Fotos oben (3): Privatarchiv H. R. | Foto unten: Nemo1963/Shutterstock

Die Sonne geht runter, ich gehe rauf. Oben, auf dem Balkon, kann ich sie noch eine halbe Stunde länger genießen. Die friedlichste Zeit des Tages. Wenn ich den singenden Amseln lieber zuhöre als den gurrenden Tauben, fühle ich mich eins mit dem Rest der Menschheit. Rafał fragt, was ich essen möchte, und ich sage es ihm. Ich sitze vor dem externen Bildschirm, bediene die externe Tastatur, steuere meinen Laptop und zerlebe die Zeit. Ich gucke mir Pornos an, um mich abwechselnd zu erregen und zu ekeln.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Dann kommt Silke und ich wechsle das Bild. Manchmal auch nicht, dann bleibt eine unendlich fette Frau mit klaffender Vagina stehen. Silke tut so, als sähe sie es nicht. Wenn Susi da ist, sagt sie: „Du Sau!“ Helga traue ich mich nicht, meinen derben Scherzen auszusetzen. Rafał hat den Teller so hergerichtet, dass jemand, der lieber guckt als isst, zufrieden sein kann. Akkurat beim Gong der ‚Tagesschau‛ wandert das erste Radieschen vom Teller in den Magen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

6 Kommentare zu “Schwere Sprache | #95

  1. Hmmm…und wenn man nun beides mag? Twitter und Blogs mit schwerer Sprache? Ist man dann schon wieder unangepasst? Twitter als Nachrichtenpool hat doch durchaus seinen wert. Und wer schreiben will, tut dies ja nun in der Regel nicht per Tweets. Eine Elfriede Jelinek publiziert zwar online, aber ja keineswegs gekürzt, weniger verschwurbelt oder dem Mainstream folgend. Ob der Teufel existiert sollen die Katholiken entscheiden. Im Internet steckt er jedenfalls nicht.

  2. Menschen lieben es dasselbe zu begehren, Menschen lieben es zu etwas zu gehören und Menschen lieben es gemeinsame Ziele zu haben. Das trifft meiner Erfahrung nach sogar irgendwie auf Einzelgänger zu. Das „Stronger together“ von Hillary ist ja nicht völlig aus der Luft gegriffen. Zusammenhalt macht uns stärker, sicherer, mutiger. Wenn man in der Menge dann noch seine Eigenständigkeit bewahren kann: Glückwunsch.

  3. Dass Körper und Geist sich nicht so einfach trennen lassen vermutete schon der alte Freud. Mittlerweile ist man um Längen weiter, Descartes ist irgendwie passé und man lässt tatsächlich die Zornesfalten von depressiven Patienten mit Botox lahmlegen um der Psyche zu sagen ’so schlimm ist’s nicht‘. In religiöse Gewässer möchte ich nicht vordringen, aber basierend auf meiner weltlichen Erfahrung glaube ich sofort an den Zusammenhang. Bewusstseinserweiternde Experimente überlasse ich allerdings lieber anderen.

    1. „Wie ich aussehe, so fühl ich mich!“ Das hat ja vom Haarspray über Nasenpiercing zu Brustvergrößerungen und Fettabsaugen geführt. Alternative: „Is doch egal, wenn´s mir scheiße geht, Hauptsache man sieht es mir nicht an.“ So wichtig sind heute die Mitmenschen.

    2. Völlig wahr. Anscheinend funktioniert die Botox-Variante aber. Jedenfalls sagen das die Forscher in (ich glaube es war) Basel.

      Wie wichtig die Mitmenschen sind, sieht man ja am grenzenlosen Selfiewahn. Bestätigung um jeden Preis. Und die Likes setzen dann die gleichen Reaktionen frei wie ein Orgasmus. Auch alles bereits erforscht. Jetzt steckt man im Dauerstress um immer irgendwelche tollen Fotos zu produzieren, man spart sich aber wenigstens die Partnersuche.

    3. Ich habe immer das Gefühl, dass der Drang 24/7 auf allen Social Media Kanälen präsent zu sein noch deutlich anstrengender ist, als Bestätigung durch den Partner, Lover etc. zu finden. Vor allem sieht man uns nun auch noch beim Scheitern zu…

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