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Am Teich

#1 – Ein Anfang

>> P R O L O G <<

Manchmal gab es abends bei uns etwas, das ‚strammer Max‘ hieß. Eingeweihte wissen, dass es sich dabei um nichts Sexuelles handelt, sondern um ein Setzei, auch ‚Spiegelei‘ genannt, das auf einem Bett von kleingehacktem rohen Schinken ruht, der seinerseits auf einer butterbestrichenen Graubrotscheibe verteilt worden ist. Von meinen Eltern lernte ich, mit Messer und Gabel ganz systematisch um das Dotter herum zu essen und zum Schluss das ‚Gelbei‘ als Ganzes in den Mund zu stopfen. Dies bedeutete zweierlei: Erstens wird der Teller nicht unansehnlich und schwer abwaschbar klebrig, wie es unweigerlich geschehen würde, wenn man das Eigelb vorher schon zerteilt hätte, zweitens spart man sich den Höhepunkt bis ganz zum Schluss auf, um dann einen Bissen verschlingen zu dürfen, den zu zerkauen und die Kehle herabzuwürgen qualvoll ist.

Foto: Maren Winter/Shutterstock

Foto oben (histor. Postkarte von Othmarschen, Am Teich): mit freundlicher Genehmigung von akpool.de | alle Illustrationen im Beitrag: ALEKS & SHANTU/Hanno Rinke

Schon seit ihrer Kindheit war Isabelle schön. Schon seit ihrer Jugend war sie gebildet. Sie war schon seit ihrer Geburt wohlhabend und schon seit einer Stunde tot, als Eduard, der unten im Wohnzimmer schon zum zweiten Mal einer Neuaufnahme von ‚Der Tod und das Mädchen‘ entgegenlauschte, zu spüren begann, dass da oben etwas anders war als zuvor. So mag meinetwegen ein Groschenroman anfangen. Eine schamlos in die Welt hinausposaunte Zustandsbeschreibung fängt dagegen (oder dafür), wenn sie von mir kommt, etwa so an:

Foto: Privatarchiv H. R.

1. April 2000

Hallo, Menschheit!
Ich hoffe, es geht dir gut. Mir geht es schlecht, bilde ich mir ein. Eingebildet? Na ja: Dem Körper geht es schlecht, weil er ein Wrack ist, dem Kopf, weil es in ihm zu denken begann, dass unter ihm, also dem Körper, alles anders ist als zuvor – bei mir und bei meinen Eltern, dass es nicht mehr weitergeht und doch nicht aufhören kann. Was mir am meisten zusetzt, ist, dass unser Leben, objektiv betrachtet, gar nicht so schlimm ist, wie wir es empfinden. Alternativen? Für mich? Auf dem Lande leben. Eine Frau haben und Kinder und Küche. Das wäre vielleicht eine Steigerung des Unerträglichen. Ansonsten halte ich es mit der Unerträglichkeit wie Göring mit den Juden: „Was unerträglich ist, bestimme ich.“ Schon seit meiner Kindheit hatte ich Angst. Schon seit meiner Kindheit hatte ich Verdauungsprobleme (im Darm und im Herzen).

Foto: Privatarchiv H. R.

Schon seit ich bewusst lebe, hatte ich immer diese zwiespältige Empfindung, wenn es auf Höhepunkte zuging: Weihnachten, Geburtstage, Zeugnisse, Partys, vor allem natürlich Samenergüsse. Zunächst war es noch der Glaube, solange ich nicht offensichtlich abspritzte, konnte mir Gott nichts Direktes ankreiden, nachher war es die Furcht, dass, wenn das vorbei ist, alles vorbei ist. Den Orgasmus habe ich immer als Tragödie, zumindest als Abschied, begriffen; man muss ihn wollen, gewiss, aber wenn man ihn erreicht hat, wird es entweder peinlich oder geruhsam, und von außen, dramaturgisch betrachtet, ist peinlich immer noch beschäftigender als geruhsam, denn Geruhsamkeit lässt sich nicht nur schwer fesselnd darstellen, sie führt geradewegs zum Stillstand. Da ich aber mein Leben nie als einen freiwilligen Akt verstanden habe, sondern immer als etwas, wodurch ich angehalten bin, andere zu unterhalten, habe ich notgedrungen das Talent entwickeln müssen, aus meinen tollpatschigen Einsamkeiten nacherzählbare Slapsticks zu kreieren.

