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Am Teich

#27 – Am Teich

Herr Mohrenhaupt war Dekorateur, ein Beruf, der sich mir nicht sofort erschloss, obwohl ich meine Mutter gleich nach unserem Umzug zu ihm begleitet hatte, als sie sich darüber beschweren wollte, dass die Gardinen zu kurz waren. Gardinen mussten nach Irenes Ansicht am Boden aufliegen, und Herrn Mohrenhaupts Ausrede „In Hamburg hat man das so!“ ließ sie nicht gelten. Nun ist ja Kürzen leichter als Verlängern; deshalb gab es wohl ein Problem für Herrn Mohrenhaupt, das ich erst dreißig Jahre später hatte, als der bortenverzierte Nessel vor unserem Wohnzimmerfenster aus der Reinigung kam.

Ebenfalls auf der linken Seite der Ansorgestraße war, dreißig Schritte weiter, vor das einstöckige, weiß gekalkte, einigermaßen würdige Wohnhaus ein würdeloser Holzkasten gesetzt worden. Diese Bude war das märchenhafte Reich von Frau Ziegler. Im vorderen Raum verkaufte sie Kathrin und mir Tusche und Buntpapier. Andere Kunden konnten dort jede Art von Schreibwaren erhalten. Im hinteren Raum wohnte die alte, aber trotzdem pechschwarzhaarige Frau Ziegler, dachten wir jedenfalls. Im Dunkel dort gab es etwas Langgestrecktes, das man in Berlin ‚Chaiselongue‘ genannt hätte, aber hier in Hamburg war ja alles nüchterner, hier hieß das wohl ‚Kautsch‘. Wenn Frau Ziegler nicht bediente, dann war sie im hinteren Teil ihrer modrigen Behausung damit beschäftigt, das zu machen, was Hexen eben so tun, wenn sie keine Lineale oder Radiergummis einpacken. Doch das Bedeutsamste an Frau Ziegler war ihre lebkuchenlose Haustür. Durchschritt man sie, stand man gleich vor dem kurzen Ladentisch, aber vorher, sobald man die Klinke gedrückt hatte, erklang fast gleichzeitig eine Anzahl von Glöckchen, und je bestimmter man die Klinke fasste, desto herrischer verlangte das Gebimmel nach Frau Ziegler. Wenn Kathrin und ich nichts zum Schreiben brauchten, also fast immer, öffneten wir beherzt mit einem kräftigen Ruck die Tür, schrien aus Leibeskräften: „Frau Ziegler! Frau Ziegler!!“, und rannten davon. Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass alle Kinder ganz was Schlimmes sind. Über mich selbst war mir das zwar seit Langem klar, aber ich hielt mich damals noch für etwas Außergewöhnliches. Mit der Zeit lernt man, was normal ist und was nicht. Zuerst weiß man bei dem, was Menschen tun, noch nicht so recht: Ist der ehrlich, meint der das ernst? Was ist falsch? Was ist echt? – Frau Zieglers Haarfarbe bestimmt nicht. – An dieser Stelle gebe ich passenderweise einen kleinen Eindruck davon, wie ich damals zeichnete: So wird deutlich, warum ich mich später besser der Musik und der Literatur widmete als der Kunst.

Verkündigung

Weihnachten

Karneval

Ostern

Später

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Wieder vier weiße Bürgerhäuser weiter, alle vermutlich um 1900 erbaut, ging es sechs Stufen abwärts, also eigentlich in den Keller, kein Souterrain. Dort befand sich das Gemüsegeschäft. Hier musste ich immer Salat, oft eine Gurke und manchmal das kaufen, was in Hamburg ‚Wurzeln‘ hieß. Wenn ich dazu, wie in Berlin üblich, ‚Moorrüben‘ sagte, dann fragte die Verkäuferin prustend: „Mit oder ohne Moor?“, und die anderen beiden Frauen hinter dem Ladentisch kicherten mit.

