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0602
Am Teich

#15 – Frühlingserwachen

Zurück in die letzte Märzwoche 2000:

Guntram konnte sein samstägliches Tatar nicht mehr selber holen, und ich hatte mir am Freitagabend vor dem Schlafengehen in den Kopf gesetzt, ihn am nächsten Morgen in dem nagelneuen Rollstuhl an die Stätte seiner ehemaligen Einkäufe zu fahren. Irene, die den Teich und das Tatar und die Situation nicht mochte, würde uns aus Pflichtgefühl und aus Solidarität begleiten, und wenn wir zu ihr sagen würden: „Bleib doch zu Hause!“, dann würde sie sagen: „Nein, nein, ich komm schon mit“, und in ihren Worten würde genauso viel Entschlossenheit liegen, als ob sie gesagt hätte: „Ich freue mich auf den Spaziergang. Also versucht nicht, ihn mir auszureden!“

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Ein sanftmütiger Vorfrühlingstag, licht und leicht. Die Vögel äußerten sich. Für Menschenohren war es schwer auszumachen, ob sie jubilierten oder klagten. Wenige lange Töne halten wir im Allgemeinen für Trauer, viele kurze deuten wir als Frohsinn. Es war Zwitschern, sonst nichts.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

„Seht mal“, sagte Irene, „nächste Woche werden die Forsythien blühen.“ Es war wichtig, etwas Belangloses zu sagen auf diesem unerhörten Weg, um seine Bedeutung herabzumindern. Der erste Wochenendspaziergang so ganz anders: Guntram saß, ich schob, Irene bremste ihren Gang. Im Übrigen hatte sie recht. Die entsprechenden Zweige trugen etwas, das nach reifenden Pickeln aussah: zum Eitern verurteilt. Überall war Atmen: Morgen kommen die samtenen Weidenkätzchen, bald wird die japanische Kirsche in triumphierendem Rosa blühen, und bis zu den prachtvollen Magnolien, die schon Modenschau spielen, bevor die Rosen knospen, ist es auch nicht mehr lange hin.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Die Natur legt sich nie flach und sagt: ‚Ach nee, dieses Jahr will ich mal ausruhen‘, sondern sie legt sich immer ins Zeug. Sie ist zuverlässig – erbarmungslos und tröstlich zugleich. Für ihre Launen hat sie das Wetter, für ihre Zuversicht die Unendlichkeit von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sie kann sich sogar den Luxus erlauben, auf Hawaii alle vier Jahreszeiten gleich zu belassen, ohne dass jemand auf die Idee käme, es sei mit ihr zu spaßen. Sicherheitshalber hat sie gerade da, wo sie nie mit Schneeverwehungen auftrumpft, besonders viele Vulkane und Wirbelwinde parat. Auch Erdbeben rülpst sie vorzugsweise in klimatisch angenehmen Gegenden. Den Rest an Katastrophen erledigen die Menschen, sie sind auch ziemlich zuverlässig, genauer gesagt: traditionsbewusst. Angst vor Neuem, vor Fremden, sogar vor Notwendigem, das erst später greift. Klimaschutz ist eher neumodisch. Einsicht kommt frühestens, wenn alle Grundbedürfnisse gestillt sind – bei mir also eigentlich ziemlich bald, weil ich mir Grundbedürfnisse abspreche, abgesehen vom Schlaf. Vielleicht ist Tradition mein Grundbedürfnis. Oder meine Achillesferse. Unabänderlich. Unsere Wochenendspaziergänge gehörten zum Sonntag wie das Frühstücksei. Und besser als Gartenarbeit waren sie allemal.

Foto: Privatarchiv H. R.

Dieser Sonntagsspaziergang war sogar eine solche Selbstverständlichkeit, dass ich mich nie fragte, ob ich ihn eigentlich mochte oder nicht. Dass ich vorher nicht gern zur Kirche ging, wusste ich, aber dazu wurde ich nie gezwungen, weder in Berlin noch später in Hamburg. Der Kirchgang war die Initiative von Wiemans und vorher schon die meiner Großmutter gewesen. Als beider Autorität schwand, begann mein Vater, Golf zu spielen und ihn dabei als Caddy zu begleiten war noch langweiliger als der Kirchgang.

