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Am Teich

#13 – PLATZ 2: DIE KIRCHE c) Out of Othmarschen

Frau Wieman konnte es nicht ausstehen, wie der Pfarrer von St. Paulus-Augustinus von seiner Kanzel herabschimpfte. Ich fand Pastor Nebelings Tiraden immer sehr unterhaltsam, zumal ich sie mir nicht zu eigen machte. „Es reicht nicht aus, hier am Sonntag zur Langschläfermesse zu erscheinen!“, brüllte er. Zur Kindermesse um 9 Uhr ging ich schon lange nicht mehr und zum – für mich frühen – Halb-Elf-Uhr-Dienst zwang ich mich mit achtzehn auch nur noch, um Gisela auf dem Rückweg zu begleiten.

Foto: Privatarchiv H. R.

Dadurch, dass Monilies und Kathrin von Wiemans auf die katholische Mädchenschule am Dammtor gezwungen worden waren, bekam ich Kontakt zur katholischen Mädchenschaft der Elbvororte, was mir in meinem Jungengymnasium eine Sonderstellung garantierte: erstens durch den Katholizismus, zweitens durch die Mädchen. 1) war nicht schädlich, 2) war nützlich. Meinem Herzen am nächsten stand Gisela. Sie war schön und intelligent, das passte zu mir. Gisela war das jüngste von fünf Kindern und wohnte mit ihren Eltern in einer vornehmen Villa in der Walderseestraße. Inzwischen ist die Umgebung nicht mehr ganz so edel, weil das Haus, nahe dem weggesprengten Christianeum, nicht viel weiter von der Autobahn entfernt liegt als Röpers Hof.

Foto: Privatarchiv H. R.

„Man muss das Christentum auch“ – ich weiß nicht – „leben“, oder „in die Welt tragen!“, oder was Pastor Nebeling sonst so im Kanzeldeutsch gebieterisch forderte. Er hatte da rhetorisch allerhand Donnerndes drauf, was er wie Wotan in die Gemeine runtergrollte. Einmal aber verstörte er mich mit leiser Stimme, als er vom Kommunionsunterricht erzählte. Da habe ihn einer der sechsjährigen Zöglinge gefragt: „Warum können wir denn nicht schon früher zur Kommunion gehen?“ Seine Stimme schwoll wieder zum gewohnten Gewitter: „Ja warum dürfen unsere Kinder das Sakrament nicht eher empfangen? Diese berechtigte Frage eines Kindes – wir können sie nicht beantworten.“ – Doch. Meine Eltern konnten das. Augustinus sah es ab Anno Domini Nostri Iesu Christi 400 anders. Er fand, dass den Säuglingen sofort nach der Taufe die Kommunion gereicht werden müsse, damit sie nicht in die Hölle kämen, falls sie stürben. Wie sie den Weizenfladen schlucken sollten, ist mir nicht klar. Kommen die Babys nun in den Himmel oder in die Hölle, wenn sie an der Oblate ersticken? Ich fand es immer unangenehm, wie mir die Hostie am Gaumen klebte. Man musste sie mit Spucke wegspülen, und wenn sie weg war, war man wirklich dankbar. Als ob man sich von einem hartnäckigen Speiserest zwischen den Zähnen befreit hätte. Das Kannibalische an der Prozedur, dass ich da Jesu Fleisch vertilgen sollte, nahm ich nicht zur Kenntnis. Die Eucharistie ist dennoch eine der wenigen Perversionen, die mir nicht einleuchten.

Als Kathrin in dem Alter war, in dem sie ihren Eltern schon längst nicht mehr alles sagte, aber auch kein göttliches Strafgericht heraufbeschwören wollte, biss sie am Sonntagmorgen in der Küche in ein Stück Schinken und sagte dann laut: „Oje! Jetzt kann ich nicht mehr zur Kommunion gehen!“ Wie oft Frau Wieman ihr diesen Trick abnahm, weiß ich nicht. Herr Wieman war etwas weltfremd. Fest stand aber, dass man für die Kommunion nüchtern zu sein hatte. Nicht auszudenken, wenn der Leib Christi in die Marmelade oder ins Rührei gefallen wäre. Frühstücksliebhaber bevorzugen deshalb zeitigere Messen oder lassen wie Kathrin die Kommunion weg.

Foto: Privatarchiv H. R.

Im Gegensatz zu mir verabscheute Frau Wieman Pastor Nebelings lautstarke Anschuldigungen. Sie hatte einfach keine Lust, sich am Sonntagvormittag von oben herab zusammenscheißen zu lassen. Störte ihre Andacht. Deshalb musste Herr Wieman sie immer entweder zum ‚kleinen Michel‘ fahren oder zu ‚Maria Grün‘. Kathrin, Monilies und ich saßen auf der Rückbank. Das Spannendste am Sonntagmorgen war immer, ob es nach St. Pauli gehen würde, wo der kleine Michel unscheinbar dem großen Michel halbwegs gegenüberstand, oder nach Blankenese, wo Maria Grün hübscher lag, aber nicht hübscher war.

