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Der grausame Garten

#2 Der Garten

Er ging die Treppe wieder herunter und folgte dem Weg, der zur rückwärtigen Front des Hauses führte. Zwischen die zerbrochenen Steinplatten hatten sich Gras und Unkraut gedrängt. Er musste gebückt gehen, um den tief herabhängenden Ästen auszuweichen. Dennoch schlugen ihm stachelige Zweige ins Gesicht, Dornen ritzten seine Haut. Obwohl er schnell erkannte, wie unsinnig sein Unternehmen war, kämpfte er sich vorwärts und gelangte schließlich auf eine verwitterte Terrasse.
––Vor ihm breitete sich der verwahrloste Garten aus: Ein wirres Dickicht aus Stämmen, Blättern und Blüten, in dem sich nur die Vögel auskennen konnten, die ihr Revier forschend durchstreiften. Das gewaltige Insektenheer schickte seine Spione bis hinauf zur Terrasse, doch ihr Summen verriet sie, und die Vögel verspeisten sie im Flug. Die langen Schatten wiesen nach Osten, wo die schwindende Sonne am nächsten Morgen wieder erscheinen würde. Geräuschlos beugten sich die Sträucher dem Wind. Die Abgeschiedenheit des Gartens wurde von einer geheimnisvollen Kühle durchweht. Modernder Duft lastete wie Müdigkeit auf den Lidern. Einige Grillen zirpten schläfrig.
––Er spürte, wie ihn die betäubende Wirkung des Gartens gefangen nahm.
––Auf solch einem verwunschenen Stück Land muss die böse Fee wohnen, die nicht zu Dornröschens Taufe geladen war, kam es ihm in den Sinn, und es verwirrte ihn, dass er an Märchen dachte.
––Fremde, feindliche Sehnsucht überfiel ihn, sich zu verbergen zwischen diesen wilden Gewächsen, sich abzuschirmen vor Lilly, vor der Polizei, vor der Welt, einen tröstlichen Traum zu schlafen und ihn im Wachen zu wiederholen. Nur den Blättern zuhören, nur die Wolken beobachten und vergessen, dass Essen, Trinken, Atmen, Zeugen und Ausscheiden unerlässlich sind – Zwänge, wie das Leben selbst.
––Die Rastlosigkeit, die er immer mit sich herumgetragen hatte, löste ihre Krallen aus seinem Rücken und flog davon: ein großer, schwarzer Vogel ohne Nahrung. Der eitle Ehrgeiz und all die uneingestandenen dunklen Wünsche wehten auf: dürres Laub, vom Windstoß gepackt.
––Ich bin kein Versager. Nein, ich bin kein Versager!

Ihm war, als ob ihn das Haus wegdrängte, und er bewegte sich widerwillig tiefer in den Garten hinein. Der Boden war sumpfig. Wie unter einem Zwang watete er zwischen den riesigen Farnen hindurch. Hinter ihm schlugen die Äste zusammen. Ein Geflecht von blättrigen Zweigen wölbte sich über ihm und nestelte sich unentwirrbar ineinander fest. Etwas warnte ihn, doch dieselbe lautlose Stimme versprach ihm, dass alle Süße und Bitterkeit seines Lebens hier im Verborgenen darauf warteten, ihm sein Geheimnis anzuvertrauen.
––Von einem knorrigen, alten Baum fiel ihm ein Apfel genau vor die Füße. Er hob ihn auf und biss hinein. Blutiger Geschmack zog sich an seinem Gaumen entlang. Gegen seinen Willen musste er an Schneewittchen denken. Er spuckte das Stück aus und warf den Apfel fort. Aasgeruch stieg ihm in die Nase. Schatten flatterten vorbei. Die Bäume knackten und ächzten. Tückisches Rascheln lauerte im Gehölz. Dämmerung hastete wie ein Grollen durch die Luft und walzte den Weg der Nacht. Zwischen die Blätter wurden Spinnennetze gewebt, um ihn zu ersticken.
––Plötzlich teilten sich die Büsche, und er erkannte undeutlich die Umrisse eines Menschen. Der Wind trieb die Zweige wieder zusammen. Er tappte vorsichtig durch den Morast auf die Gestalt zu. Seine Füße waren nass bis zum Knöchel. Die Hände fühlten sich klamm an. Er fröstelte. Sein Gesicht war zerkratzt und brannte.
––Mit einer energischen Bewegung bog er das Gesträuch auseinander und stand unvermutet vor der Skulptur eines nackten Mädchens. Ein abgebrochener Ast war auf ihren rechten Arm gefallen und hatte ihn mit sich heruntergerissen. Nun griffen die anmutige Mädchenhand und die verdorrte Baumkralle gemeinsam in den Sumpf. Aber nur dem Baum würden neue Finger wachsen.