Foto: Privatarchiv H. R.

Die Liturgie auf gewisse kirchenjahresbedingte Unterschiede hin abzuschmecken hatte längst aufgehört, mich zu beschäftigen. (‚HERR ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter meinem Dach.‘ Nein, wenn er schon eingehen würde, dann sollte die Leiche lieber woanders liegen. Aber: ‚HERR, sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund.‘ – Welches Wort mochte das sein? Ob ich es auch sagen könnte? Oder war das Wort egal und bekam seine Macht dadurch, dass Gott es aussprach? Dieses eine Wort schrieb ich immer Gottvater zu. Sein Sohn musste, um solche Erfolge zu erzielen, ganze Bergpredigten halten, mit Imbiss wie bei einer Sportveranstaltung.) Dennoch hörte ich den Predigten nach wie vor zu, wenn auch mit immer weiter entferntem Interesse. Mein Vater schlug die Golfbälle immer weiter, die Gebüsche wurden immer undurchdringlicher, und nur Irene, deren Bälle nie weiter flogen, als wenn sie sie mit der Hand geworfen hätte, fand es wohl noch mühsamer, ihn als Mitspielerin zu begleiten, als ich es liebte, ihm als Caddy zu dienen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Golf, Beruf und Familie – das war sein Leben. So wurden die Wochenendspaziergänge seltener, üblich waren sie nur noch, wenn bei Schnee und Eis oder fortdauerndem Regen der Platz gesperrt war. In Hamburg verkam der Sonntagsausflug zur Schlechtwetterbeschäftigung. In Meran war das anders. Da ging man auch bei schönem Wetter durch Wald und Flur, und der meist steil ansteigende Weg wurde durch eine Mahlzeit in einem Gasthaus gekrönt: Andere kochen lassen und selber reden – das wurde meine Lieblingskombination.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Guntram war ein ausgesprochen pflichtbewusster Mensch. Das hatte er wohl genetisch von seiner Mutter; denn bei Hasso und Reinhold war diese Eigenschaft wenig ausgeprägt. Seit er ab 1976 nur noch vormittags ins Büro ging und dort Vermögensverwaltung betrieb, machte er – außer an seinem Golf-Freitag – an jedem Tag bei Wind und Wetter denselben Gang: Klein Flottbeker Weg – Hochrad – Jenischpark – Teufelsbrück – Elbpromenade – Ringelnatztreppe – Halbmondsweg – ASH. Er jammerte, wie langweilig ihm das sei, aber er hielt durch. Selten, dass ich ihn begleitete, aber der Film zeigt: Es kam vor.

Video (Ausschnitt aus ‚Zwischenraum ’86‘): Hanno Rinke

Dass ausgerechnet ihn, der so auf ‚Ertüchtigung‘ geachtet hatte, die Polyneuropathie erwischte, ist ungerecht, und er hat es dem Schicksal auch nie verziehen. Über seine Beweglichkeit hatte er sich definiert, die körperliche brach ihm weg, da nutzte er die geistige überwiegend dazu, sich zu beklagen und sich wegzuwünschen. Oder er dachte an früher, als er immer nur die Treppe, nie den Fahrstuhl benutzt hatte und als er mit Irene und mir jeden Sonntag in die umliegenden Wälder gefahren war. Am Anfang waren manchmal sogar meine Großeltern dabei.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Noch in Berlin und auch später in Hamburg hatten die Sonntagsspaziergänge nie zu einem Restaurant, sondern immer ins eigene Esszimmer geführt. Erst durfte das ‚Mädchen‘ sonntags, und nur sonntags, mit ‚am Tisch‘ essen, und zwar das, was es selbst gekocht hatte. Später gab es kein Mädchen mehr, das kochen konnte und in dem Esszimmer sitzen durfte, das es sonst nur vom Staubwischen und Geschirrtragen her kannte. Sonntags trug ich sogar mit ihm zusammen die Teller raus, ja, sie hatten es schon gut, die Mädchen.

