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Am Teich

#29 – Lügen

Ich öffne die Pforte, sie geht nach außen auf, ich muss Guntrams Rollstuhl wieder ein Stück zurückschieben, es gibt einen Ruck am Kantstein. „Ach, Gott, nein, Kinder“, schreit Guntram, „nun sagt doch mal selber: Muss das denn noch sein!“ Guntrams Erinnerungen decken sich nicht mit seiner Wirklichkeit.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Die Noch-Lebenden machen es den Noch-Lebenderen schwer, das weiß ich von Roland. Irene versucht ein Gesicht zu machen, als ob sie nichts fühlt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Weihnachten war schon schwierig gewesen. Wie wird Ostern werden? Ohne Verheißung, ohne Aufbruch? Ein abgetakeltes Frühlingsfest, das nicht übergangen werden kann. Es liegt spät in diesem Jahr. Am 23. April, in drei Wochen ist es so weit.

Othmarscher Ostern am Klein Flottbeker Weg, 1979

Russische Ostern in Moskau, 1981

US-Ostern am Hudson River, 1987: drei Monate vor der Katastrophe. Lauter Karwochen. Lauter stille Erinnerungen.

Fotos (8): Privatarchiv H. R.

Leise Erinnerungen. Guntram leidet laut. Ich werde nicht leiden. Ich will es nicht. Am liebsten ist uns der Körper, wenn wir ihn nicht spüren. Schön, mal ein Orgasmus oder ein Gefühl von Sonnenwärme auf der Haut – aber sonst: Den Körper merken, heißt fast immer leiden – Schmerzen, Jucken, Kitzeln. Schwäche, Atemnot, Schleim, Ausscheidungen. Und es gibt kein Entrinnen. Ich habe mich, auf meine unbescheidene Art, so um das Äußerste bemüht, im Fressen wie im Hungern! Aber das Niederziehende ist: Wenn man das Äußerste erreicht hat, muss man das nächste Äußerste erreichen. Im Grunde fängt man immer wieder von vorn an, und die Stationen, die einmal die Entscheidung über Leben und Tod zu bedeuten schienen, wehen vorbei wie früher der Bahnhof ‚Stadtmitte‘, den die Westberliner U-Bahn durchrauschen musste, ohne halten zu dürfen.

Ich schloss die Pforte auf, die vom Zypressenweg zu unserem Grund und Boden führt. Der anschließende Gehweg, vorbei am Herrenhaus, ist zu schmal für uns drei. Erst kommt Guntram, im Sitzen, dann ich, im Schieben, und zum Schluss Irene wie die Nachzüglerin einer Fronleichnamsprozession. Doch dann überholte sie uns, indem sie über den Rasen ging und öffnete die Kette. Ich fuhr Guntram auf seinen Hof. „Wer hätte das gedacht, dass ich mal so enden würde“, sagte er. Irene drückte das äußerste Glied der Kette in den Haken am Pfosten zurück, Candido hatte die Kette stramm gespannt. Es kostete Irene sichtlich Anstrengung, ihr Eigentum wieder gegen den Weg (auch ihr Eigentum) abzugrenzen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Nun waren wir zurück an unserem mit viel Liebe und Geld hübsch gemachten Kutscherhäuschen: Das Fachwerk leuchtete rostbraun zwischen dem weißen Putz, die roten Ziegel waren bloß Fassade über der Styropor-Dämmung, und wo früher die Kutschen gestanden hatten, stand jetzt links der Herd und rechts das Fernsehungetüm. Dazwischen lag die Diele, davor der Rasen.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Ich griff durch das Gitter und drückte den weißen Knopf: Mit einem Summen ging die Tür auf, in Richtung von Guntrams Füßen. Auf dem Weg zur Haustür überholte uns Irene wieder, um aufzuschließen, aber sie fand den richtigen Schlüssel nicht in ihrem Portemonnaie, und so schloss ich mit dem Schlüssel aus meinem Bund auf.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Irene packte Guntram links, ich packte ihn rechts, und so halfen wir ihm heraus aus dem Rollstuhl an seinen Gehwagen: Nun konnte er, auf den Gehwagen gestützt, die Stufe zur Haustür bewältigen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Während ich den Rollstuhl zusammenklappte und am Haus vorbei auf die Terrasse brachte, zog Irene in der Diele Guntram die Jacke aus. An seinem Gehwagen war es ihm möglich, selbstständig seinen gewohnten Platz im Hockstübchen zu erreichen. Dort würde er warten, bis wir ihn zum Mittagessen abholten.

