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05 – Die Hostie

#11 – Bier

Und dieses Mädchen saß mir nun gestern gegenüber.
––„Wie ist es für Sie weitergegangen?“, fragte ich.
––„Komischerweise hatte sie vollkommen recht“, sagte das Mädchen. „Mein Freund war wirklich mit dem Auto losgefahren, um mich abzuholen. Unterwegs wurde er in einen Unfall verwickelt. Er war nicht schuld, aber sein Wagen musste abgeschleppt werden.“
––„Sind Sie noch zusammen?“
––Sie lächelte. „Vor einem Monat haben wir geheiratet.“
––„Na, dann ist ja alles in Ordnung. Herzlichen Glückwunsch!“
––Sie sah mich verwirrt an.
––„Ist nicht alles in Ordnung?“
––„Ich mache mir natürlich schreckliche Vorwürfe wegen Isabel Stumme.“
––„Das brauchen Sie nicht.“
––„Ich hab ihr die Kapsel weggenommen, weil ich Angst hatte, sie tut sich was an. Zum Schluss hatte sie ja so eine Andeutung gemacht, und ich glaube, sie war auch betrunken. ‚Die rastet noch aus‘, dachte ich. Ich hätte sie gar nicht allein lassen dürfen, aber ich war selber total durch ’n Wind. Erst die Ausreise und dann Sven nicht da, also echt, das war ’n bisschen viel für mich.“
––„Vielleicht hatte sie einen wunderschönen Venedigurlaub. Vielleicht geht es ihr sogar besser.“
––„Ja, wissen Sie denn nicht …?“, stammelte das Mädchen, „haben Sie denn nichts in der Zeitung gelesen?“
––„Nein“, sagte ich. „Ich war auf dem Weg in meinen Urlaubsort, da lese ich keine Zeitungen. Was ist denn passiert?“

Das Mädchen murmelte etwas, was ich nicht begriff.
––„Bitte sprechen Sie deutlicher! Ich kann Ihre Worte sonst nicht erkennen.“
––„Sie ist tot“, sagte sie. „Sie hat sich damals vor den Zug geworfen, genau den, mit dem sie nach Venedig fahren sollte, als er in München ankam. Furchtbar!“ Dem Mädchen füllten sich die Augen mit Tränen, sie fuhr sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. „Und das Schlimmste ist: Ich habe die Kapsel aufgemacht. Es war gar nichts drin. Sie war leer. Ihr Arzt hat sie angelogen. Vielleicht dachte er, er hilft ihr damit.“ Sie zog ein kleines Spanholzkästchen aus der Jackentasche und öffnete es. Da lag die Kapsel in Watte gepackt.
––„Vielleicht hat sie sich die Geschichte auch nur ausgedacht, und der Arzt hat ihr gar nichts gegeben“, sagte ich.
––„Sie hat mir vertraut“, sagte das Mädchen, „und ich habe sie verraten.“
––„Ich denke, Sie haben bis heute keinem Menschen etwas davon erzählt?“
––„Schlimmer. An den Tod hab ich sie verraten.“
––„Sie konnten doch nichts dafür.“
––„Und mein Bild ging noch durch die Zeitungen.“
––„Wieso?“
––„Die haben den Film entwickelt, der war heil geblieben, und da war nichts drauf als mein Gesicht. Die Eltern haben versucht, mich zu finden. Sie konnten sich überhaupt nicht vorstellen, warum ihre Tochter das gemacht hatte. Der Arzt sagte wohl nichts. Vielleicht hatte er auch ein schlechtes Gewissen. Eine Obduktion wurde nicht gemacht, vielleicht war das auch gar nicht möglich. Und ich – ich konnte mich einfach nicht melden. Ich konnte den Eltern nicht unter die Augen treten. Und was hätte ihnen die Wahrheit auch gebracht?“

Die Schwingtür pendelte hin und her. Ein paarmal sah man noch das Schild ‚Südfrüchte‘ draußen am Kiosk. Dann schloss sich die Tür wieder.

