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05 – Die Hostie

#2 – Weinbrand

Eine Frau kam durch die Schwingtür, von der Bahnhofshalle her. Sie war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Eine große, dunkle Sonnenbrille, zu groß für das Gesicht, einen energischen, sorgfältig ausgemalten Mund, einen sportlich-eleganten sandfarbenen Rock, eine sandfarbene Bluse, eine Kaschmirjacke, oliv, ein helles Seidentuch, helle Wildlederschuhe mit halbhohem Absatz. Eine große Umhängetasche, ein Louis-Vuitton-Koffer. Sie sah sich suchend um, und es war nicht auszumachen, ob ihre Augen unter der Brille ratlos oder selbstbewusst nach einem freien Platz oder einem entlaufenen Liebhaber forschten. So wenig sie hierher zu passen schien, so zielsicher ging sie, den Koffer in der Hand, auf den Tisch neben mir zu und sagte etwas zu dem Mädchen. Das Mädchen sah gleichgültig auf und nickte kurz. Die Frau stellte ihren Koffer ab und setzte sich. Sie setzte sich auf den Platz dem Mädchen gegenüber, aber so dicht an den Rand des Tisches, dass das Gesicht des Mädchens weiterhin für mich zu sehen blieb.
––Die Frau nahm die Brille ab, steckte sie achtlos in die Tasche, griff eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und rauchte. Das Mädchen beachtete die Frau nicht, aber die Frau schien das Mädchen zu beobachten. Nach einer Weile stand sie auf und holte sich am Büfett ein Tatar, einen Kaffee und – was mir besonders auffiel – einen doppelten Weinbrand. Bei der Hitze!
––Während der folgenden Minuten hatte ich das Gefühl, dass sie immer wieder versuchte, mit dem Mädchen ins Gespräch zu kommen. Das Mädchen ging darauf nicht ein. Es antwortete einsilbig, aber immerhin so deutlich, dass ich ungefähr mitbekam, was sie sagte. Schließlich redete die Frau lange Zeit ohne Unterbrechung, es war ein richtiger Monolog. Sie holte sich später noch einen doppelten Weinbrand und legte irgendwann mal ein silbernes Döschen auf den Tisch, das sie aus ihrer Umhängetasche genommen hatte. Das Mädchen sah neugierig auf die Dose. Die Frau gab dem Mädchen den Inhalt in die flache Hand. Es war eine grüne Kapsel. Ich las deutlich ein Wort von den Lippen des Mädchens ab. Sie starrte eine Weile lang auf die Kapsel und ließ sie dann wieder zurückgleiten in die Dose.
––Die Frau sprach weiter. Zwischendurch nahm sie einen Fotoapparat mit Blitzlicht aus dem Koffer und machte eine Aufnahme von dem Mädchen. Kurz darauf stand sie auf und ging wieder zum Büfett. Sie holte sich einen Fruchtsaft. Während sie dem Mädchen den Rücken zugewandt hatte, nahm das Mädchen mit einem schnellen Griff die Kapsel aus der Dose, packte ihren Rucksack mit der linken Hand und rannte durch die Schwingtür, die zu den Gleisen führte, davon. Als die Frau zurückkam und sah, dass das Mädchen weg war, schien sie außer sich zu geraten. Ich las deutlich von ihren Lippen, dass sie ‚O mein Gott, nein, bitte nicht! O Gott, nein!‘ stammelte. Dann bemerkte sie mich und trat auf mich zu. „Haben Sie gesehen, wo das Mädchen hingegangen ist, das an meinem Tisch gesessen hat?“
––„Ja. Geradeaus, zu den Gleisen“, sagte ich.
––Sie dankte nicht, sondern griff nach ihrem Koffer und lief hastig, in größter Aufregung und Verwirrung hinter dem Mädchen her.
––Die Schwingtür schloss sich. Die Geschichte war zu Ende. Aber nicht für mich. Ich habe immer Papier und Bleistift bei mir, und ich hatte mir jedes Wort aufgeschrieben, das dieses Mädchen meinem Verständnis nach gesagt hatte, denn das Zusammentreffen dieser beiden ungleichen Frauen hatte mich vom ersten Augenblick an gefesselt. Einen Zug hatte ich verpasst. Der nächste fuhr in einer Dreiviertelstunde. Noch in der Bahn zimmerte ich mir im Kopf die Geschichte neu zurecht, aus den paar Sätzen des Mädchens, aus den wenigen Gesten der Frau und aus der dürftigen Handlung.

