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1803
Trinken. Träumen. Trösten.

#2 – Das Ende der versteckten Füße

April 2001

Ich laufe zu wenig, ich lerne zu wenig, ich lache zu wenig. Ich will zu wenig. Ich schlafe zu viel, ich koche zu viel, ich saufe zu viel. Vielleicht will ich zu viel. Eines Nachts war es dann so weit. Es ging nicht mehr. Also fuhr ich: gleich am nächsten Morgen zu Leibarzt Roemmelt, von dort nach St. Georg und am nächsten Tag ins Albertinen-Krankenhaus. ‚Für ein paar Tage‘, dachte ich. Ich denke zu viel. Und mehr noch als ich denke, schreibe ich. Aber das hilft wenigstens. So ist es für die Copy-and-paste-Funktionen meines Laptops und meines Hirns keine sonderliche Mühe, aus dem einigermaßen durchschaubaren Wust meiner Biografie die beiden Male herauszufiltern, in denen das Albertinen-Krankenhaus bereits früher eine bescheidene Rolle in meinem Leben gespielt hatte.


Zuerst im November 1975. Da hatte sich meine Mutter die Ballen an beiden Füßen wegoperieren oder zumindest stutzen lassen, dort im ‚Albertinum‘ (Hamburg, nicht Dresden), weil ihr renommierter Orthopäde da offenbar Hausrecht genoss. Diese Ballenverformungen sind wie auch vaginaler Ausfluss überwiegend ein Problem der weiblichen Menschheit, das die männliche Menschheit nicht aus der Welt zu schaffen vermag, nicht mal durch gesteigerte Ehrerbietung, überproportionale Gehältererhöhungen oder Aufsichtsratsposten ohne Nachweis der Qualifikation. Das Portal ‚Gelenk-Doktor‘ unterrichtet: ‚Die Hallux valgus Fehlstellung führt bei vielen der meist weiblichen Betroffenen zu Gehbehinderungen, Schmerzen und Verlust an Lebensqualität.‘1 Diese Lebensqualität war bei meiner betroffenen Mutter bereits dermaßen abgerutscht, dass sie ihre unvorzeigbaren Gangwerkzeuge am Mittelmeer unter dem Sandstrand versteckte, was den Gebrauch von Liegestühlen bestimmt erschwerte. Natürlich machte sie sich darüber lustig, sie war ja nicht doof. Irene hatte einen bemerkenswert anmutigen, geschmeidigen Gang (filmisch oft festgehalten), der sollte ja nun nicht in immer flundriger werdenden Quanten enden. Zur Selbstironie greift man nur, wenn es wirklich wehtut, aber noch einschneidender als Worte sind Scheren. Also erst Albertinen-Krankenhaus und dann starke Schmerzen. Hatte Irene in den letzten Monaten bereits sowieso auf ihre Lieblingspumps verzichten müssen, so gab es jetzt für den Krankenhausflur bloß noch Pantoffeln statt High Heels. Nutznießer war mein Vater, der es bei der Körpergröße nur auf vier Zentimeter weniger geschafft hatte als seine Frau. Wenn Guntram aufgekratzt war und wie stets ohne Begleitung von Sozialisten, nuschelte er manchmal: „Wenn ich mich auf mein Portemonnaie stelle, bin ich fünf Zentimeter größer.“ Mein Vater und ich besuchten Irene im Krankenhaus: über die Autobahn von den Villen der Elbvororte in die durchmischte Vorstadt. Alles war sehr stimmig: Anfahrt hässlich, Parkplätze hässlich, Gebäude hässlich. Wer als Patient kommt, will gesund werden. Wer als Besucher kommt, mustert.

Am Wochenende zuvor war mir in Berlin bei Karajan-Aufnahmen Roland begegnet. Meine Eltern hatten nicht nur Irenes Fußoperation zu verkraften, sondern auch einen Gast über die Weihnachtsfeiertage. Beides hatte es noch nie gegeben. Zum zweiten Feiertag hatte ich für die beiden Paare – Irene und Guntram, Roland und Hanno – Ballettkarten besorgt: ‚Der Nussknacker‘, Neumeiers gerühmte Inszenierung. Während der Arzt glaubte, Irene würde die Vorstellung in bequemen Schuhen wohl durchstehen, versicherte ich ihr siegessicher: „Nach der Pause wirst du aus der siebten Reihe auf die Bühne stürmen und rufen: ‚Прочь там! Jetzt tanze ich! Aber natürlich nicht die blöde Zuckerfee, sondern mehr was Sacre-iges.‘“ Na, ganz so lief es nicht ab, das sind meine Witze gewohnt, aber von der Staatsoper bis zum ‚Vier-Jahreszeiten-Grill‘ anschließend reichte es doch noch: So weit die Füße tragen. Roland zog vier Wochen später zu mir und fünfzehn Jahre später aus unserem Schlafzimmer auf den Friedhof. Hätte es nur diese fünfzehn Jahre gegeben, dann wäre es trotzdem ein erinnernswertes Leben gewesen, und ein erzählenswertes.