Später, in der mädchenlosen Zeit dauerte unser Ausflug manchmal länger als die Garzeit des Sonntagsbratens. Dann qualmte es aus dem Küchenfenster, und meine Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, was sie vorsichtig tun musste, um sich die Fingernägel nicht an der Autodecke einzureißen.

Bild: Clker-Free-Vector-Images/pixabay

Die aufregendsten Spaziergänge waren die im Spandauer Forst gewesen, Anfang der Fünfzigerjahre. Vor allem natürlich, weil da die Grenze zur Ostzone so nahe war, aber auch deshalb, weil wir uns dort regelmäßig verliefen. Guntram mochte nie Promenaden, die man bis zu einem gewissen Punkt geht, dann macht man kehrt und geht denselben Weg wieder zurück. Ich habe diese dramaturgisch zu nennende Vorliebe fürs Karree genetisch und umweltbeobachtend übernommen, nur dass es natürlich einfacher ist, auf der Elbchaussee in die Stadt zu fahren und über Reeperbahn, Holländische Reihe und Bernadottestraße zurückzukommen, als die Bögen im verwinkelten Spandauer Forst so zu schlagen, dass man nach ein bis anderthalb Stunden wieder vor seinem Auto steht. Da wird ab der zweiten Stunde jede Biegung zum Ereignis. Wenn der Waldweg nun immer noch nicht auf eine asphaltierte Straße führte, von der man sich dann überlegen konnte, in welcher Richtung es wohl zum Auto, zum Grunewald, zum Rinderschmorbraten, kurz: zum Ziel, gehen würde, dann konnte ich auch schon mal quengelig werden. Mein Vater musste mich auf seinen Schultern tragen, und ich plapperte von oben auf ihn herunter, unbekümmert – Guntram liebte die Soße, die der Schmorbraten absonderte; ich liebte es, auf den Schultern getragen zu werden. Eigenartig, jetzt auf einem Spaziergang wieder zu ihm herunterzusprechen, während ich seinen Rollstuhl schiebe. Niemals habe ich das Leben geliebt, aber immer habe ich es gelebt, selbst wenn ich bloß Kresse in die Salatsoße gestreut oder diesen Rollstuhl geschoben habe, in dem jemand sitzt, der bange hofft, dass dies sein letzter Frühling wird, und der mein Vater ist.

Foto: Privatarchiv H. R.

Was ich wirklich nicht mochte, war, wenn Guntram im menschenleeren Wald Soldatenlieder anstimmte. Außer Irene und mir hörte ja niemand, was da aus dem Batzen und dem Heller wurde, während wir querfeldein liefen und Guntram von Zeit zu Zeit seinen Gesang unterbrach, um zu mutmaßen: ‚Das hier könnte ein Schützengraben gewesen sein.‘

Fotos oben (2): Privatarchiv H. R. | Foto unten: Ernest Brooks/Wikimedia Commons/gemeinfrei

Noch in Hamburg, als ich fünfzehn war, konnte es passieren, dass er auf Blaubeerblättern und Kiefernnadeln vorwärtsschreitend plötzlich ausrief: „Ein Lied, zwo, drei!“ Dann begann er zu singen und Irene zu fürchten, dass ich dagegen einzuschreiten versuchen würde. Aber ich ertrug es klaglos, dass der ‚Heller zu Wasser‘ und der Batzen zu ‚Wein, ja Wein‘ wurde. Damals hatte ich aufgehört zu denken: ‚Das kommt schon noch!‘, wenn meine Klassenkameraden bereits jahrelang sangen: „Wenn ich die blonde Inge auf die Matratze zwinge“. Diese Maßnahme hatte bei den Jugendlichen vor der Verteidigung des Vaterlandes inzwischen Vorrang bekommen. Ich war ja der Jüngste und der Schwächste in der Klasse. Die flotte Inge hätte mich glatt umgehauen. Aber aller Ruhm verblasst. Nach dem Abitur hatte die aufreizende Inge in den Gesängen meiner Altersgenossen den Idolen Ho-Ho-Ho Ho Chi Minh und Che Guevara Platz machen müssen.