Foto: Privatarchiv H. R.

Guntram ließ sich schwer in den frisch bezogenen Sessel fallen. Er war auf eine zufriedene Art erschöpft: „Das war wirklich schön. Und so durch die Gegend gefahren zu werden, ist auch gar nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Es hat mir ganz gut gefallen, das muss ich sagen.“ Er blickte vor sich hin oder hinter sich her. Irene ging gerührt in die Küche, ich holte ungerührt Wein aus dem Keller.

So hatte ich mir das in der Nacht von Freitag auf Samstag ausgemalt. Aber dann zog ich am Samstag gegen Viertel vor zwölf mühsam die Rollläden hoch: Lider, deren Augen geblendet werden und die sich nur widerwillig öffnen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Es nieselte erbarmungslos, und genauso erbarmungslos schließen die Läden am Teich, der längst der Autobahn gewichen ist, um zwölf Uhr mittags. So unterblieb der von mir angedachte Ausflug. Ich habe ihn mir ausgedacht. Gelogen? Geschummelt? Die Dinge müssen nicht stattfinden, damit man weiß, wie sie sein werden – wenn man weiß, wie sie sind. Dann braucht man bei brennender Neugier als Schneidersfrau auch keine Erbsen zu streuen, über die Heinzelmännchen stolpern können: Es gibt ja Schlüssellöcher.

Isabelle hatte auch gelogen. Sie hatte gar keine Magenbeschwerden. Erst hatte sie versucht, sich vor dem Börsenball zu drücken und dann wollte sie so schnell wie möglich wieder weg von dieser unerträglichen Beschwingtheit. Sie wollte nicht ihrem Darm Erleichterung verschaffen, sondern ihrem Dasein. Deshalb wollte sie ins Bad gehen, denn dort befand sich der Arzneischrank.

Isabelle hatte Furcht vor dem, was nicht mehr stattfand und – so meinte sie – nie mehr stattfinden würde. So sehr war ihre Furcht angewachsen, so unerträglich, so unbezwingbar, dass sie sich das Leben nehmen wollte. Auf den teppichweichen Stufen zum ersten Stock fragte sie sich, ob sie mehr geschmäcklerisch oder mehr überdrüssig sei, überflüssig, ob sie das Recht zu diesem Schritt habe, ob der Zustand, in dem sie sich befand, mit Verzweiflung richtig benannt war und ob sie es wirklich tun würde. Einschlafen, ohne aufzuwachen: das ewige Leben – der Menschheitstraum.

Unten lief die Stereo-Anlage, oben lief das Blut in Isabelles helles Kleid. Das Fenster stand offen. Hätte es eine Gardine gegeben: Sie wäre geflattert. Isabelles Tod war der Tiefpunkt, also der einzige Höhepunkt, in Eduards langem, langem Leben. Von da an war er nur noch schön, gebildet und wohlhabend.

Seine Schönheit nahm allmählich ab, seine Bildung nahm allmählich zu, denn er stapelte immer noch ein bisschen mehr Wissen auf, als er vom früher Erlernten vergaß. Nur sein Vermögen blieb immer gleich: Er gab konsequenterweise alljährlich genauso viel aus, wie er im Vorjahr an Zinsen eingenommen hatte. Das war mal mehr und mal weniger. So war kein Jahr wie das andere: Die Börse ist eine zuverlässige Freundin für den, der Sehnsucht hat nach der Unzuverlässigkeit von Höhen und Tiefen, und das hatte Eduard. Sonst hätte er Isabelle ja gar nicht geheiratet. Und er heiratete auch nie wieder. Schon seit er bewusst gelebt hatte, war ihm klar gewesen, dass er aus all seiner Mittelklassigkeit heraus eine ganz besondere Frau heiraten würde: geheimnisvoll und widerspenstig.
Und natürlich schön, gebildet und wohlhabend.

