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0801
Am Teich

#3 – Ein Abschiedsbrief

So, und jetzt hole ich noch etwas weiter aus: Über die Weihnachtsfeierlichkeiten von 1970 am Klein Flottbeker Weg habe ich sehr ausführlich geschrieben. Es ist der einzige Bericht, den ich jemals über diese ‚alle Jahre wieder‘ aufwühlende, abstumpfende Zeit geschrieben habe. Vorhin entdeckte ich diesen Brief an Harald, nachdem er fünfzig Jahre im Wust meiner Aufbewahrungssucht verschollen war. All die darin geschilderten Treffen, Essen, Feiern sind heute für Außenstehende nicht mehr von Belang, und die Teilnehmer sind außer mir alle – alle! – tot. Aber aus der Einleitung möchte ich hier ein paar Absätze zitieren. Wer sich auf ‚Am Teich‘ einlässt, dem wird auch diese Ausschmückung weitere Hinweise darauf geben, was das Ganze eigentlich soll …

Foto: Privatarchiv H. R.

1970

Ich habe dieses Weihnachtsfest ganz bewusst als ein Familienfest erlebt und gestaltet. All das war ein Zusammenfassen der Kräfte und Annehmlichkeiten, die diese typisch christlich-abendländische – oder schlimmer noch: bürgerlich-soziale – Zelle bietet.

Foto: Privatarchiv H. R.

Die Kultivierung eines hochmütig-selbstsicheren Geschmacks bei der Auswahl der Speisen; die Anordnung der Dekorationen im Raum und auf den Tischen; die lässige Gestaltung des Gesamtablaufs innerhalb der Grenzen, für die Ausgewogenheit und eine leicht ironische Eleganz den Maßstab bilden – diese Fähigkeiten und Maßnahmen waren es wohl, die mich retteten und davor bewahrten zu verzweifeln. ‚Feier‘-Tage – eine Aufgabe, bei der viele aufgeben und einfach geschehen lassen. Ich nicht. Ich leugne die Wirklichkeit und schaffe Wahrheit.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich habe es genossen, ich werde es nie vergessen und ich bin nahezu sicher, dass mir ein derartiges Familienleben nicht mehr bevorsteht, dass mit dieser Übereinstimmung, Harmonie und Zuverlässigkeit – die ebenso auf ähnlichen geistig-seelischen Konzeptionen wie auf einem soliden finanziellen Fundament beruhen und wohl auch auf dem Fehlen sexueller Störfaktoren –, mit dieser Demonstration vor sich selbst und nach außen hin ein Punkt erreicht ist, von dem aus es nicht weitergeht und den ich nur zu gerne aufrechterhalten würde, obwohl ich weiß, dass ich es nicht kann.

Foto: Privatarchiv H. R.

Welch günstiger Ausgangspunkt für ein wie auch immer geartetes Abenteuer, wenn man die Musik aus seinem Zimmer, die Vorbereitungen zum Abendessen aus der Küche hört und sich wohlig unter der Dusche windet. Man weiß genau, was man will, dass man es will, aber man kann es sich leisten, das Wollen noch etwas hinauszuzögern, ohne dass es schmerzt. Die Ausgangsbasis, der Hort, in den man zurückkehren wird, lässt unabhängig erscheinen – und korrumpiert.

Foto: Privatarchiv H. R.

Doch nun, mit fast fünfundzwanzig, macht sich langsam eine gewisse Ungeduld bemerkbar, so wenig gezeichnet zu sein, so wenig – nein, nicht ‚geleistet zu haben‘, das wäre falsch – so wenig versagt zu haben. Denn es war ja immer möglich, sich die Wege auszusuchen, wo ein Stolpern bei einigem Geschick unwahrscheinlich, ein unbeirrbares Weitergehen allerdings auch zu kontinuierlich war, um den Wunsch nach überwundener Brüchigkeit und angemessener Eigenständigkeit zu befriedigen. Äußere mehr noch als innere Umstände werden diesem Zustand nun bald ein Ende setzen. Ich bejahe diese Entwicklung, ohne mich auf sie zu freuen. Ich liebe den vagen Zustand, in dem man unbekümmert balancieren kann, jonglieren, spielen, aber ich drücke mich weder vor Verantwortung noch vor Stellungnahme – in gewissem Umfang nicht einmal vor Bekenntnissen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Es ist nicht zu übersehen, dass kein Weg zurückführt in die leichtfertige Familienseligkeit, wohl nicht einmal in die bewusst und planvoll gestaltete. Der Weg führt in eine Art von Einsamkeit, vor der ich erschrecke und die doch notwendig ist für die Entwicklung, von der ich glaube, dass sie mir bevorsteht.

