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Am Teich

#22 – Abendprogramm

Wenn ich von meinem sogenannten Mittagsschlaf aufwache, ist es meist so gegen sechs. Ich habe also noch Zeit, in knapperer Form das zu tun, was ich sonst länger getan hätte: schreiben, lesen, telefonieren, bevor ich die Treppe heruntersteige, um mich um das Abendessen zu kümmern. Weil ich Ereignisse mag, hasse ich Stullen. Pizza, Maiskolben, Würstchen – das erscheint mir irgendwie erregender als Bemme mit Aufschnitt. Bedeutung erhält die wurstbelegte Scheibe Brot höchstens dadurch, dass man sie ‚Sandwich‘ nennt.

„Mir ist schlecht“, sagt Guntram, „ich weiß nicht, was das ist, aber seit einer halben Stunde habe ich so ein Gefühl, ich kann das gar nicht beschreiben, es sitzt hier so, wenn ich da drücke, dann, also, es ist nicht direkt ein Schmerz, es ist schlimmer als Schmerzen, es ist so …“, dann verebbt seine Beschreibungskraft, aber nicht sein Elend.
––„Schatz, möchtest du einen Haferschleim?“, fragt Irene. Ihre Stimme klingt fürsorglich, und deshalb möchte ich glauben, dass es nicht ganz so gemein(t) ist, wie es sich anhört.
––„Nein, nein“, sagt er. Die krankenschwesterlnde Grausamkeit schwindet aus Irenes Gesicht, und ich fange an, Brote zu schmieren.
––Familie, Familie. Kleinstfamilie.

Meistens nehme ich ‚Lätta‘, weil die Butter im Kühlschrank lag und zu hart ist. Während ich die Margarine glatt streiche, denke ich an Irenes Gesicht, dann hole ich den Aufschnitt aus der Folie, meist suppt er etwas, aber das lässt sich mit Haushaltsrolle trocknen, störender ist das Gelärme aus dem Fernsehapparat, weil im ZDF die Nachrichten vorbei sind und die Werbung weitergeht. Guntram will zwar tot sein, aber erst, wenn er tot ist. Vorher will er noch um 19 Uhr ‚heute‘ sehen. Die ‚Tagesschau‘ in der ARD läuft erst um acht, da sind Irene und ich zu eifrig damit beschäftigt, das Abendbrotgeschirr ganz säuberlich verschwinden zu lassen, damit Putzfrau Nadira am nächsten Morgen nicht merkt, dass wir gegessen haben, als dass wir Guntram zu seinem Sessel im Hockstübchen hinhelfen könnten. Denn schließlich: Bis zwanzig Uhr fünfzehn, wenn das wirkliche Abendprogramm beginnt und Hannelore Elsner, Iris Berben, Ulrike Folkerts und (schon wieder Hannelore) Hoger als Kommissarinnen den Tatort betreten, bis dahin soll nicht nur die Küche picobello und das aus dem Keller herbeizuschaffende Naschwerk auf dem Tisch sein, nein, ich will schließlich auch meinen Willen durchsetzen, die Leinwand runterlassen, die Rollläden herabfahren, den Projektor starten, die Knöpfe für Satelliten-Empfänger, Digital-Video-Player und Amplifier/Verstärker drücken und dasselbe Programm wie meine Eltern unten oben etwas größer sehen. Für die helleren Zeiten, so ab jetzt, die ich sowieso nicht ausstehen kann, hat mir der Tischler passende Sperrholzplatten angefertigt, die ich in die ‚Gauben‘ genannten Luken der Abseiten fügen kann, damit es so dunkel wird, wie ich es haben möchte. Wenn ich auf eine einsame Insel nur ein einziges Kleidungsstück mitnehmen dürfte, würde ich die Augenbinde wählen. Du merkst es jetzt, Menschheit: Nichts an mir ist tuckig, sonst hätte ich für die Insel doch Strapse oder Boa gewählt.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Im Vergleich zu meinen Eltern kann ich also die Mitesser im Gesicht des smarten Verführers besser zählen, während Irene mehr Kokosflocken wegschluckt. Von Aldi. Guntram nickt von Zeit zu Zeit ein, besteht aber auf dem, was er ‚Krimis‘ nennt, insofern unterscheidet sich oben und unten manchmal nicht nur durch Dimension und Kokosflocken, sondern doch auch durch das Programm. Ich habe mehr eine Schwäche für Historisches, wenn die Frauen, die attraktiven Tunichtguten verfallen und von ihnen ausgebeutet werden, andere Kleider anhaben als die, die man heute so auf der Straße sieht.