Isabellfarbe,
soll ihren Namen von der spanischen Prinzessin Isabella, der Tochter Philips II. und Statthalterin der Niederlande, erhalten haben. Diese gelobte nämlich, dass sie ihr Hemd nicht eher wechseln wolle, als bis ihr Gemahl, der Erzherzog Albrecht von Österreich, Ostende, das er 1601 zu belagern begann, erobert habe. Da diese Belagerung drei Jahre dauerte, so wäre wohl hinsichtlich der Farbe die Sage nicht zu bezweifeln. (‚Meyers Großes Taschenlexikon‘, 1999)

Bild (unbekannter Meister des 17. Jh. – Erzherzog Albrecht und Erzherzogin Isabella): Wikimedia Commons/gemeinfrei | Titelillustration mit Bildmaterial aus dem Privatarchiv H. R. und von Frits Wiarda/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Hanno
10. April 2000

33 Kommentare zu “#29 – Lügen

      1. Mich beschäftigt immer, dass man nicht weiß, wie es oben drüber aussieht: Villen, Reichtum, Boutiquen oder Armut, Elend, Mord und Totschlag. Meistens nur Kreuzung mit Ampel, ich weiß. Aber man kann doch träumen…

  1. Im Jahre 1482 soll Königin Isabella von Kastilien übrigens ebenfalls gelobt haben, ihr Hemd erst dann wieder zu wechseln, wenn die Stadt Granada von den Mauren befreit sei. Es bietet sich also noch eine zweite Namensgeberin an.

  2. Den Körper merken, heißt fast immer leiden … das schließt dann aber jegliche Form der Ekstase aus. Da gibt es ja nicht nur Orgasmen.

    1. Da ist dann wohl die Frage: welche Erlebnisse waren einschneidender? Die schmerzvollen oder die ekstatischen? Wahrscheinlich ist das eine sehr subjektive Antwort.

      1. Auch das wird man nicht objektiv beantwortet können, oder? Aber ein Orgasmus ist doch schon einmal ein solcher Moment.

      2. Ist Ekstase denn wirklich ein körperliches Gefühl? Da bin ich nicht so sicher.

      3. Im Deutschlandfunk erzählt der Soziologe Ronald Hitzler „Ich sehe nicht Senioren in großer Zahl ekstatisch werden“ – außer vielleicht in ein paar alten Hippie-Kommunen, „wenn die Leute versuchen, das wiederzubeleben, was sie vielleicht vor 40 Jahren in Goa erlebt haben“. Wieso eigentlich? Wollen wir im Alter keine Ekstase mehr?

      4. Glückwunsch an die alten Goa-Hippies. So manch einer lernt solch ein Ekstase-Gefühl sicher nie im Leben kennen.

  3. Der Weinkeller stammt augenscheinlich aus der Wikipedia-Fotosammlung. Aber viel anders stelle ich es mir bei Ihnen auch nicht vor 😉

      1. haha, schweinewein ist ein super name. den werde ich mir gleich für solch ein wochentagsglas merken.

  4. Eigentlich ganz unabhängig von den heutigen „Lügen“, aber ich wollte einfach mal sagen wie sehr ich mich jedes Mal über die neuen Lesebeiträge freue. Es gibt immer etwas was mich interessiert oder amüsiert. Vielen Dank für Ihr Schreiben!

      1. Ich kann es als nicht-kreativer Leser ja nicht gut beurteilen. Aber gehört dieser Grusel nicht auch dazu? Ich freue mich jedenfalls auch auf die neuen Projekte!

    1. Da kann man sich ja nur anschließen. Und für das kommende Projekt wünsche ich schon jetzt alles Gute. Das wird bestimmt gut werden.

  5. Ha! Gelogen, geschummelt, ausgedacht! Wie viele Geschichten würde es ohne solche Schummeleien nicht geben!

  6. Isabelles Selbstmord macht einen ja fast im selben Maße traurig und nachdenklich wie Eduards ereignisloses Leben.

      1. Der Möder kam Isabella ja zuvor, und so werden wir nie erfahren, ob sie es wirklich versucht hätte und ob es ihr gelungen wäre. Eduard lebt genauso, wie er will.

  7. Wenn man das Äußerste erreicht hat, muss man das nächste Äußerste erreichen. Diese Einstellung gefällt mir. Das klingt auf den ersten Blick vielleicht verbissen oder gierig, aber im Endeffekt geht es doch gar nicht anders. Das Leben geht ja immer weiter. Zumindest bis es nicht mehr weiter geht.

    1. Sobald der eine Wunsch erfüllt ist, tut sich wieder ein neuer auf. Das finde ich auch ziemlich natürlich. Sowas motiviert einen ja auch.

      1. Da kommt es dann wieder darauf an, wie man damit umgeht. Fühlt man sich getrieben oder wie oben vorgeschlagen eher motiviert. Das kann bestimmt gleichermaßen beleben wie lähmen.

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