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Am Teich

#19 – Wie ich lebe

Es gibt so viele einmalige Augenblicke in meinem Leben, schade, dass es, als Ganzes gesehen, bisher so nichtssagend geblieben ist. Die radikalste Art, nicht zu leben, ist es, zu sterben. Mein Weg ist moderater. Nachts, wenn ich im Bett liege und meine Magenschmerzen von dem zu vielen Wein auszuhalten sind, dann bin ich am glücklichsten. Das Einzige, was ich mir noch wünsche, sind unbehelligte Tage und dunkle Nächte mit rauschhaften Träumen. Immer Nacht, kein Licht dringt durch die Rollläden, immer ist es still, kein Nachbarhund, der bellt. Kein Telefon, das klingelt. Kann es auch nicht. Es ist ja abgestellt. – Ich glaube, dann könnte ich das Leben ertragen.

Foto: Privatarchiv H. R.

So aber wache ich auf, sehe Licht durch die Rollläden, der Nachbarhund kläfft, und aus meinem Arbeitszimmer höre ich Stimmen auf dem Anrufbeantworter.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich fühle mich elend, aber es ist auch etwas Wohliges in diesem Befinden: das Bewusstsein, eine einleuchtende Entschuldigung dafür zu haben, alles und jedes zu unterlassen. Bleiben lassen. Loslassen. Jemand ist ohne Hoffnung. Jemand ist zum Tode verurteilt worden. Jemand ist krebskrank: nicht mehr leben wollen, nicht mehr leben dürfen, nicht mehr leben können.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich bin durstlos in der Wüste. Ich trockne aus ohne den Wunsch nach Wasser. Trotzdem. Nicht gelebt zu haben hätte mir sicher auch nicht besser gefallen. Immer hätte ich gedacht, ich hätte da was versäumt. Bei allem Ungeschehenen ist die Frage schwer zu beantworten, ob und wenn, für was es sich ‚gelohnt‘ hätte. Die Besteigung des Himalajas, das Geschichtsstudium, das eigene Kind. Und bei all dem, was war, mag man getrost grübeln, ob es sich gelohnt hat. Die Beschränkung, die Begegnung, die Begierde. Ich kann mir vorstellen, dass für den einen Mann, wild genommen zu werden, eine solche Ekstase darstellt, dass es sich lohnt, dafür zu sterben (natürlich möglichst gleich durch Genickschuss und nicht nach fünf Jahren Aids), und dass es für den anderen Mann so wichtig ist, das Vaterland zu verteidigen, dass es sich lohnt, dafür zu morden. Die Zehn Gebote, der Wegweiser für alles – immer geradeaus: Halbmond, Reventlow, Dürer, Ebert und dann im Kreis rumtraben. Nicht begehren – das ist unmöglich, vor allem ist es nicht erstrebenswert.
„Fremdling, was ist dein Begehr? Wunschloses Unglück?“
Nicht töten: die Fliege, die Ameise, die streunende Katze? Unzählige junge Hunde? Gegner im Heiligen Krieg?
Vater und Mutter ehren: Er ist Zuhälter und abgehauen, sie ist drogensüchtige Nutte. Was stimmt noch?

Foto: Privatarchiv H. R.

Das Licht, das durch meine Rollläden fingert, gibt keine Auskunft über das Wetter. Die Balkontür führt nach Norden, ob es nieselt oder ob die Sonne scheint, ist nicht auszumachen. Hoffentlich nieselt es.
Es ist Vormittag. Irgendwann werde ich aufstehen müssen, Guntram fragen, wie es ihm geht (Schmerzen zu haben tut weh, das ist keine Einsicht), mit Irene beratschlagen, was es zum Mittag geben soll (Tiefkühltruhen zu haben tut auch weh, besonders, wenn man mit feuchten Fingern an etwas Vereistes kommt). Der Druck, mich noch nicht gekümmert zu haben, wächst. Wenn ich gleich etwas Rum mit heißem Wasser trinke, wird es besser werden: Der Magen wird geschädigt, aber betäubt, das Hirn auch. Ich möchte nicht alles erleben, was ich mir vorstellen kann. Das ist weder Genügsamkeit noch Furcht: Das Potenzial meiner Fantasie ist einfach zu groß. Immerhin zwinge ich mich, jedes Erleben, das ich mir nicht hatte vorstellen können, als Bereicherung zu empfinden. Ich muss mir neue Erinnerungen einpflanzen, ich habe Angst, dass mir sonst die Träume ausgehen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Also lasse ich die Rollläden rauf und das Licht rein. Das Bad liegt am anderen Ende des Flurs. Im Wohnzimmer werden Flaschen und Gläser stehen, Keksschachteln, Bonbonpapier. Doch der erste Raum, wenn ich mein schützendes Schlafzimmer verlasse, ist die Küche. In ihr stehen halb volle und halb leere Flaschen rum. Den Entzug wählen oder den End-Zug? Bin ich heute kratzig oder crazy? Ich bin leider der verkehrte Sohn verkehrter Leute geworden, was für Eltern wie fürs Kind gleichermaßen bedauerlich ist. Trotzdem bin ich dankbar. Meine Eltern haben mich früh gelehrt, dass es wichtig im Leben sei, nach oben zu kommen, und so wollte ich immer lieber ein Geizkragen sein als ein Schuhlöffel, aber dann bin ich wohl doch irgendwo in der Gegend der Nabelschnur hängen geblieben – hoch hinaus ist das nicht gerade, aber wenigstens nicht unterhalb der Gürtellinie – oder doch?

