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In der Blase  —   Süd nach Südost

#11A – Halb so lange

Genug der Vorgeschichten! Sie sollten nur Beleg sein für die Notwendigkeit, Rimini in meine Abschiedstournee mit einzubeziehen, und sie beleuchten das Dunkel der Vergangenheit, so dass die Assoziationen, die ich beim Verlassen der Autostrada hatte, sichtbar werden, um es so schön geschraubt auszudrücken, wie es sich für einen komplizierten Abschied aus einer untergehenden Welt geziemt. Das meiste von dem, womit ich jetzt abschließe, ist für Silke und Rafał neu, und die dadurch entstehende Reibung zwischen ihrer beider und meiner Sichtweise verleiht der Reise eine besondere Dimension, zumindest für Außenstehende, die es nicht gibt.

Nein, vor unserer Rückkehr in die Gegenwart möchte ich noch einen Umstand erwähnen. Etwas umständlich, aber an anderer Stelle passt es erst recht nicht: Als Pali 63 war, fiel er einer Intrige zum Opfer und wurde in Frühpension geschickt. Darunter litt er sehr. Als ich im selben Jahr kündigte, deutete ich an, dass das auch wegen Palis ungerechtfertigter Entlassung geschah. Das war zwar gelogen, freute Pali aber. Als er 1995 dann 65 wurde, legte sich sein Groll und wich einer relativen Zufriedenheit. „Jetzt wäre ich sowieso raus“, begründete er seinen Sinneswandel.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Mit dieser Erfahrung im Kopfgepäck hoffe ich jetzt auf Gleichmut im nächsten Jahr, wenn ich 75 werde. Mitte siebzig – da darf man doch schon etwas hilfsbedürftig sein, ohne dafür einen Schlaganfall zu benötigen, nicht wahr? Natürlich darf ich mich nicht an meinen zeitlos jugendlichen Eltern messen, die mit Mitte achtzig noch über Stock und Stein sprangen, beide.

Guntram, 1995

Foto: Privatarchiv H. R.

Irene, 2006

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Mit 88 war das schon nicht mehr so, bei beiden nicht. Für meinen zehn Jahre älteren Vater machte die Beschreibung von Guntram in Rimini das deutlich. Aber genau in diese Zeit, zur Mitte des Jahres 1998, ging etwas zu Ende, was ich mir zwar nicht so recht klarmachte, aber doch nie ganz vergaß. Ich hatte gelesen, die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen dauere halb so lange, wie die Beziehung dauerte. Als Roland im Januar 1991 starb, dachte ich: „O nein, nach fünfzehn Jahren Zusammenleben jetzt doch nicht noch siebeneinhalb Jahre lang Trübsal!“ Aber nur wenig später glaubte ich: Dieses Tal der Tränen endet erst mit meinem Tod.

Nicht, dass ich eines Morgens aufgewacht wäre und gedacht hätte: „Ach, toll! Nun bin ich endlich drüber weg.“

Foto: Yayayoyo/Shutterstock

Trotzdem. Es ist etwas dran. Ungefähr damals, um die Zeit unserer letzten Reise, noch gemeinsam mit meinem Vater, damals begann der Prozess des Loslassens. Die fünf wichtigsten Menschen in meinem Leben, ich würde sie im Laufe der nächsten Jahre alle verlieren. Das ist mit siebzig nichts Ungewöhnliches. Mit 44 war es ein Schicksalsschlag.

Fotos oben (5): Privatarchiv H. R. | Foto unten: Wikimedia Commons/gemeinfrei

2018: Beim Betreten der Halle des ‚Grand Hotels‘ ergab sich wieder mal eine Assoziation: Die etwas abgeschabte Eleganz des Foyers atmete ein wenig von der Verschlissenheit des ‚Grand Hotels‘ in Zoppot (nachzulesen in Leben lernen #2.40 – Martini im ‚Grand Hotel‘). Ein Gewinn gegenüber ‚Sofia‘ als Schreckensbeispiel? Am Empfang verzichtete ich scheinheilig auf das mir zugedachte Zimmer mit Meerblick und bat um eins zur Landseite. Wenn ich schlafe, ist es mir egal, was ich nicht sehe: den Strand oder den Parkplatz.

Foto: Manfred Richter/Pixabay

Silke und Rafał nahmen ihre Zimmer ein, ich meins. Wenn ich mich aus dem Fenster lehnte, konnte ich sogar auf der rechten Seite ein Stückchen Adria sehen. „Dein Zimmer ist das größte“, stellte Rafał nicht neidisch, sondern sachlich fest, als er mich zum Auspacken besuchen kam.

Foto: Privatarchiv H. R.

Zur Mittagszeit gab es – erst mal nur ein kleines – Missverständnis. Während Rafał noch meinen Kleiderschrank füllte, rief ich Silke auf ihrem Zimmer an und glaube gesagt zu haben: „Wir wollen etwas essen. Am Strand gibt es einen Pavillon vom Hotel, da können wir rübergehen. Aber vielleicht servieren sie uns auch etwas auf der Terrasse.“