Eine solche Auseinandersetzung hatten sie noch nie gehabt, und wie so oft bricht sich Aufgestautes dann in völlig unangemessener Form Bahn. Der Vormittag war ganz friedlich verlaufen, jeder einzelne Vormittag war bisher friedlich verlaufen, schon seit ihrer Hochzeit.
––„Du denkst daran, dass wir heute Abend auf den Börsenball müssen!“, sagte Eduard.
––„O Gott, nein, das habe ich vollkommen vergessen! Ich habe nichts anzuziehen. Und meine Haare! Können wir nicht absagen?“
––„Also, Isabelle, du hast doch nun wirklich nicht viele Verpflichtungen. Du lebst, wie es dir gefällt. Kannst du nicht ein Mal an etwas denken, wenn es wichtig für uns ist?“
––„Für dich ist es wichtig.“
––„Es ist dein Geld, um das es geht.“
––„Wie kommst du darauf, dass ich so lebe, wie es mir gefällt?“
––„Weil du niemals anders leben würdest.“
––„Willst du damit sagen, mein Leben sei unnütz?“
––„O nein! Du tust Gutes, Schönes, Richtiges und Wichtiges. Du füllst den Raum so aus mit deiner Vollkommenheit, dass man erstickt.“ Er drehte sich weg. „Ich brauche Luft.“
––Isabelle sah ihm nach, als er mit schnellen Schritten, die Hände in die Hosentaschen gekrampft, die Terrasse überquerte wie eine Arena und auf dem weichen Rasen seine Schritte verlangsamte. Sie sehnte sich danach, ihn nicht lieben zu müssen.
––Die Rosenknospen am Rankengitter: ein schüchternes Gelb. Das Rostrot der üppigen Polster auf den Liegestühlen. Der farbige Flor der Rabatten zu beiden Seiten des Kiesweges.
––Mehr aus Hilflosigkeit als aus Widerwillen schloss sie die Augen. ‚Das Leben zur Hölle‘, kam es ihr zusammenhanglos in den Sinn.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, wie Eduard in dem kleinen Pavillon verschwand, der ursprünglich als eine Art Teehäuschen geplant war und jetzt der Aufbewahrung von Gartengeräten, Dünger und Unkrautvertilgungsmitteln diente. Niemand hatte je ein Porzellanservice oder Sandkuchen und Biskuits dorthin geschleppt. Einmal hatte ein Landstreicher, der über den Zaun geklettert war, dort übernachtet. Der Gärtner hatte ihn am nächsten Morgen überrascht, aber sie hatten ihn laufen lassen.
––„Wir müssen das Grundstück besser absichern“, hatte Eduard gesagt, „wir haben nicht mal eine Alarmanlage.“
––„Ja“, hatte Isabelle geantwortet, sie war sich sicher gewesen, dass er die Angelegenheit in die Hand nehmen würde. Wie immer. ‚Was mochte Eduard in dem Pavillon wollen? Einen Wutanfall austoben? Den Stiel einer Harke zerbrechen? Mit dem Gartenschlauch auf den Holzboden knallen, ohnmächtige Peitschenhiebe? – Die Hölle zum Leben‘, dachte sie.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Leben hat sich verändert. Wieder mal, aber es wurde auch Zeit. Zum ersten Mal seit Rolands Tod bin ich nicht mehr allein im Haus. Natürlich habe ich das keinem neuen Liebhaber zu verdanken. Im Gegenteil: Meine Eltern sind zu mir gezogen, nun bin ich wieder Kind im Haus. Neben den ideellen gibt es dafür auch praktische Gründe: Guntrams fortschreitende Polyneuropathie macht es ihm schwer, bald vielleicht unmöglich, die sechs Stufen zur Eingangstür seiner Doppelhaushälfte emporzukraxeln. Oft hole ich ja nicht aus, aber jetzt. Dann kann man alles, was später kommt, besser einordnen. Da bin ich mir sicher. Also:

Foto: Privatarchiv H. R.

Nachdem mein Vater aus der elterlichen Wohnung in Berlin-Lankwitz ausgezogen war (seine Kindheit erzähl’ ich ein andermal), lebte er zunächst mit seinem älteren Bruder Hasso zusammen. Die beiden noch älteren Brüder waren schon selbstständige Juristen. In der ‚sturmfreien Bude‘, wie das damals hieß, ging es wohl 1930 recht munter zu. Hasso kochte (angeblich gut), Guntram machte Karriere, und es gab Damenbesuch, von dem mir besonders Erzählungen über den ‚roten‘ und den ‚blonden Hund‘ in Erinnerung sind. Frivole Dinger wahrscheinlich – ‚Babylon Berlin‘ eben.