Bild: Illustration for ‚Madame Bovary‘ by Gustave Flaubert (1821–1880), published by Gibert Jeune, 1953 (colour engraving), Brunelleschi, Umberto (1879–1949), lizenziert über bridgeman images

Wochen vor dem Börsen-Empfang: Isabelle war auf dem Weg zu einer belanglosen Verabredung mit einer ehemaligen Schulfreundin, die sie alle halbe Jahre mal traf, um sich zu deren Genuss von ihrer Tüchtigkeit erzählen zu lassen, als sie zwischen Parkhaus und Restaurant dieses mattgraue Kleid im Schaufenster sah. Sie war keine Spontankäuferin, ihre Absichten waren immer fest, ihre Gedanken klar und ihre Entscheidungen vorhersehbar. Umso mehr Spaß machte es ihr zu sehen, wie plötzlich dieser seidige Wasserfall bis zu ihren Knöcheln herabrauschte. Sie dreht sich so unaffektiert wie möglich vor dem langen Spiegel hin und her, die dümmliche Schlagerzeile ‚Heut’ gefall’ ich mir‘ kam ihr in den Sinn. Sie sagte: „Gut“.
––Die Verkäuferin sagte: „Steht Ihnen toll! Dieses rote Seidentuch hier würde gut dazu passen.“
––„Nein“, sage Isabelle, „ich will nur das Kleid.“ Es kam ihr vor, als trüge sie die lackierte Tüte wie eine Waffe gegen die Tüchtigkeit ihrer früheren Freundin und jetzigen Bekannten, als sie im schwarzen Kostüm und weißer Bluse das Restaurant betrat.
––Frederike war schon da.
––Isabelle hatte sich durch den Kleiderkauf etwas verspätet. Ihr Begrüßungskuss war so mundlos, dass Isabelle gleichzeitig „Entschuldige!“ sagen konnte.
––„Ich bin auch gerade erst gekommen“, Frederike sah auf die Tüte. „Etwas Neues?“
––‚Was für eine Frage! Schmutzwäsche etwa?‘ Isabelle ließ Frederike in die Tüte spähen, als hüte sie einen Vogel, der davonflattern könnte.
––„Oh! Vom Feinsten. Sicher ganz schön teuer.“
––Auch das war fast eine Frage gewesen, die aber glücklicherweise durch die Frage des Kellners abgelöst wurde: „Darf ich Ihnen einen Aperitif bringen?“
––Restaurants verdienen nicht an Täubchen im Gemüsesud, sondern an den Getränken. ‚Der Heller wird zu Wasser, der Batzen wird zu Wein, ja Wein.‘ Der Gast, der wird zu Geld. Das Geld kommt vom Konto wie das Wasser aus der Leitung. Isabelle kannte es nicht anders.
––„Ein Tuch mit viel Rot würde schön dazu aussehen“, sagte Frederike. „Grau wirkt leicht ein bisschen langweilig.“
––„Vielleicht schlägt mich ja jemand tot, wenn ich das Kleid trage. Nichts ist röter als Blut.“ Sie mochte diesen Einfall. Sie mochte es, dass sie einen Einfall hatte und dazu noch einen, der Frederike ihre Tüchtigkeit vergessen und an ihrem Sherry nippen ließ.
––Einfälle waren sonst immer Eduards Gebiet. ‚Wir legen in Pharmaaktien an. Wir legen eine Brahms-Sinfonie auf.‘
––Isabelle war Wissenschaftlerin, wenn auch nicht ausübende. Sicherheit war etwas, das sie anstrebten musste … sollte … wollte? Spekulationen waren unseriös. Dafür gab es die Börse – Eduard. Gewissheit. Und Rio, der Traum vom Träumen? Ihr war aufgefallen, dass sie Dinge, die sie nicht interessierten, zu vergessen begann. Termine, Namen, die Bedeutung eines Fachbegriffs. ‚Was war dieses eine Wort, das die Seele gesund macht? HERR, Du brauchst es mir nur ins Ohr zu flüstern. Ich bin sehr verschwiegen.‘

Am Abend zeigte Isabelle Eduard das Kleid: sich in dem Kleid.
––„Das hast du dir gekauft?“
––„Ja, warum denn nicht?“ Sie war überraschter als er.
––„Es steht dir. Sehr gut sogar! Du siehst toll aus, keine kann dich schlagen!“ ‚Schlagen – wer – womit? Blöde Wortwahl.‘ Peinliche Pause. „Wann willst du es tragen?“
––Sie hörte das Aber in seiner Stimme. „Anlässe gibt es doch immer. Dafür sorgst du schon. Zu welcher Opernpremiere passt gelbliches Grau? Nicht komisch, nicht tragisch. Grau.“
––Eduard schwieg. Er wollte auf keinen Fall etwas Nichtssagendes sagen.
––„Zur ‚Fledermaus‘?“, fragte sie, um die Stimmung zu retten, und wedelte mit den Armen.
––Sie lachten.
––„Stell dir vor, wir haben an diesem Fonds, von dem ich dir vorige Woche erzählt habe, schon über Hunderttausend verdient.“ Es war so ein Krankenschwester-Wir.
––„Das ist dein Verdienst“, sagte Isabelle. Sie sah von Eduard auf das Ölbild ihrer Urgroßmutter, das nicht ganz so kunstvoll war wie sein wuchtiger, geschnitzter Rahmen.
––„Ach, ‚Verdienst‘“, sagte Eduard. „Was ist das? Ein Orden, weil man einen Präsidenten gerettet hat oder das Killergeld, weil man ihn abgeknallt hat? Wir können hunderttausend ‚Kröten‘ mehr auf den Kopf knallen als vorige Woche, das ist alles.“
Eduard war nun mal ex-zentrisch. Wäre er innerhalb des Kreises gewesen, mit dem ihre Eltern verkehrt hatten, hätte Isabelle ihn bestimmt nicht geheiratet.
––„Neunundneunzigtausendeinhundert“, verbesserte sie ihn.
––„Ich verstehe nicht“, sagte Eduard.
––Isabelle strich an sich herunter. „Das Kleid“, sagte sie.