Was hätte die Wahrheit ihnen gebracht? Ich habe geglaubt, ich könnte den Menschen die Gedanken von den Lippen ablesen. Vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht waren es immer nur meine Gedanken, die ich nicht zu denken wagte. Keiner kennt die volle Wahrheit. Wir sind alle gezwungen, uns aus den Bruchstücken, die uns zugeteilt werden, einen Reim zu machen. Vielleicht habe ich da unstatthaft auf Frau ‚schlau‘ gereimt statt ‚flau‘. Soll man deshalb aufhören, sich seine Gedanken zu machen, nur weil sie falsch sein könnten? Ist das nicht immer noch besser, als gedankenlos zu sein? Wir alle haben uns auf die Situation in den Ostblockstaaten unseren Reim gemacht aufgrund der Berichte. Wen von uns hat es weiter gebracht, und in welche Richtung?

Ich sitze in meinem Zimmer, und ich denke an die Frau und das Mädchen und daran, was mich wohl dazu veranlasst hat, den ganzen Ablauf so verkehrt auszulegen. Mir fallen Tests ein mit Tintenklecksen: Dabei muss man sagen, was für Figuren man in den Klecksen erkennt. Aus der Deutung kann man auf den Deuter schließen, nicht auf die Kleckse. Die Wahrheit ist das, was wir sehen wollen. Aber warum? Warum ist das meine Wahrheit? Instinktiv spüre ich, dass es mich nicht glücklich machen würde, dieser Frage weiter nachzugehen. Ich habe schon früher keine Bäume ausgerissen. Jetzt bin ich alt, und ich werde die Welt erst recht nicht mehr ändern, die Welt nicht und mich auch nicht. Es gibt Gehörlose, die mehr erreicht haben als ich. Ich war nur im Innendienst einer Redaktion ‚Schreibkraft‘, um ein grässliches Wort zu gebrauchen. Die Zeitung, für die ich gearbeitet habe, hat immer versucht, die Dinge auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen: zehn Zentimeter Schlagzeile, fünf Zentimeter Text. Meine Sturm- und Drangzeit war ein wütender Aufschrei dagegen: in aller Stille.

Seit zwölf Jahren bin ich nun in Rente. Ich starre die Wand an. Sie zeigt keine Risse. Ich werde weiterleben, solange es mir bestimmt ist. Hoffentlich ohne Qualen. Freundschaften? Ein paar noch. Und sonst? Meine Tochter lebt im Ausland. Sie interessiert sich nicht besonders für mich. Sie ist einer von diesen Vampiren, die sich an Konsumgütern festsaugen und an ihrem Beruf. Und ich selbst, ich sauge mich satt an den Lebensläufen anderer; meine Meinung über das, was ich sehe, ist mein einziger Beweis.

Mein Mann ist schon seit über zehn Jahren tot. Er hätte sich mehr über die deutsche Vereinigung gefreut als ich, schade. Es war beklemmend, wie gut ich von Anfang an ohne ihn zurechtkam. Er war auch taub, vielleicht hat mich das gestört an ihm. Ich glaube, er hat nie eine andere Frau als mich gehabt. Das hat mich auch gestört. So, als ob er Frauen gar nicht mochte und mich nicht sehr weiblich fand. Es wird nichts mehr passieren. Ich werde weiterleben, und von Zeit zu Zeit werde ich ein Bier trinken: Ich habe es mir noch nicht abgewöhnt.

E N D E

Titelfoto/Collage und Abschlussfoto mit Material von Shutterstock: vetre (Bierglas), Kwangmoozaa/Larch _tree (Rorschach-Test), Dima Moroz (Puzzleteile in Kiste)

25 Kommentare zu “#11 – Bier

  1. Man kann Menschen nicht wirklich sagen, was sie tun oder lassen sollen. Funktioniert selten. Da ist die Frau keine Ausnahme.