Er versuchte, das Grauen, das ihn langsam einschnürte, abzuschütteln. Warum war dieser riesige Besitz so verkommen und verwildert? Die verwesten Erinnerungen und Gedanken sprangen ihn an. Sie stürzten auf ihn von den Bäumen herab und krabbelten vom Boden her an ihm hoch. Der Schweiß brannte auf den Kratzern in seinem Gesicht.
––Keuchend irrte er durch das uferlose Dickicht. Er stieß sich die Beine blutig. Die biegsamen Äste peitschten nach ihm, das Gestrüpp zerschrammte seine Arme. Aufgeschreckte Vögel krächzten wütend. Dauernd wechselte er die Richtung. Er prallte gegen Stämme, stieß gegen Steine, Holz. Die Zeit begann gleichzeitig zu rasen und stillzustehen. Jahre vergingen in Sekunden. Dann fing er an zu rennen, er hastete blindlings durch die Dunkelheit, stundenlos. Allmählich ließen seine Kräfte nach. Er stolperte, er taumelte gegen den Boden. Die Hände versanken im Sumpf. So schnell er konnte, rappelte er sich auf. Nur weiter, weiter! Heraus aus diesem schrecklichen Garten! Er begann zu rufen und zu schreien, aber wer sollte ihn hören? Sein Atem flackerte greller als seine Stimme.
––Er fiel jetzt häufiger, mühsam richtete er sich auf, rutschte, glitt wieder aus und kroch weiter wie ein Wurm. Der Schlamm lief ihm ins Hemd, wälzte sich seinen Körper herunter und klebte zwischen seinen Beinen. Er kämpfte weiter und merkte plötzlich, dass er sich gar nicht vorwärtsbewegte, sondern nur tiefer in den Morast eingrub. Sein Puls kochte, sein Verstand gefror. Sein Leib zappelte und zuckte noch ein paar Mal, dann gab auch er auf.

27 Kommentare zu “#2 Der Garten

  1. Ooooooh, Überraschung! Es ist doch der Garten selbst, der sich als grausam erweist. Nicht was der Fremde dort so vorhat!

    1. Ich bin auch überrascht. Vor allem, weil ich erwartet hab, dass der große Twist erst wieder gegen Ende kommt. Falsche Fährte 🙂 Immer gut.

      1. Die Hände! Nach dem gruseligen Ableben eine angenehme Aufheiterung 😉

      1. Es passiert ja vor allem so viel in der Vorstellung. Natürlich beim Hauptdarsteller, aber auch beim Lesen der Erzählung. Das macht ja den ganzen ‚thrill‘ aus.

  2. Erinnert mich irgendwie an alte Edgar Allen Poe Geschichten. Der ein oder andere Twist kommt bestimmt später noch @ Detlev A.

  3. Moment mal, eben war dieser Mann noch ein eiskalter Trickbetrüger und nun schlottern ihm beim Betreten des Gartens sofort die Knie? Was ist denn da los?

    1. Er macht sich etwas vor, so wie alle Personen in seinem Kosmos das tun. Aber bloß er muss außerdem Lilly imponieren. Held sein! Das will er. Einmal nur auf das Siegertreppchen steigen, den Applaus hören. Sieg.

      1. Völlig einleuchtend. Jeder kämpft mit seinen Dämonen. Eben in unterschiedlichster Weise.

  4. Und jetzt ist der gute tot und das wars? Anders als bei Tante Dings und der kleinen Margareta kommt der Grusel im Schnelldurchlauf?

      1. So wie „Der Mann“ im Garten überrascht wird, wird es in der Regel auch der Rinke-Leser 😉

      2. Auf alle Fälle interessant wie unterschiedliche die letzten Geschichten waren. Trotz der gemeinsamen düsteren Auflösungen.

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