Foto: Privatarchiv H. R.

Kinder schätzen es nicht besonders, ausgelacht zu werden, und so war es für mich ein großes Vergnügen, mir in schlaflosen Nächten Foltermethoden für die Gemüsefrauen auszudenken. Von den Peitschenhieben und Flammenqualen bekam auch der Fleischer seinen Teil ab, weil der ganz brutal ‚Beefsteakhack‘ sagte, was sehr viel roher klang als das lautmalerisch freundliche ‚Tatar‘. Zugegeben, die Radieschen im Gemüsekeller waren um einiges korpulenter als die von mir gepflanzten in unserem Garten: Die waren wirklich nichts als ‚Wurzeln‘. Und die Süßkirschen der frechen Frauen schmeckten auch besser als die Schattenmorellen unserer sieben kleinen Bäume, die meine Mutter mit Stanniolpapierstreifen und Netzen vor den Staren rettete, um daraus eine Marmelade zu kochen, die ab Weihnachten auf den Tisch kam. Dann war die Konfitüre so fest, dass sie wie ein Dach auf dem Christstollen lag, und die Stare waren in Afrika.

Foto: Privatarchiv H. R.

Gegenüber dem Obstladenkeller stand kein Haus. Stattdessen lag dort schon ein erster Teich, knapp unterhalb des Fußwegs und von Entengrütze fast verdeckt; und weil er niemanden störte, gibt es ihn heute immer noch. Hart an der Straße, jenseits des bedeutungslosen Teichs stand ein strohgedecktes, kleines Backsteinhaus, dessen erster Raum als Milchgeschäft diente. Es stank dort ganz fürchterlich, vermutlich vom Tilsiter oder Harzer, aber der Geruch verleidete mir Milch, die ich sowieso nie besonders gemocht und schon aus der Mutterbrust heraus verweigert hatte, bis zum heutigen Tag. Eigentlich betrat ich den Laden bloß, wenn ich Kathrin begleitete, die sich dort den weißen Sud in eine Aluminiumkanne füllen ließ. Das flächige Gesicht der Verkäuferin war von teuflischem Rosa, ein weiterer Grund, sich von Gemolkenem fernzuhalten.

Foto: Privatarchiv H. R.

Nun mündete die Ansorgestraße endlich in die knappe Strecke, die ‚Am Teich‘ hieß. Zunächst gab es da, diesseits des nur von Weitem sichtbaren Teiches, bloß den Bäcker Mielke, der von Montag bis Samstag drei Brötchen in blassweißer Tüte vor unsere Haustür legte. In Berlin waren das Schrippen gewesen, hier hießen sie Rundstücke. Um halb neun aß Guntram zwei davon, Irene eins. Ich war vom Mädchen schon um Viertel nach sieben mit Haferflocken abgespeist worden.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Am Sonntag, wenn es keine Schule, sondern ein Ei gab, war Brötchenpause. Der Bäcker wurde selten besucht, aber wenn, dann am Samstag für ein Kastenbrot, das getoastet dem Tatar als Grundlage diente und sonntags mit nichts als Butter das Ei begleitete. Oft fiel das Ei allerdings meiner Kommunion zum Opfer; denn wenn ich aus der Kirche kam, waren meine Eltern schon in Aufbruchstimmung: Der Mischwald lockte. Der Bäcker weniger: Mischbrot in Scheiben gab es auch bei Frau Schulte, Vielfalt kam erst später auf, und um uns für Süßes zu interessieren, dazu bedurfte es der hinreißenden Konditorenkünste von Herrn Schmidt aus der Waitzstraße: die Zitronenröllchen, die Rumtörtchen, die Petits Fours. – Irene habe in den späten Sechzigerjahren zehn Kilo zugenommen, sagte sie, und erst eine sechswöchige Grippe, an der sie 1970 ohne ärztlichen Beistand gestorben wäre, glaubte sie, brachte sie wieder zurück auf den geringen Umfang, den sie an sich schätzt.