Foto: Privatarchiv H. R.

Nun trinke in den ersten lauwarmen Schluck und spüre, wie in mir das Gefühl wächst, alles, was vor 2000 war, altmodisch, unzeitgemäß, verblassend zu finden. Gleichzeitig reagiert mein Magen wohlig gereizt, gleich wird er sich entspannen. Tausend Jahre – ganz schön lange. Was ist zwischen 945 und 1945 nicht alles passiert! Und zwischen 1945 und jetzt erst! Es wird ja alles so virtuell. Über unfähige Vertriebschefs wird sich der Aufkäufer von ‚Universal Classics‘ nicht mehr lange ärgern müssen, weil ihre geigende Mutter ja einfach aus dem Internet abgerufen wird (falls die Homepage stimmt). So spart man sich auch ohne Vivaldi die Retouren in allen vier Jahreszeiten.

Foto: Privatarchiv H. R.

Da fühle ich mich ganz im Jahr 2000: Ob ich Robertdenirovordreißigjahrens Gesellschaft lieber ganz real haben möchte oder es mir bequemer erscheint, mir seine animierende Anwesenheit virtuell vorzustellen – ich neige zur zeitgemäßen Fassung: kein peinlicher Abschied am Morgen, kein Schamhaar am Gaumen; wenn man nicht mehr mag, drückt man F4 (im Gegensatz zu F11, was alles überdimensional vergrößert) und der Computer fragt: „Wollen Sie ‚Unbekannt‘ speichern?“ Wenn ich auf ‚Ja‘ drücke, zwingt er mich, der Angelegenheit einen Namen zu geben, sonst kriegt er die Ablage nicht hin. ‚Robertdenirovordreißigjahren‘ verweigert er mir allerdings sofort, denn mehr als acht Buchstaben kann er nicht, wenn er Überschriften speichert. Ich muss mir also ein Kürzel ausdenken, über dem ich, wenn es auf dem Bildschirm wieder auftaucht, nicht allzu lange rätseln muss, wer oder was sich dahinter wohl verbirgt. In diesem Falle bieten sich also an: ‚Rororeiß‘ oder ‚Bervoren‘ oder ‚Obdenija‘, damit ich es notfalls auch in der richtigen Reihenfolge aussprechen kann. Keinesfalls darf ich 30 tippen; dann erklärt er mir: „Die Benennung ist ungültig.“ Er akzeptiert als Titel nämlich keine Zahlen, sondern nur Wörter. Das ist humaner an ihm, als die meisten Menschen heute sind, und deshalb ist es ja auch kein Wunder, dass allmählich der PC den Hund als den besten Freund ablöst: Jemand, der etwas verweigert, wird immer mehr geachtet als jemand, der um einen Knochen winselt. Menschen mag sowieso kein Mensch mehr. – Verständlich, denn alle Menschen sind von Geburt aus unerträglich. Früher wurden sie mit Peitschen und Stubenarrest erzogen. Jetzt wählt man sanftere Methoden, ohne dass es schlechter klappt. Aber wahrscheinlich werden die Schreibprogramme mir in ein paar Jahren auch alles durchgehen lassen. So, nun bin ich doch den Flur entlang bis zum Bad gestakst.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Gesicht? Verwelkt, teigig. Gemocht hab’ ich es nie. Aber ich habe an ihm gearbeitet. Immer. Immer so gut ich konnte, also meistens hart, erst, um es hart zu kriegen, dann, um es abzumildern. Ich wollte nicht, dass mein Gesicht schlaff wird und habe trotzdem nicht darauf verzichtet zu leben, wie ich gelebt habe – schonungslos und ohne Training. Aber als Prophylaxe habe ich, wenn ich nicht zu erschöpft war, bevor ich ins Bett fiel, ‚Biocura-Visage Antifalten-Schutz NACHT-PFLEGE mit Coenzym Q10‘ von Aldi aufgetragen und