In der Halle, für die ‚Lobby‘ nicht die richtige Bezeichnung wäre, warteten wir eine Weile, die Rafał dazu nutzte, mich vor dem dekorativ gemeinten, lippenstiftroten Fiat 500 abzulichten. Früher wurde ich ganz gern fotografiert, auch wenn mir das Ergebnis oft nicht passte. Jetzt guck ich tagelang nicht in den Spiegel, weil ich weiß: Schön werd’ ich nicht mehr, ich kann allenfalls noch mit auffällig punkten. Also trag’ ich dann den größten Teil meiner Kleidung ironisch. Manchmal wundere ich mich darüber, dass die Menschen mich immer noch für voll zu nehmen scheinen. Während ich rede, denke ich oft: „Das ist doch alles Schwachsinn, was ich da sage. Merkt das keiner oder wollen sie bloß nett sein?“ Aber dann sehe ich mich wieder von innen und spreche weiter das Zeug, das mir gerade aus dem Mund kommt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Da Silke auf sich warten ließ, schlenderten wir schon mal auf die Terrasse. Dort saßen Menschen und bekamen was zu essen. Wir setzten uns dazu. An einen leutefreien Tisch natürlich. Silke würde uns schon finden. Allerdings: Silke lässt niemals auf sich warten. Rafał ging nochmal zum Empfang, kam zurück und wählte ihre Handynummer. Erfolgreich. Silke saß 80 Meter weit entfernt am Strand, jenseits der breiten Straße. Wir gingen davon aus, dass sie nun zurückkommen würde. Tat sie aber nicht. Wir bestellten, das Essen kam, Silke nicht. Zwischen zwei Bissen schiele ich immer zu den letzten drei Stufen, die diesseits der dichten Hecke zu sehen waren. Die dazugehörige Treppe führte runter zum Strand, beziehungsweise rauf zur Terrasse. In gewissen Abständen kamen leicht bekleidete, nicht mehr junge Personen von unten nach oben – Silke nicht. Wir aßen auf, tranken aus und gingen auseinander, Rafał, um zu laufen, ich, um zu lesen. Oder zu schlafen. Oder zu schreiben. Ich entscheide mich immer erst an der Zimmertür, wenn nicht ein Zeitdruck mich in eine bestimmte Richtung zwingt. Die ‚Dead‘-line rückt immer näher, ich weiß. Aber solange man das Haus nicht brennen sieht, greift man nicht zum Feuerlöscher.

Foto: gemeinfrei/pxhere | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: interstid (Hand), jocic (Handspiegel) und koya979 (Sanduhr)

26 Kommentare zu “#11A – Halb so lange

  1. Die wichtigen Menschen in meinem Leben zu verlieren, davor graut es mir schon lange. Man kann sich wohl wirklich nur damit trösten, dass es uns irgendwann allen so geht.

    1. Ach, das Loslassen ist in der Tat ein ebenso langwieriger Prozess, wie sich auf einen Menschen einzulassen. Schlimm, aber es gibt das eine nicht ohne das andere.

    2. Die wichtigsten Menschen zu verlieren, wenn man selbst noch mitten im Leben steht, das muss wirklich eine furchtbar schmerzhafte Erfahrung sein. Es gibt auch keine passenden Worte für diese Situation…

  2. Die Theorie über die Trauerdauer klingt sehr interessant und durchaus einleuchtend. Zumindest als Faustregel dürfte das aus meiner eigenen Erfahrung so ungefähr stimmen.

      1. Nein kann man natürlich nicht. Aber man versucht nach dem Tod eines geliebten Menschen Erklärungen zu finden. Man versucht Dinge zu verstehen. Ich finde die Theorie auch ganz einleuchtend. Ob das auf jede Person zutrifft, darum geht es doch gar nicht.

      2. Ich finde es schon ganz beruhigend zu wissen, dass man nicht alleine ist mit der langen anstrengenden Trauer.

  3. „Manchmal wundere ich mich darüber, dass die Menschen mich immer noch für voll zu nehmen scheinen.“ Haha, Herr Rinke, meistens finde ich es schwerer Menschen für voll zu nehmen, die sich selbst zu voll nehmen. Wer genügend Selbstironie hat, oder sich eben selbst nicht ganz voll nimmt, der gefällt mir besser.

  4. Mit Mite achtzig über Stock und Stein! Allein die Möglichkeit macht einem ja Hoffnung. In der Hand hat man es am Ende natürlich erstaunlich wenig.

    1. Man kann so gesund und so vernünftig leben wie man will. Ein dummer Zufall oder wenn man mag auch eine Wendung des Schicksal zuviel und man sitzt gelähmt im Rollstuhl oder liegt bewusstlos im Koma. Das Leben macht mit einem was es will.

      1. Ganz so fatalistisch sehe ich das nicht. Aber natürlich: wenn es einen trifft und alles vorbei ist, dann ist es netter, auf herrlich ungesunde Unvernunft zurückblicken zu können als auf mühselige Entsagung, die sich nun erst im Himmel auszahlen wird – letzte Hoffnung.

      2. Das klingt aber wirklich ein wenig düster. Dann muss man ja erst recht das Beste aus dem jeweiligen Moment machen.

  5. Im Hotel ist es mir das wichtigste ein ordentliches Bett / eine gute Matratze zu haben. Wer braucht schon den Seeblick? Man verbringt ja doch nur die Nächte im Zimmer.

    1. Stimmt eigentlich, aber eine nette Umgebung hilft ja nicht nur beim Schlafen, sondern auch grundsätzlich fürs Gemüt 😉

    2. Wenn man fußlahm ist, macht ein Balkon schon Spaß. Ich erinnere mich aber noch an frühere Reisen, auf denen ich nur die Tage im Zimmer verbrachte und die Nächte außerhalb. Allerdings rangierte auch da die Matratze vor dem Meerblick

      1. Eine Prise Charme ist immer nett. Aber wichtiger ist mir auch ein gutes Bett, ein sauberes Bad und guter Service.

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