Außerdem gab es noch St. Joseph mit einem eindrucksvollen Portal am Ende der ‚Großen Freiheit‘, einer Adresse, die meiner Mutter nicht zuzumuten war.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Dann schon eher der St. Marien-Dom in der Danziger Straße in St. Georg, umgeben von schwulen Lederkneipen (damals vielleicht noch nicht). Bei all den Marien – alle nach meiner Großmutter benannt? – konnte man ja leicht durcheinanderkommen, und das ausgerechnet in der Diaspora.

Diese Kathedrale ist das Feierlichste, was der Katholizismus in Hamburg zu bieten hat und wurde deshalb bis in die Neunzigerjahre hinein noch gelegentlich vor dem Mittagessen im ‚Vier Jahreszeiten‘ an Weihnachten und Ostern von uns besucht, vor allem, weil mein Vater den Geruch von Weihrauch so mochte. Wir kamen aber immer zu spät und standen hinten, wodurch weniger auffiel, dass wir auch früher wieder gingen.

Einmal betraten wir das Kirchenschiff gleich nach dem ‚Kyrie eléison‘. Kurz darauf hub der Würdenträger vorn an, umgeben von seinen Messdienern, Gott mit einer umfangreichen Fürbitte zu belästigen. Er erwähnte nacheinander alles, was des Allmächtigen Obhut bedurfte. Nach jeder neuen Nennung murmelte die Gemeinde: „Wir bitten dich, erhöre uns!“ Dann kam er zu einem besonderen Anliegen: „Herr, erleuchte unseren hochwürdigen Weihbischof Hellmut-Hermann!“ Guntram und ich mussten das Gotteshaus prustend verlassen. Ob wir ‚Bonifatius-Bartholomäus‘ weniger komisch gefunden hätten? Das Publikum raunte: „Wir bitten dich, erhöre uns!“

Foto: Shutterstock/wideonet

Na ja, nun habe ich das alles etwas flapsig geschildert, aber ich war wirklich durch und durch gläubig. Bei jeder Entscheidung habe ich Gott um Rat gefragt und mir eingebildet, dass er mir antwortet. Ihm zuliebe bin ich auf den Gehwegplatten nicht in die Fugen getreten oder rannte, wenn ich die Straßenbahn hörte, so schnell, dass ich eher an unserer Ligusterhecke war als die Tram: alles nur für ihn. Auf Geheiß sagte ich das ‚Vaterunser‘ auf. Meine Großmutter hatte es mir beigebracht und war entsetzt, dass ich es noch nicht auswendig konnte. „Verschone uns bloß von diesem ‚täglich Brot‘“, dachte ich damals. Wichtiger war: Jeden Abend betete ich mit meinen eigenen Worten – Erinnerungen an den Tag, Wünsche für den kommenden. Meiner Großmutter reichte der Rosenkranz, meinem Vater der Weihrauch. Ich brauchte Gott: seine Nähe und sein Mysterium.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Vater war mittags da, abends auch, allerdings kümmerte er sich nicht um meine Erziehung. „Wenn er größer ist, mache ich das“, soll er gesagt haben. Aber als mir dann das Klavier wichtiger war als der Fußball, hatte er doch keine Lust. Dabei erzählte er gern, dass er immer unter dem Flügel gelegen habe, wenn seine Mutter die ‚ Pathetique‘ spielte (den 2. Satz vermutlich, den einfachsten). Es muss mir an ‚Vater‘ gefehlt haben, so war Gott der Ersatz für dieses Bedürfnis. Die Abnabelung war schwierig. Vorher musste ich durch einen Tunnel von Gewissensnöten. Dass Gott mich nicht akzeptieren wollte, wie er mich geschaffen hatte, machte mich unglücklich. Aber so mit der Zeit – irgendwann mal wurde mir der Sex mit anderen wichtiger als Gottes Meinung von mir. Meinem irdischen Vater wäre die Tochter eines seiner Golfpartner auch lieber gewesen als Roland, aber meine Eltern und ich, wir gingen alle drei so pfleglich miteinander um, dass aus mir kein Achtundsechziger wurde. Und – den Fußball und das Klavier beiseitegelassen: Dass ich jetzt so leben kann, wie ich lebe, verdanke ich meinem Vater.

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Material aus dem Privatarchiv H. R. und wideonet/Shutterstock (Hostie)

34 Kommentare zu “#13 – PLATZ 2: DIE KIRCHE c) Out of Othmarschen

  1. Die Eucharistie fand ich schon als Kind immer einen seltsamen Teil des Gottesdienstes. Auf der einen Seite gefiel mir das rituelle daran, andererseits fand ich es aber schon immer komisch, dass Teile der Gemeinde von der Kommunion ausgeschlossen waren.