tue es heute noch. Erst hatte ich Pickel, dann kamen die Falten. Dazwischen lagen drei Wochen. In denen traute ich mir zu, auch mal wirken zu können, ohne zu reden. Danach habe ich denen, die ich beeindrucken wollte, doch lieber wieder mit meiner Zungenfertigkeit zugesetzt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Als ich noch eitel war, war ich nie mit mir zufrieden. Seit ich mein Gesicht nicht mehr als Sex-Poster einzusetzen versuche, hat es aufgehört, mir wichtig zu sein. Natürlich schminke ich mir, bevor ich zum Teich oder gar ins Elbe-Einkaufszentrum fahre, routinemäßig die vom Saufen rote Nase beige. Ich setze auch mal eine Baskenmütze auf, wenn ich meine ungeschnittenen, ungewaschenen Haare den Verkäuferinnen am Käsestand nicht zumuten will – Irene ruft mir dann immer von der Haustür nach: „Du siehst heut’ so französisch aus!“ –, ansonsten begnüge ich mich mit Rasieren. Ich lasse also den Apparat, den ich Roland 1990 zu Weihnachten geschenkt hatte und der etwa gleichzeitig mit ihm seinen Geist aufgegeben hat, an meinen Putenstoppeln entlangschaben, was eine gewisse blutdruckbedenkliche Rötung am Hals verursacht. Dann schütte ich mir kaltes Wasser ins saubere Gesicht, nur zur Erfrischung.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich kehre ins Schlafzimmer zurück und lege den Trainingsanzug an – ein Museumsstück. Mit Wohlgefallen betrachte ich mein Bett, ohne es zu machen. Seit August habe ich die Bettwäsche nicht mehr gewechselt, und das gruselt jeden, der mir das glaubt. Ich dagegen denke ungerührt nicht nur an das Lotterbett, sondern an all die anderen Kleidungsstücke, mit denen ich mich nicht schmücke: Unterhose, Halbschuhe, Gummistiefel, Overall, Knickerbocker, Schärpe, Muff, Schleierhütchen, Nasenkapuze. Ich habe inzwischen weder Frau Offermann, die sich früher um meine Wäsche kümmerte, noch das Bedürfnis, reinlich zu liegen. So vieles ist unappetitlich: in der Politik, in der Wegwerfgesellschaft, im Recycling. Ich fühle mich geborgen in der Schmuddelei, sie ist die Schwester meiner Lieblingsverwandten: der Schummelei.

Foto: Privatarchiv H. R.

Es ist elf Uhr und an der Zeit, die Treppe des Kutscherhauses hinabzusteigen in die Etage, die meine Eltern bewohnen. Ich öffne die Spiegeltür, ohne mich anzusehen. Bevor ich die Geheimgangstür dahinter öffne, klopfe ich immer laut an, um mit gutem Beispiel nicht gleich voranzugehen, obwohl ich weiß, dass meine Mutter doch weiterhin ungefragt die Treppe zu mir aufsteigen wird, wenn ihr danach ist. Guntram brüllt von weither „Ja!“, Irene hört es nicht. Beide haben schlecht geschlafen und eine kleine Auseinandersetzung darüber hinter sich, wer wem das Leben unerträglicher macht. Ein Teil des Raums, in dem früher unser VW Derby stand, beherbergt jetzt Guntrams Ohrensessel und die massige Unterhaltungsmaschine. Vor dem teuren Fernseher sitzt mein Vater als treuer Fernseher. Aber auch wenn er nicht in die Röhre guckt, hält er sich lieber dort auf als im großzügigen Wohnzimmer. So hat seine neue Bleibe neben dem Salon mit Gartenblick auch wieder ein Hockstübchen zum Hof hin abbekommen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