Foto: Privatarchiv H. R.

Nur der auf sich gestellte Mensch ist wach genug, zu erkennen, und stark genug, das Erkannte zu ertragen und zu durchformen. Das mag Trost, Ausflucht, Phrase oder Ziel sein. Ich jedenfalls habe das Gefühl, dass es für mich eine Art Bestimmung ist, und dadurch, dass ich dieser Meinung bin, mache ich es fast unabänderlich. Ganz egal, ob es verschmockt, hochtrabend, einfältig oder sinnlos ist – es wird mein Leben.

Foto: Privatarchiv H. R.

Langsam gelingt es mir, mich darauf einzustellen und Abschied nehmen zu wollen von den Bindungen, an die ich mich – alle außer den Beteiligten meinen offenbar, zu lange – geklammert habe. Doch vielleicht wird das gar nicht notwendig, weil schon die Bereitschaft entkrampft und unabhängiger macht.

Foto: Privatarchiv H. R.

Eine Wandlung kann sich allmählich oder mit einem Ruck vollziehen. Ich lasse mich überraschen von dem, was ich irgendwann für notwendig halten werde. Nur man selbst weiß, ob das Leben, das man führt, richtig ist, denn nur man selbst spürt, ob man sich dabei wohlfühlt. Und wohl fühlt man sich nur, wenn Wirklichkeit und Ausrichtung des Lebens die Möglichkeit haben, einander immer näherzukommen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Jetzt folgen seitenlange Beschreibungen von Personen, Partys, Gerichten und Gesprächen. Am Schluss steht dann:

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Bericht ist zu Ende. Vielleicht habe ich ihn nur geschrieben, um später, viel später einmal nachzulesen, dass es früher anders war, dass ich ein (fast) normales, ‚glückliches‘ Leben geführt habe.
Vielleicht lebe ich nur für die paar Minuten vor meinem Tod, wenn sich alles sinnlos und schmerzlich schön zu dem Ganzen fügt, das ich mein Leben lang vermisste, bevor ich zurücksinke in das Geheimnis, aus dem ich ausgebrochen war, es zu entdecken.

Foto: Privatarchiv H. R.

So weit 1970.

1999: das erste Weihnachtsfest in den neuen Räumen. Wir versuchten, es so üblich wie möglich zu gestalten, nur edler, großzügiger. Der antike Schrank kam hier viel besser zur Geltung als vorher im Arbeitersiedlungshäuschen. Die Tanne daneben störte ein bisschen. Vom nächsten Jahr an würde sie im Garten vor der Terrasse stehen, jenseits der französischen Fenstertüren des Wohnzimmers, gut sichtbar, aber dann schon ohne Guntram. Jetzt also sein letzter Weihnachtskarpfen – meiner auch, der fünfzigste, wenn ich ab dem vierten Lebensjahr zähle. Vom nächsten Jahr an würde es Hummer geben. Guntram hatte immer große Angst vor Gräten gehabt, ich nicht, aber ich schaffte die Tradition ab. Doch 1999 noch: Bach-Konzerte vom CD-Player, das erste Jahr mit elektrischen Kerzen, aber die dreiarmigen Leuchter klassisch bestückt. Ein stimmungsvoller Rahmen für Erinnerungen an schlechtere Zeiten, in denen wir glücklicher waren. Auch Guntram hatte sich inzwischen – vorübergehend – eingliedern lassen. Den ‚Rinkehof‘ nannte er sein neues Domizil nun, doch stolz.

Foto: Privatarchiv H. R.

Zu Silvester trugen mein Freund Bo aus Schweden und mein Freund Giuseppe aus Italien Guntram unter Aufbietung all ihrer Kräfte in meinen ersten Stock, damit wir auf meiner zimmergroßen Leinwand miterleben konnten, wie ausgelassene Menschen in Mantel und Aufbruchsstimmung am Brandenburger Tor ins neue Jahrtausend hineinfeierten. Sie hatten die gute Laune, wir den guten Champagner.

Foto: Privatarchiv H. R.

Leicht verwirrte Leser möchte ich beruhigen, dass ich ab jetzt nicht mehr über meinen Brief vom 1. April 2000 hinausschießen werde, es sei denn, ich kündige es an. Leserinnen sind sowieso nicht so schnell verwirrt.