34 Kommentare zu “#22 – Abendprogramm

  1. Eintausend Euro für ein Kleid ist ein stolzer Preis. Aber bei 100.000€ auf dem Konto fällt das vielleicht nicht so sehr ins Gewicht.

    1. Das wollte ich auch schon sagen. Auch das ist natürlich viel, aber letztendlich hat jeder seine eigenen Prioritäten. Darüber sollte man nicht urteilen.

  2. Margarine hat zwar den großen Vorteil, dass sie leichter zu verstreichen ist, aber auch den großen Nachteil, dass sie furchtbar schmeckt.

      1. Die gab es bei uns auch eine ganze Zeit lang. Mittlerweile bin ich aber wieder zur guten Butter zurückgekehrt.

  3. Ich finde ja immer, dass die Stulle völlig unterschätzt wird. So eine richtig schöne Brotzeit ist doch was tolles!

    1. Ich freu mich schon beim Aufstehen drauf, welche zwei oder drei Belege abends anliegen werden für die Stulle. Mal ein Salatblatt drunter, mal eine Salzgurke daneben, und Susanne Daubner kann kommen.

      1. Bei sehr gutem Käse, oder einer entsprechenden Wurst würde ich mich Judith anschließen. Aber Butterbrote können schon auch ziemlich langweilig sein.

      2. Meine Rede. Eine Stulle schmiere ich mir nämlich auch äußerst selten. Da muss der Kühlschrank schon sehr leer sein. Aber Brot und Butter zum Essen muss dann natürlich doch wieder sein. Vor allem wenn es leckere Saucen gibt, die aufgesogen werden müssen.

      1. Das hat sehr gut funktioniert. Diesen Umberto Brunelleschi muss ich mir mal genauer anschauen.

    1. Nach wie vor werde ich erst gegen 16.00 Uhr mittagsschlafmüde und trotze dem oder nicht. Allerdings schlafe ich auch selten vor 2.00 Uhr nachts. Den Schlaf vor Mitternacht habe ich nie als besonders toll erlebt; den Lesespaß nach Mitternacht schon.

    2. Ich bin momentan auch eher im Homeoffice-Rhythmus. Also später Start, dafür aber schöne lange Abende. Vielleicht ein kleiner Vorteil, den man als Freiberufler hat.

  4. „Sie mochte es, dass sie einen Einfall hatte“ – Haha, das klingt aber nach jemandem, der normalerweise nicht sonderlich viele Einfälle hat.

      1. Als Wissenschaftlerin dürfte sie schon einige interessante Einfälle gehabt haben…

  5. Diese Idee mit der Augenbinde, die kann ich sogar nachvollziehen. Ich brauche immer die richtige Dunkelheit zum schlafen. Ansonsten wache ich regelmäßig auf.

    1. Ohropax habe ich mir abgewöhnt. (Häusliche Stille? Schwerhörigkeit?) Meine Rollläden verfinstern alles. Aber unterwegs muss zur Nacht etwas vor die Augen. Ich bin halt einfach zu hellsichtig!

      1. Man schläft ja tatsächlich besser bei völliger Dunkelheit und entsprechender Ruhe. Das ist ja mittlerweile ausgiebig erforscht. Also ruhig rauf mit der Binde!

  6. Die Menge an Butter im Titelbild ist übrigens sehr originalgetreu. Also so ähnlich sehen meine Butterbrote auch häufig aus 😉

    1. Spätestens seitdem die Butter es auf das Time-Magazine geschafft hat, ist diese Idee, dass tierisches Fett grundsätzlich schlecht ist und unseren Cholesterinhaushalt kaputt macht, doch ziemlich passé.

      1. Über Ernährung kann man ja eigentlich gar nicht streiten. Das Thema ist viel zu emotional aufgeladen. Aber ich achte auch eher auf regionale und saisonale Produkte, als mich zu sehr mit der Unterscheidung tierisch/pflanzlich aufzuhalten.

  7. Solche Dinge, die einen eh nicht interessieren, zu vergessen ist sicherlich kein großes Übel. Erst wenn es an lieb gewonnene Erinnerungen geht wird es haarig.

    1. Wie weit man sein Vergessen beeinflussen kann, weiß ich nicht. Gerade bei besonders unangenehmen Dinge erhält man ja vom Gedächtnis leicht mal ‚lebenslänglich‘.

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