Am Abend saß ich bei einem Glas Bier vor dem Gasthof unter dem mächtigen Nussbaum. Um mich herum liefen und lachten Menschen. Es gab sogar Musik und Tanz. Das Wort ‚Lärm‘ fiel mir ein. Da schrieb ich, umgeben von Trubel und Stille, die Geschichte dieser Begegnung auf Papier.
––„Ist dieser Platz noch frei?“
––Das Mädchen sah mürrisch auf und nickte widerwillig.
––Sie setzte sich ungerührt, packte ihre Sonnenbrille weg, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete ihr Gegenüber. Sie war hübsch, kein Zweifel. Man muss sie so fotografieren, wie sie jetzt aussieht, genau so. Für die Reportage ist das gerade richtig. Später könnte man vielleicht etwas aus ihr machen. Hellblond, aber nicht zu gelb, das würde gut zu ihr passen. Kupfer ginge auch. Das einzige Problem wäre, wie man den freudlosen Zug um den Mund wegkriegte. Armes Ding. Ob ihr den die Männer schon ins Gesicht gegraben haben?
––Was im ersten Augenblick nur unfreundlich und finster gewirkt hatte, schien bei näherem Hinsehen eher Traurigkeit zu sein, sogar Verzweiflung.
––Mein Gott, da will ich nun eine Reportage über Frauen an Bahnhöfen machen, und gleich beim ersten Anlauf kommen mir Zweifel. Welches Recht habe ich, in dieses Schicksal einzudringen? Welches Recht hat die Öffentlichkeit, welches Interesse? Neugier, Sensationslust, die ich erst schüren muss, um mich und mein Gegenüber zu verkaufen. – Widerlich! Aber vielleicht kann ich auch helfen, ihr und denen, die über sie lesen. Vielleicht finde ich Verständnis und Hilfsbereitschaft für sie. Ich locke die Neugier und wecke das Mitgefühl – meine Begabung, mein Beruf. Sie drückte die Zigarette aus und hielt dem Mädchen die Schachtel hin. „Rauchen Sie?“
––Das Mädchen schüttelte den Kopf.
––War das zu plump gewesen? Wenn ich schon hier bin, könnte ich eigentlich auch eine Kleinigkeit essen. Mein Kreislauf ist auch völlig durcheinander. Ich brauche einen Cognac, was man hier so ‚Cognac‘ nennt.
––Sie ging am warmen Büfett vorbei, sah aber nichts, was sie reizte. Vom kalten Büfett nahm sie ein Tatar – es wird doch wohl frisch sein? –, ließ sich einen Kaffee einschenken, einen doppelten Weinbrand, und ging an ihren Platz zurück. „Eine komische Mischung, was?“, sagte sie.
––Das Mädchen reagierte nicht.
„Kaffee und rohes Fleisch. Verrückt, bei dieser Wärme! Und dazu noch einen, äh, Cognac. Aber ich brauche das manchmal: die absurdesten Mischungen. Was haben Sie gegessen?“
––„Ich habe keine Lust, mich zu unterhalten.“
––„Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?“
––„Was wollen Sie von mir?“
––„Gar nichts. Sie sehen traurig aus. Und an so einem schönen Junitag will ich einfach nicht, dass jemand traurig aussieht. Haben Sie im Fernsehen gesehen, wie überschwänglich Gorbatschow von den Deutschen gefeiert wird? Und Raissa, ich meine, haben Sie schon je die Frau eines kommunistischen Politikers mit so viel Ausstrahlung gesehen? Sie sind zu jung dazu, aber ich erinnere mich noch an Nina Chruschtschowa. – Mein Gott! Ja, wir leben in einer Zeit großer Veränderungen, daran werden auch die chinesischen Machthaber auf die Dauer nichts ändern. Ich meine mit ‚Veränderungen‘ nicht die Frisur und die Garderobe der sowjetischen Präsidentengattin, so einfältig bin ich nicht, obwohl ich für eine Frauenzeitschrift schreibe. Nein, so einfältig bin ich nicht, weil ich für ein Frauenmagazin schreibe. Vielleicht klingt alles, was ich sage, für Sie lächerlich, und wenn Sie Kummer haben, dann kann ich den auch nicht mit meinem Geschwätz wegblasen, das bilde ich mir nicht ein. Im Gegenteil, dann falle ich Ihnen bloß auf die Nerven, und Sie fragen sich, warum ich Sie nicht in Ruhe lasse, mein Zeug esse und weggehe.“