    1. Als ich klein war hat mich diese Welt voller Rituale auch fasziniert. Mir kam das immer vor wie eine Art Geheimgesellschaft, zu der ich unbedingt dazugehören wollte. Später haben mir die vielen Widersprüche und Skandale nach und nach die Lust an der Kirche geraubt. Der Glaube bleibt schon noch, aber die Institution braucht es für mich nicht mehr.

      1. Das Formale hat mich auch früh beschäftigt und geprägt. Der Glaube an einen Schöpfer, der alles bestimmt, aber sich dabei von Gebeten beeinflussen lässt, ist mir allerdings abhanden gekommen.

      2. Wie Herr Rinke im Text ja schreibt, das Mysterium war wichtig. Das kann ich ebenfalls nachvollziehen.

  2. Ich hätte wahrscheinlich gar nicht mal wegen des Namens Hellmut-Hermann, sondern vielmehr aufgrund des Umstandes, dass der gute Weihbischof Erleuchtung nötig hatte, losgeprustet.

      1. Würde man für alle Priester, die ihre Machtposition schwächeren gegenüber ausnutzen, öffentlich in jeder Messe um Erleuchtung bitten, wäre mir die Kirche trotzdem sympathischer als wenn dieses Sachen einfach vertuscht werden.

  3. Interessant, dass Sie die Tendenz zum „68er-Dasein“ in der eigenen Familie begründet sehen. Also nicht in Ihrer, sondern allgemein. In diesem Licht habe ich über diese Bewegung noch nicht nachgedacht.

    1. Das Misstrauen gegen die Väter war ein starkes Motiv. Der im ‚Stern‘ abgedruckter Abschiedsbrief eines Sohnes an seinen Vater begann: „An die braune Nazi-Sau!“ Guntram und ich haben darüber gekichert. Anderer Leute Ärger ist nicht der eigene.

    2. Ja klar, solche Bewegungen entstehen doch immer aus der Auflehnung gegen das was vorher war. Deshalb schwanken wir doch auch immer wellenartig zwischen Konservatismus und Liberalismus hin und here.

    1. Belehren funktioniert meiner Ansicht nach äußerst selten. Man muss die Menschen schon Überzeugen wenn man eine Veränderung herbeibringen will.

      1. Überzeugen, dass der Impfgipfel ein Erfolg war? Behaupten reicht. Nächste Woche kommt dann ein nächster Gipfel und so wird sich durchs ganze Jahr gegipfelt. Wir sitzen im Tal und schauen fasziniert nach oben.

      2. Wie war die Headline im Spiegel noch gleich? Schimpfen statt Impfen! Das beschreibt den Fokus der Bundesregierung eigentlich ganz gut.

      3. Man hätte die Impfungen sicherlich besser organisieren können, andererseits geht es hier um ein Projekt, das 80 Millionen Menschen betrifft. Da ist es auch verständlich, dass Dinge nicht 100%ig rund laufen.

      4. Nut gut, aber man hatte doch mehr als ein halbes Jahr Vorlaufzeit. Da überrascht dieses Chaos um das Besorgen und Bereitstellen der nötigen Impfdosen schon ein wenig.

      5. Kein Zweifel, da trauen sich unabhängige Regime in Moskau, Peking, sogar London und Tel Aviv mehr als eine lahme EU, die, selbst wenn es eilt, auch bei Bulgarien und Malta nachfragt, wie’s denn sein darf.

      6. Man will halt alles richtig machen. Das ist meiner Meinung nach der größte Fehler seit Beginn dieser Pandemie.

  4. Ich bin heute vielleicht weniger religiös als vor 30 Jahren, aber ich mochte die Kirche immer. Gerade als junger Mensch kann man dort sofort Halt und Bestimmung finden. Nach einem anderen „Sinn des Lebens“ habe ich erst sehr viel später gefragt.

    1. Mir war Loslassen und Balancieren mit 20 (also 1968) wichtiger als ‚Halt‘ und Stütze. Meine Bestimmung – schwer zu sagen – aber sie lag wohl weder beim Papst noch bei Rudi Dutschke.

  5. Dass es so etwas wie die Eucharistische Nüchternheit tatsächlich gab, also nicht nur im Hause Rinke, musste ich erst ergoogeln. Aber am Ende der Googlesuche weiss man ja immer mehr.

  6. Die vielen schwulen Lederkneipen kamen den Priestern doch sicher recht. Zumindest wenn Frédéric Martel mit seinem Buch recht hat und tatsächlich 80% der katholischen Kirche Homosexuelle sind.

      1. Hahaha, es wäre aber ein Studie wert. Wie gesagt, das Mysterium ist bei der Kirche genauso spannend wie bei Gott, aber investigative Recherchen und Dokumentationen landen bei Netflix auch immer in den Top 10 😉

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