Weitere sechs Jahre nach diesem traurigen Abschied, also 21 Jahre nach Irenes Balletteinlage, hatte ich H. J. Roemmelt, den Hausarzt meines nie gesunden Freundes Pali, auf mich aufmerksam gemacht. Roemmelt kannte mich nun seit zwei Jahren, befand sich also ziemlich am Ende seiner Entdeckungsreise durch meinen Leib und meine Seele und hielt professionelle Hilfe, von außen an meine Person herangetragen, nicht für verkehrt. Solch fachliche Unterstützung bekam ich dann mehr, als dass ich sie gesucht hätte. Beschrieben habe ich das damals innerhalb eines Briefes, in dem es eigentlich um Berlin ging, und zwar so:

1 Quelle:
https://gelenk-doktor.de/fuss/hallux-valgus-operation.html#Wann_wird_der_hallux_valgus_operiert

Am Mittwoch war ich um zwölf Uhr im Albertinen-Krankenhaus mit Doktor Sick verabredet, den mir Roemmelt mit der Bemerkung empfohlen hatte: ‚Wer Sick heißt, versteht was vom Kranksein.‘ Er ist Neurologe, vor allem aber Psychiater. Ihm verdanke ich nach umfassender Anamnese eine Tablette für den Abend (50-Stück-Packung 208,00 DM), nach der ich vor elf Uhr vormittags nicht aus dem Bett zu prügeln bin, und eine preiswertere für den Morgen, die mich den Tag ohne allzu heftiges Seelenleid überstehen lässt. Doktor Sick hält sich im fünften Stock, gleich unter dem Dach, auf. Neben seinem großen Zimmer mit vielen Blumen und hässlichem Blick befindet sich bezeichnenderweise nur noch die Krankenhaus-Kapelle.

Als ich, beschwingt von seinem Zuspruch, vor die Fahrstuhltür trat, um ‚abwärts‘ zu drücken, stand eines dieser Krankenhausbetten an der Wand, darin lag eine ältere Frau, die mich gleich ansprach: „Herr Doktor, wo bin ich denn hier eigentlich?“ Ehe ich dazu etwas Erläuterndes beitragen konnte, trat eine jüngere Frau hinzu und sagte in das Gesicht der Alten: „Der Herr ist kein Arzt.“ Doch schon bevor der Fahrstuhl eintraf, fragte sie: „Was wird denn nun, Herr Doktor?“ „Haben Sie einen Augenblick Geduld“, sagte die Jüngere, „Sie werden gleich abgeholt.“ Der Lift kam, die Jüngere stieg mit mir ein, und als wir abwärts fuhren, erklärte sie mir: „Sie ist nicht ganz richtig im Kopf, sie hält alle Männer für Ärzte.“ Ich nickte bedächtig. Der Fahrstuhl hielt im Parterre. Ich öffnete die Tür. „So, ich komme mit Ihnen“, sagte die Frau, „bei mir sind in der vorigen Nacht alle Fenster zugemauert worden, ich muss mal nach draußen.“

Hier in Berlin sind die Fenster zur Bernauer Straße wieder aufgemauert worden, und ich bin mir unschlüssig, ob ich durch den Fall der Mauer meine Identität eingebüßt oder gefunden habe. Ein Heim, eine Bleibe, ein Gefängnis – derselbe Ort kann alles drei sein, und manchmal müssen sich dafür nicht mal die Mauern ändern, sondern nur man selbst. Mein Zuhause, das wird nun bald schon das Zuhause meiner Eltern sein: Der Sohn bleibt, die Eltern kommen. Frau Wolters später Tod hat die juristische Grundlage dafür geschaffen, dass nun das, was Roland und ich uns einst im Oberstübchen als Mietheim zusammengebastelt hatten, von meinem Vater in voller Höhe erworben und zur Entkernung vorbereitet werden konnte: Für diesen komfortablen Seniorensitz bedurfte es der Salmonellen, die sich Frau Wolter beim Aufwärmen ihres Schweinehacks auf der Heizung zugezogen hat. Rolands Herzstillstand hatte solch räumliche Familienzusammenführung nicht bieten können. Frau Wolter war eine Cousine von Frau Fritze gewesen und der hatte das alles gehört: Villa, Teich, Gewächshäuser, Kutscherhaus, Gärtnerhaus. Ihrer armen Verwandten hatte sie lebenslanges Wohnrecht im Kutscherhaus eingeräumt. Frau Wolter – von meinen gebildeten Freunden ‚Madame Voltaire‘ genannt – war Oberschwester in Neustrelitz gewesen, und es machte die klamme DDR heilfroh, als Frau Wolter in den Westen ausbüxte und keine Rente mehr beanspruchen konnte. Aber das vergammelte Schweinehack …, als Krankenschwester! Nun hatte es aus ihrer Küche immer schon so gerochen, dass Roland und ich uns einig waren: Die brät Ratten in Ohrenschmalz. Aber sie hat doch länger durchgehalten, als es Irene lieb war.