Foto: Privatarchiv H. R.

Dann kamen die Nazis, was in diesem Zusammenhang nicht weiter störte, sondern der Wirtschaft und somit auch Guntrams Einkommen guttat.

Foto: War Archive/Alamy Stock Foto (gemeinfrei)

Mitte der Dreißigerjahre zog Guntram in eine eigene Wohnung: am Herthasee, in der Delbrückstraße in Grunewald, und da wohnte er auch noch 1943, als er meine Mutter im Zug von Posen nach Berlin kennenlernte.

Foto: Privatarchiv H. R.

Zwei Schwierigkeiten gab es dabei – erstens: Guntram war verheiratet; zweitens: Irena (polnisch) war Halbjüdin. Wie sie mit beidem klarkamen, führt hier zu weit, jedenfalls wurde Guntrams Grunewald-Villa zusammengebombt, was ihn veranlasste, mit der versteckten Irena ins Haus seines untergetauchten Geschäftsfreundes Jacobi nach Frohnau zu ziehen.

Dort erwischte ihn trotz ‚kriegswichtigen‘ Berufs in der Kohleindustrie doch noch die Wehrmacht, was Guntrams Defätismus verstärkte. Er hatte schon vorher geweissagt: „Wenn die mich erst brauchen, ist der Krieg verloren.“ Dementsprechend vorsichtig verhielt er sich auch im Feld, überredete seine Kameraden, sich zu ergeben und wurde zur Belohnung vom zuständigen Sowjetgeneral mit Propusk (Passierschein) nach Hause geschickt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Da ihn unterwegs kein ‚Kettenhund‘ der Feldgendarmerie an einem Laternenpfahl aufhängte, erreichte er zu Fuß Frohnau und die als Einzige unvergewaltigte Irena. Ihr damenhaftes Make-up und ihre Sprachkenntnisse sollen in diesem Zusammenhang auf die Soldateska einschüchternd gewirkt haben. Nicht allerdings auf die im Sommer 1945 eintreffenden Franzosen. Sie beschlagnahmten das hübsche Haus.

Foto: Privatarchiv H. R.

Guntram und Irene schlüpften bei einem weiteren Geschäftsfreund, Kurt Becker, in der Reichsstraße in Westend unter. Dann kam ich auf die Welt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Bald darauf heirateten meine Eltern und zogen wieder in den Grunewald: in die auf Veranlassung meines Vaters notdürftig zurechtgeflickte Jugendstilvilla von jemandem, der zwar Hans ‚Geiger‘ geheißen hatte, aber Physiker gewesen war. Er war mit dem nach ihm benannten Zähler berühmt geworden, noch bevor man Atombomben im Iran oder in Nordkorea aufspüren musste.

Verheiratet war er mit Elisabeth Heffter, der Tochter von Arthur Heffter, der 1897 erstmals das Meskalin aus dem Peyote-Kaktus isoliert hatte, womit er es bis zum Rektor der Humboldt-Universität und einem Eintrag bei Wikipedia brachte. Elisabeth Geiger habe ich noch kennengelernt. Sie besuchte manchmal unser Hausmeisterehepaar Geppingers. Die wohnten im Keller, der ‚Souterrain‘ genannt wurde. Auf das, was unbewohnbar vom ersten Stock übrig war, hatte Guntram ein Dach setzen lassen. Das war hässlich, aber regendicht. Uns blieb das, was früher ‚Beletage‘ hieß. Das Grundstück führte abschüssig zum Koenigssee, in den der Herthasee mündet und der Nachbarjunge mehrfach reinfiel. Für Guntram also eine Rückkehr, für mich die ersten Erinnerungen. Ob die Geigerwitwe ihrem verschlissenen Besitz nachtrauerte, weiß ich nicht, wohl aber, dass sie etwas unglaublich Schmierseifiges sprach, das meine Eltern ‚sächsisch‘ nannten. Die Professorenfrau und -tochter wurde deshalb vom Kohlenhändler Guntram, seiner aus kleinsten Verhältnissen stammenden Gattin (nun Irene) und deren morbidem Sohn Hanno missachtet. Aber Hanno konnte dort in Berlins feinster, kriegsgeschundener Gegend ein Gespür für Herrschaftsanspruch und Vergänglichkeit entwickeln – eine Mischung aus Dünkel und Narben, die bis hin zur Zielsetzung dieses Textes führt: zum Teich und seiner Geschichte.