32 Kommentare zu “#15 – Frühlingserwachen

      1. # 14 KINO war so lang und hatte 7 Videos. Da dachte ich, die Zeit von Mittwoch Abend bis Freitag Abend sei zu kurz. Es soll nicht wieder vorkommen.

      2. Hat doch ganz gut funktioniert. Für einen Samstag Abend ist das Feedback zum neuen Post ja äußerst rege 👍🏻

  1. Ein bisschen Frühlingserwachen würde mir jetzt auch gut tun. Deutlich besser als Schneeverwehungen mit -15 Grad Celsius.

      1. In Amerika war gerade wieder Gound Hog Day; anscheinend stehen uns noch 6 weitere Wochen Winter bevor. Ob wir hier in Deutschland davon verschont bleiben, nur weil es solch eine alberne Veranstaltung bei uns nicht gibt, ich kann es nicht beurteilen.

      2. Bei uns grüßt das Murmeltier bisher bloß im KINO. Dass es wie der überflüssige Valentinstag zu uns herüberschläft, bezweile ich. Am 8.Mai ist der Tag des Hundes. Der sollte für uns Deutsche reichen.

      3. Das ist tatsächlich eine ziemlich schräge Tradition. Aber in einem Land, das nicht sonderlich reich an Traditionen ist, muss man sich wohl mit so etwas begnügen.

      4. Die Mythen von den Pilgervätern, der Tea Party, den tapferen Cowboys, der Traumfabrik Hollywood und dem Tellerwäscher zum Millionär reichten doch. Noch ein Thanksgiving Turkey obendrauf: gubble, gubble – fertig!

      1. Ja das stimmt wohl. Liebe ist da schon ein zu großes Wort. Ich lebe sehr gerne und mache mir meine Zeit so schön es geht, aber Liebe, ich weiss nicht ob ich das so bezeichnen würde.

      2. 1983 formulierte ich noch: „Meine Liebe zum Leben ist mein Liebesleben. Ich will oberflächliche Abenteuer mit tiefsinnigen Menschen.“ Mehr davon im nächsten Blog-Projekt.

  2. Ich frage mich immer mal wieder warum Menschen Golf spielen. Als meditative Übung kann ich es ja verstehen, aber dafür gibt es ja auch andere Methoden.

    1. Bewegung an frischer Luft tut gut. Für Ehrgeizige ist Spazierengehen zu langweilig. 50% der Golfer haben Probleme im Kreuz. Aber auf 10.000 Golfstunden kommt es bei Amateuren nur zu 4 bis 5 Verletzungen, weiß ‚Impuls‘, die Hauspostille der Migros-Gruppe.

      1. Ich werde diese Theorie über Spaziergänge an frischer Luft gleich einmal ausprobieren, auch wenn (oder gerade weil) es hier bei uns schneit wie seit Jahren nicht 😉

  3. Andere kochen lassen gehört auch zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Also nicht zuhause natürlich, aber um einen Grund haben abends auszugehen auf alle Fälle.

  4. Wenn gerade jemand, der sein ganzes Leben lang körperlich aktiv war, im Rollstuhl landet, ist das immer besonders schlimm. Sich im hohen Alter noch einmal neu zu definieren bedarf ja einer riesigen Kraftanstrengung.

    1. Ich glaube so etwas ist für jeden schlimm, egal welches Leben man vorher gelebt hat, egal wie alt man ist. So ein Schicksalsschlag lässt sich nicht einfach verarbeiten.

      1. Muss aber passieren. Ich sage mir auch immer: So wie’s war, wird es nie wieder. Also akzeptieren oder permanent leiden. Das ist nun mal wirklich ‚alternativlos‘.

      2. Sicherlich. Man muss mit dem Umgehen was passiert. Alles andere ist verlorene Zeit.

  5. Abenteuer mit tiefsinnigen Menschen sind immer spannend. Da gehört die oberflächliche Kategorie auch ganz klar dazu.

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