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Pixabay: VladKK (Kirschen) und Privatarchiv H. R.

36 Kommentare zu “#27 – Am Teich

      1. Irgendwie gibt es da doch auch eine Art Grundeinstellung, die einem hilft. Ich war in Neuseeland zum Beispiel überrascht wie die ältere Generation dort völlig selbstverständlich tagelange Wanderungen unternimmt.

  1. Ei statt Schule klingt super. Bei uns war es nicht so „streng“, dass es nur Sonntags ein Ei gab. Dafür wurde Sonntags statt gekochtem Ei, Spiegel- oder Rührei aufgetischt. So hat jeder seine Eigenheiten.

    1. Ich finde es immer wieder beeindruckend, dass man auf dem Land, wo man näher an der Natur und unter Tieren lebt, eine sehr andere Beziehung zu Fleisch und Tierprodukten zu haben scheint. In der Großstadt, wo man selten etwas anderes als Hunde oder unter Umständen Ratten im Keller sieht, wird man gleich radikaler.

      1. Schon früher aß man – außer 1870 in Paris – keine Ratten in Europa. Aber auch am Prenzlauer Berg dachte bis 1990 nicht jeder beim Anblick einer Wurststulle an Massenviehhaltung und rumänische Fleischzerteiler. Verrohnung auf dem Lande und Sensibilisierung in den Städten gingen Hand in Hand.

    2. Meine Eltern fanden es außerordentlich gewagt, als ich mir ab 18 den Buttertoast zum Ei mit einer Scheibe Schinken zu krönen begann. Als ich 20 war, hatten sie sich zögernd meiner Völlerei angeschlossen.

      1. Hahaha, was sie wohl zu den Brunch-Eskapaden der letzten Jahre gesagt hätten? American Pancakes mit Spiegelei, Bacon und angeröstetem Grünkohl?

    1. Das ist in der Tat war. Das hilft beim Großwerden nicht so richtig weiter. Im Gegenteil, Kinder sind ja richtig schnell verunsichert.

      1. Man muss ja auch nicht übersensibel sein, aber manchmal sind solche ungewollten Begegnungen trotzdem einschneidender als man denkt. Beides ist wahr.

      2. Wer rechtzeitig gelernt hat, auf Spott zu reagieren, hat später oft die Lacher auf seiner Seite. Auch Schlagfertigkeit braucht Herausforderung.

  2. Dekorateur ist so ein interessanter Beruf. Aber ich bin immer fasziniert, dass sich so etwas rentiert. Also dass es genügend Menschen gibt, die es sich leisten können auf jemand anderes Geschmack angewiesen zu sein.

      1. In Amerika fungieren die Präsidentengattinnen ja gerne selbst als Inneneinrichterinnen. Ob’s da trotzdem Assistenzdekorateure gibt?

      2. Melania hat ja nicht nur innen umdekoriert, sondern auch den Tennisplatz erneuert. Also bitte!

      1. Klingelstreiche an der Haustür und am Telefon gehörten zum festen Programm. Beim Handy fällt das jetzt wohl sowieso weg, und in Othmarschen klappte es nur bei den paar fünfstöckigen Mietshäusern der Neuen Heimat: Nur da konnte man genügend viele Bewohner aufschrecken und schnell genug wegrennen.

      1. Im Supermarktregal gehören die manchmal leider nicht zusammen. Auf kleineren Märkten oder in Spezialitätengeschäften schon eher.

      2. Ja das ist so eine Sache. Dieser starke Käsegeruch steht bei mir tatsächlich gleich in Verbindung mit dem Geschmack, der mich erwartet. Ich würde also auch sagen, dass ich diesen Geruch mag.

  3. Im meCollectors Room in Berlin gab es mal eine Ausstellung mit Kinderzeichnungen berühmter Künstler. Die sahen auch nicht unbedingt alle nach einer späteren Karriere aus.

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