Bevor ich mich, als es nicht mehr ganz Freitag und noch nicht richtig Samstag war, wie üblich zielstrebig in meine Traumwelt verirrte, fasste ich einen eigentümlichen Plan: Ich würde das Haus am Morgen schon gegen zehn Uhr verlassen, weit vor der Zeit, zu der ich sonst auch nur, notdurftgedrungen, vor die Schlafzimmertür trete, aber ich hasse es so sehr, mich in eine Schlange einzureihen, dass ich dafür sogar bereit bin, ein paar meiner Träume zu opfern.

Sergey Nivens/Shutterstock | Titelillustration mit Bildmaterial von: Champion studio/Shutterstock (links) und Privatarchiv H. R. (rechts)

30 Kommentare zu “#3 – Ein Abschiedsbrief

  1. Wirklich sehr interessant, dieser Brief, den Sie mit 25 geschrieben haben. Ich habe in meiner Jugend zwar auch relativ viel geschrieben, aber alle Briefe oder Tagebücher, die ich noch hatte, sind bei einem Umzug vor vielen Jahren verloren gegangen.

    1. Man kann sich später kaum noch so in seine Gedanken hineinversetzen, wie sie damals waren. Das Wissen, wie es weiterging, verstellt den Blick. Wer 45 erlebt hat, hat 33 nicht Hitler gewählt. Nachträglich.

  2. Oh, „schlechtere Zeiten, in denen wir glücklicher waren“ … vielleicht rede ich irgendwann sogar so ähnlich über meine Corona-Auszeit 🤔

  3. Hahaha, über die Unterscheidung zwischen Lesern und Leserinnen bzw. über deren Eigenheiten würde ich gerne mehr hören!

      1. Danke dafür. Ihre Version ist mir sehr viel sympathischer und obendrein deutlich unterhaltsamer.

      2. Also die Gesellschaft für deutsche Sprache sagt jedenfalls: „Die orthografische und grammatische Richtigkeit und Einheitlichkeit, die (Vor-)Lesbarkeit und die Verständlichkeit eines Textes stehen jedoch an erster Stelle und müssen auch in einer diskriminierungsfreien Sprache gewährleistet sein. Die GfdS rät daher ausdrücklich davon ab, das Gendersternchen und ähnlich problematische Formen zu verwenden.“

  4. Muss die Alternative zu einer „Familienseligkeit“ denn zwangsläufig Einsamkeit sein? Das scheint mir nicht unbedingt notwendig. Aber mit Anfang Zwanzig denkt man da vielleicht schonungsloser.

    1. Seligkeit ist ja vielleicht auch zu viel verlangt, aber ich beneide trotz allem die Menschen, die es schaffen ihr Leben mit Leichtigkeit und Unbekümmertheit zu leben.

      1. Gute Frage. Wahrscheinlich hat man Glück, dass man die eigene Trauerfeier nicht miterleben muss. Ich würde jedenfalls ungern etwas über Gott und sein Himmelreich hören. Wenn ich im Leben schon nicht daran glaube, dann fände ich das einen abstrusen Twist.

  5. „Seitenlange Beschreibungen von Personen, Partys, Gerichten und Gesprächen“ Haha! Beruhigend zu wissen, dass Sie neben Ihren ernsthafteren Texten auch ein völlig normaler Jugendlicher waren.

      1. So habe ich das noch nie gesehen. Der Social Media-Account ist quasi das neue Tagebuch? Nur dass diese Einträge ja nicht unbedingt immer gespeichert bleiben sondern teilweise nach 24Std. wieder verschwinden…

      2. Vielleicht habe ich damals über Zustände und Formulierungen doch etwas gründlicher nachgedacht, als ich das heute den Instagram-Eintragungen entnehme. (Bis auf meine eigenen natürlich …)

      3. Das wird ohne Frage wahr sein. Die Analogie finde ich aber auch passend. Klar, dass heute alles viel schneller und dadurch sicher auch unreflektierter passiert.

  6. Ungeduld mit Anfang Zwanzig ist ja auch richtig und notwendig. Das ist doch eine tolle Energie, die man in solch jungen Jahren hat. Mit dem Alter legt sich das natürlich auch wieder. Mal zum Guten, mal zum Schlechten.

      1. Auch das schadet ja nicht. Völlig angstfreie Menschen sind mir immer ein wenig unheimlich.

      2. Sie wirken seelenlos und eignen sich deshalb besser für Science-fiction-Filme als für die Realität, in der sie wohl auch kaum vorkommen.

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