37 Kommentare zu “#1 – Ein Anfang

  1. Oh ja, der Stramme Max ist gleich ein guter Einstieg. Der gehörte zu den wenigen „Kochkünsten“ meines Vaters und war daher als Kind fast ein Lieblibgsessen.

    1. Ein weiteres Beispiel dafür, warum der Weg das Ziel ist: wenn nämlich der aufgesparte Hauptbissen nicht das Vergnügen bereitet, für das er in den Mund gestopft wurde.

  2. Man kann es ja nicht anders sagen… ihre Familiengeschichte ist wirklich interessant. Soviel gäbe es über meine Eltern gar nicht zu erzählen.

      1. Das unterschreibe ich sofort. Die spannendsten Themen können durch ein enttäuschendes „Wie“ kaputt gemacht werden. Dagegen kann ein spannendes „Wie“ fast ohne Thema auskommen.

  3. Ein Gespür für Herrschaftsanspruch und Vergänglichkeit. Was für eine Mischung. Und dazu eine entsprechende Formulierung.

      1. In der Tat. Und so entstehen schon mit wenigen Worten sofort viele Bilder.

  4. Den Strammen Max kenne ich zwar auch, aber so eingeweiht, dass ich wüsste, dass ein Spiegelei auch Setzei genannt wird, bin ich dann doch nicht.

    1. Das, was wir gemeinhin Spiegelei nennen, ist ein Setzei, also ein Ei, das in der Pfanne gebraten wurde. Das Spiegelei hat demgegenüber einen milchigen Spiegel auf dem Eigelb, den man erzielt, indem das Ei nicht nur Kontakthitze von unten, sondern auch Umgebungshitze von oben erhält. (Aus dem allwissenden Internet)

      1. Spiegel- und Setzei in Ausländisch.
        A sunny-side up egg is cooked undisturbed until the whites are just barely set, and the yolk is still raw and translucent. Over-easy eggs are flipped “over” to lightly sear the top of the egg.

      2. Ich hätte schwören können, dass ein „Sunny-side-up“ ein Spiegelei ist 😳

    2. Jeder Rinke-Bericht hält in der Regel die ein oder andere Überraschung bereit, aber dass ich im ersten Teil erstmal solche Details über Eier lernen würde hätte ich nicht erwartet 😉 Danke an alle.

    1. Na klar. Stellen Sie sich doch mal vor, Sie wären mit einem Alkoholiker oder Schläger liiert. Da würden Sie sich das jeden Tag fragen.

      1. Eine Abhängigkeit zu beklagen ist nicht ungewöhnlich. Allerdings spreche ich ja im Zusammenhang mit dieser Nebenhandlung von „Groschenroman“.

      2. Ich habe einen Schrank voll Kinderbilder von mir, weil mein Vater, wenn ich vom Kinderheim, von der kinderreichen Familie und vom Internat mal zu Besuch kam, mich nur durch einen Fotoapparat beäugte. Seitdem: Heftige Aversionen gegen das Fotografiertwerden.

    1. Das ist mal eine schöne Abwechslung. Neben den vielen ferneren Reisen erfährt man natürlich auch mal gerne etwas über „Ihr“ Hamburg.

  5. In Othmarschen kenne ich bisher nur den Alten Schweden. Bin gespannt was es aus der Gegend noch alles zu erzählen gibt.

  6. Ich habe mich oft gefragt wie das wohl gewesen wäre, wenn meine Eltern wieder zu mir gezogen wären. Am Ende ist es doch anders gekommen und beide sind verstorben bevor dieser Schritt wirklich nötig gewesen wäre. Wahrscheinlich war das die beste Möglichkeit für und von allen.

  7. Das ist übrigens ein tolles Kinderbild ganz oben. Angst und Verdauungsprobleme sieht man Ihnen da noch gar nicht an 😉

    1. Finde ich auch. Von mir gibt es keine wirklich schönen Kinderfotos. Wahrscheinlich haben meine Eltern da einfach keinen großen Wert drauf gelegt. Oder ich bin zu kritisch.

      1. Ein paar brave Jahre in der frühen Kindheit sind ja erlaubt. Danach war ja sicher noch genügend Zeit für die wilde Phase.

  8. Über den roten Hund möchte man ja eigentlich mehr erfahren. Über den blonden natürlich auch. Aber es weckt wohl gerade die Leserneugier, dass eben nicht jedes Detail ausgesprochen wird. Man vertraut genügsam der leitenden Hand des Autors.

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