„Ich habe hier noch die Nudeln von gestern Mittag, etwas Wurst von gestern Abend, Brokkoli von vorgestern und hier, sieh mal, in dieser Schüssel etwas, wovon ich nicht weiß, was es ist. Können wir das verwenden?“, fragt Irene in der Küche. Das Wort ‚verwenden‘ zeugt von großem Feingefühl. Dass es sich allenfalls um Zutaten, nicht aber um die Substanz einer Mahlzeit handelt, ist Irene also durchaus klar, aber das macht nichts. Schließlich hat sie genügend Fleisch und Gemüse in ihren drei Tiefkühltruhen, um, wenn alles bis morgen Mittag aufgetaut wäre, zwanzig Personen spielend vielgängig zu ernähren. Außerdem gibt es ja noch die Mikrowelle. Deren Gebrauchsanweisung hat Hausmeister Candido aber noch nicht genügend verstanden, um das Haus in die Luft zu jagen. Irene benutzt sie trotzdem von Zeit zu Zeit, weil sie sie mit dem Backofen verwechselt. Dann drückt sie einen Knopf; alles im Innern des Gerätes bleibt kalt, aber die Digital-Uhr fängt wieder bei 00:00:00 an.

Bild: zeno.org/gemeinfrei/niederländischer Meister um 1600: Küchenstillleben mit einer Darstellung von Christus und Emmaus  | Titelillustration mit Bildmaterial aus dem Privatarchiv H. R. und von zeno.org (Gemälde)

32 Kommentare zu “#19 – Wie ich lebe

  1. Das Aussehen wird mit dem Alter vielleicht unwichtiger, aber hört man deswegen wirklich auf eitel zu sein? Ich zweifle…

  2. Wer wirklich exzessiv an eine Sache glaubt, der nimmt manchmal auch den Tod in Kauf. Aber ob oder ab wann sich ein Leben gelohnt hat, das kann man so glaube ich nicht beantworten.

      1. Exzess muss natürlich nicht immer auch gleich Ekstase bedeuten. Aber grundsätzlich haben Sie natürlich recht. Dieses exzessive Glauben passt zu den Worten fest und starr deutlich besser.

  3. Menschen sind von Grund auf unerträglich. Mal genieße ich es, während dem Lockdown weniger sozialisieren zu müssen, mal wird es mir alleine langweilig. So ganz eindeutig ist das alles anscheinend doch nicht.

  4. Huch, der verkehrte Sohn verkehrter Leute? So richtig meinen Sie das doch nicht, Sie scheinen doch ein sehr gutes Verhältnis zu Ihren Eltern gehabt zu haben.

  5. Mittlerweile kann man dann wohl sagen, dass das Smartphone der beste Freund des Menschen ist. Ohne Hund können so einige leben, ohne iPhone (oder Samsung Galaxy) die meisten nicht mehr.

    1. Braucht man die denn noch, wenn Gates uns demnächst seine Computerchips implantiert hat? Oder geht’s da wirklich nur um Tracking? 😉

      1. Den Hund braucht es, ebenso wie Freunde und Familie, auch weiterhin. Das macht uns der Lockdown doch gerade wieder einmal deutlich. Mit den Smartphones, das ist natürlich eine ganz andere Sache. Ich bezweifle aber, dass man jemals wieder ohne auskommen wird. Dafür haben wir die Dinger schon viel zu sehr in unseren Alltag integriert.

  6. Ich war mit meinem Gesicht ebenfalls nie ganz zufrieden, aber habe mich trotzdem oft sexy gefühlt. Mich hat immer fasziniert wie sich das von Tag zu Tag ändern kann. Also nicht die physische Erscheinung, sondern das eigene Empfinden.

      1. Sex-Appeal kommt immer auch von Innen, da stimme ich grundsätzlich zu. Aber was ist das dann genau? Ohne die äußere Wirkung klappt’s ja in der Regel trotzdem nicht.

      2. Das liegt ja zum Teil auch im Auge des Betrachters und kann zur Modeströmung werden. Was um 1900 als sexy galt, das es war 1950 nicht mehr und ist es 2021 erst recht nicht.

      3. Das kann man sicher nicht bestreiten. Und was in Singapur das Blut in Wallung bringt, muss in Dänemark auch nicht unbedingt anziehend sein.

      4. Trotzdem gibt es ja neben dem Globalen – Gott sei Dank – immer noch das Lokale. Christine Lagarde kann in Frankfurt nicht nur Sushi essen und Chablis trinken, sondern auch Handkäs essen und Appelwoi trinken.

  7. Hahaha, der Absatz über die Mikrowelle gefällt mir. Ich konnte die Dinger noch nie so richtig leiden. Selbst zum schnellen Aufwäremen kann man ja einfach den Backofen benutzen.

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