Irene graust sich zwar immer noch vor dem Umzug, aber nicht so sehr wie Guntram, denn sie freut sich auf die neue Umgebung, fern von den Ampeln und Falschparkern des Klein Flottbeker Wegs, der doch, als wir 1953 dorthin zogen, eine Kopfstein gepflasterte Straße war, über die im Sommer die Kühe abends zum Röperhof zurückgetrieben wurden. Nun also entsteht, am Schotterweg, der Rinke-Hof.

Am Samstagabend hatte ich Candido, den Haushofmeister der herrschaftlichen Villa oberhalb meines Kutscherhäuschens, und seine Frau Teresa mit meinen Eltern in meiner Wohnung auf ein Glas Wein zusammengebracht: das portugiesische Ehepaar aus dem Souterrain des Herrenhauses. Candido erschien mit je einer Flasche Wein für Guntram und mich und mit einem Blumenstrauß für Irene. Teresa kam mit einer selbstgebackenen Torte in vier verschiedenen Schichten. Diese Einführung wurde von Irene als günstiges Omen dafür gewertet, dass Teresa in Zukunft bei ihr putzen wird (noch betreut sie die Apotheke des Krankenhauses St. Georg) und dass Candido, der zurzeit die Verantwortung für 200 Mitarbeiter der Reifenfirma ‚Continental‘ trägt, sich vom kommenden Jahr an um Garten, Keller und Haushalt kümmern wird.

Mit ihrer zweiten Annahme behielt Irene recht, mit ihrer ersten nicht.

Titel- und Schlussgrafik mit Material von Shutterstock: Jemastock, zizi_mentos und Sergiy Zavgorodny.

26 Kommentare zu “#2 – Das Ende der versteckten Füße

  1. Ich laufe zu wenig, ich lerne zu wenig, ich lache zu wenig. Ich will zu wenig. Ich schlafe zu viel, ich koche zu viel, ich saufe zu viel… Der Text könnte locker aus Corona-Zeiten stammen.

    1. Oder genau anders herum. Mehr lernen, lachen, machen. Vielleicht dann doch ein bisschen weniger saufen. Zumindest sobald Corona sich beruhigt.

      1. Ging mir ähnlich. Seit der zwangsverordneten Isolation ändert es sich langsam. Immerhin etwas positives 😉

  2. Oha, so ein Hallux valgus ist ja tatsächlich nicht nur unhübsch, sondern auch wahnsinnig schmerzhaft. Meine Mutter hatte da auch ein langwieriges Schmerzenslied von zu singen.

  3. Die Bernauer Straße zu Zeiten des Mauerfalls kenne ich nicht – aber momentan sieht es in der Hauptstadt mitunter gespenstisch aus. Klar, es gibt auch idiotische Corona-Parties im Park, aber dann sind die Straßen auch wieder gruselig leer.

    1. Leere Straßen habe ich bisher kaum gesehen. Jedenfalls scheint sich die Idee des social distancing hier noch nicht so richtig rumgesprochen zu haben.

  4. Fünfzehn Jahre mit der großen Liebe. Herr Rinke, glauben Sie mir, ich beneide Sie ein klein wenig und freue mich ebenso für Sie. Meine eigene Liebe habe ich vor vielen Jahren durch eine dumme Entscheidung gehen lassen.

    1. Momentan frage ich mich übrigens ob die häusliche Isolation Beziehungen eher festigt oder auseinander sprengt.

      1. Nur doof falls man während dem Total-Lockdown zur Einsicht kommt, dass man eigentlich nicht mehr zusammenleben sollte 😉

      2. Haha, oh Gott beware! Ich kenne tatsächlich ein Pärchen, die sich gerade trennen wollten. Die Wohnungssuche hat sich während des Corona-fast-lockdowns allerdings erstmal erledigt.

  5. Oh ein Personalleiter als persönliche Haushaltshilfe? Ich hoffe, dieser interessante Teil der Geschichte wird noch fortgesetzt.

      1. In der Tat. Und Literaten oder bildende Künstler helfen dafür in der Bar um die Ecke aus. Ich würde mir trotzdem wünschen die Geschichte wäre wahr. Es gibt manchmal solche spannenden Entwicklungen, die man sich nie vorstellen würde.

      2. Es war so, wie ich geschrieben habe. Er kümmerte sich um den Garten, sie sich nicht um unseren Haushalt. Seit zwei Jahren leben sie wieder in Portugal. In dieser Woche hatten sie auf Besuch kommen wollen, kamen aber weder raus noch rein.

      1. Ah das verstehe ich. mit persönlicher Verbindung tut sich ein öffentliches Urteil schwerer.

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