Titelfoto/Collage und Abschlussfoto mit Material von Shutterstock: johan.lebedevski (SB-Büfett), Anna Berdnik (Weinbrand), Tobias Arhelger (Puzzleteile DDR-Denkmal)

23 Kommentare zu “#2 – Weinbrand

    1. Auf alle Fälle sehr aktuell. Wenn wir den Klimawandel in den Griff bekommen wollen, muss Veränderung her. Gerade habe ich bspw. wieder gelesen, dass 88% des Fleisches in unseren Supermärkten Billigfleisch aus prekärer Haltung ist. Da hilft nur Boykott.

      1. Ich bin immer skeptisch, ob der Trend zum Veganismus nicht genauso populistischer Quatsch ist, wie die Verteidigung vom Fleischessen um jeden Preis. Wäre ein bewusstes Mittelmaß nicht der beste Weg?

      2. Überhaupt darüber nachzudenken, was man essen möchte und woher sein Essen kommt, ist sicher schon mal ein Anfang.

  1. Eine Reportage über Frauen an Bahnhöfen ? Hmmm, klingt gar nicht so uninteressant wie man auf den ersten Blick denkt.

    1. Da muss man dann aber auch davon ausgehen, dass der Lippenleser sich ausgerechnet für uns selbst interessiert. Wahrscheinlich nimmt man sich da viel zu wichtig.

      1. Da läuft es dann generell auf eine Angst vor Überwachung hinaus. Die einen stresst das wahnsinnig, den anderen ist auch das egal.

    1. An mitteldeutschen Tankstellen gibt es kein Tatar, nur Hackepeter. Geht gut weg, obwohl rohes Schwein sicher noch heikler ist als rohes Rind. Vegane Fernfahrer sind selten. Der Fortgang der Geschichte wird Einiges erklären und hat wir immer einen Twist, oder zwei.

      1. Im Spiegel stand neulich eine furchtbare Geschichte über den Verzehr von rohem Fleisch in China. Hat mir die Lust auf Hackepeter irgendwie versemmelt.

      2. Ha, Mittlerweile gehe ich sowieso schon immer von ein paar Twists aus 😉 Bin gespannt.

  2. Die spannendsten Geschichten schreibt das Leben heisst es oft. Unsere Phantasie legt aber gerne nochmal eins drauf.

    1. Darum gibt es doch immer wieder Filme etc., die auf einer wahren Geschichte beruhen. Da kommt dann im besten Falle das beste beider Seiten zusammen. Die Unberechenbarkeit unserer Existenz, sowie die unbegrenzte Welt der Phantasie.

      1. Wer eine Geschichte erzählen will, braucht Dramaturgie. Ich denke beim Schreiben immer vom Ende her. Die Natur tut das eher nicht, sie werkelt und wartet. Was Gott dabei treibt, ist umstritten.

      2. Interessanter Einblick. Immer faszinierend zu lesen wie unterschiedlich die Herangehensweisen der verschiedensten Künstler sind.

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