      1. Das stimmt sicher. Aber man sollte schon abwägen wann es Sinn macht sich einzumischen und wann nicht.

      2. Chefs sagen andauern, was Mitarbeiter tun oder lassen sollen. Freunde, Partner und nahe Verwandte machen das auch gern. Es sei zu meinem Besten, meinen Sie oder sagen es zumindest. Uneigennützig ist das nicht immer. Erziehung von Kindern muss sein, Ratschläge von Besserwissern müssen nicht sein.

      3. Aus meiner Erfahrung gibt es immer die besten Ergebnisse, wenn man Verantwortung abgibt. Alles wissen kann man natürlich nicht. Und Ratschläge sind natürlich nochmal etwas ganz anderes.

  2. Ein Glück, wenn man feststellt, dass man auch gut ohne seinen Partner auskommen kann. Die Regel ist das aber sicher nicht. Ich habe eher Angst davor.

    1. Eine Trennung ist manchmal besser, als sich an eine ausgelutsche Liebe zu klammern. Erich Kästner: „Am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.“ Vor der kann man genauso viel Angst haben wie vor dem Alleinsein.

  3. Keiner kennt die volle Wahrheit. Wir sind alle gezwungen, uns aus den Bruchstücken, die uns zugeteilt werden, einen Reim zu machen. Das sollte man sich immer wieder bewusst machen.

    1. Und weiter unten: „Die Wahrheit ist das, was wir sehen wollen.“ Die Auflösung der Geschichte bringt viele kluge Schlussfolgerungen mit sich.

      1. „S i c h richtig mögen“ sogar e i n a n d e r mögen, war früher nicht das Hauptziel. Bei der Vermählung von Adligen aus machtpolitischen Gründen war Liebe allenfalls ein günstiger Zufall. Bei Zwangsehen ist das natürlich genauso. Zweckehen zur Altersvorsorge oder zur Abschiebeverhinderung erfordern kein Turteln. Aber auch bei Zusammenschlüssen in flammender Zuneigung kann es krachen , wenn aus anfänglicher Verliebtheit nicht Liebe wird, sondern Abneigung.

      2. Manchmal geht es auch ganz einfach um das Bilden einer Familie, Kinder, Sicherheit… nicht unbedingt um die große Liebe.

      3. Wer zwischen dem Alleinsein und einer nicht unbedingt glücklichen Liebe wählen muss, wählt eben oft auch das vermeintlich kleinere Übel des Zusammenbleibens.

  4. Ich denke ja immer, dass ich auch im Rentenalter nicht nur gegen die Wand starren werden, sondern dann erst recht neue Sachen ausprobiere. Aber vielleicht mache ich mir da auch nur etwas vor.

    1. Am Ende ist man nicht alleine verantwortlich Da spielen ja Gesundheit, Geld, Freunde, Familie ebenfalls eine große Rolle…

      1. Manch Besserwisser würde sagen: Doch, man ist verantwortlich!
        Gesundheit – zu unvernünftig gelebt.
        Geld – zu wenig Einsatz gezeigt, zu blöd investiert.
        Freunde – zu falsch ausgesucht.
        Familie – zu oft nachgegeben, zu sehr angeklammert.
        Zum Schluss: Besserwisser erschlagen, freundliches Urteil wegen mildernder Umstände.

      2. Unbeteiligt an seinem Schicksal(?) ist man sicher nicht. Aber dann gibts auch die Beispiele wo jemand sein ganzes Leben auf gesunde Ernährung achtet, früh ins Bett geht, nicht trinkt oder raucht, und trotzdem mit 40 einen Herzinfarkt bekommt.

    1. Vielleicht hat man sich mittlerweile doch schon mehr daran gewöhnt, dass Rollenklischés nicht mehr so gelten wie früher 🙂

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