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05 – Die Hostie

#3 – Salz

Sie begann, das Eigelb und die Zwiebel unter das Tatar zu mischen. „Sehen Sie, wenn Sie einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck machen würden, dann würde ich nur schnell mein Brot essen, meinen Kaffee trinken, aufstehen und weggehen. Aber, verzeihen Sie meine Offenheit, Sie wirken, als brauchten Sie Hilfe, Hilfe und Schutz. Genauso wie ich einmal Hilfe und Schutz gebraucht habe, als ich allein auf einem Bahnhof saß. Damals hat mich auch eine Frau angesprochen. Am Anfang fand ich nur, dass sie mich störte, sie störte meinen heillosen Frieden. Dann hat sie mir sehr geholfen. Seither ist sie meine beste Freundin, noch nach all den Jahren. Ich von mir aus hätte sie damals nie angesprochen. Sie musste mich ansprechen. Ich war eingefroren. Sie hat mich aufgetaut. Von ihr habe ich gelernt, dass man seine Hilfe auch denen weiter anbieten muss, die sie zunächst ablehnen, denn oft brauchen gerade diese Menschen Hilfe nötiger als solche, die immer gleich um Hilfe schreien. Damals habe ich mir vorgenommen, niemanden mehr so unglücklich sitzen zu lassen, wie ich selbst es damals war.“
––Zum ersten Mal sah das Mädchen sie richtig an, erstaunt und ein bisschen unwillig. „Das ist doch verrückt. So kann man das doch nicht machen, einfach so!“
––„Doch! Einfach so. Wie denn sonst?“
––„Sie kennen mich doch gar nicht. Sie wissen gar nicht, wer ich bin.“
––„Vielleicht werden Sie es mir erzählen?“
––„Nein!“
––„Warum nicht?“
––„Weil ich keine Lust habe.“
––Die Frau kleckste sich einen Löffel Senf auf das Tatar und schüttete Salz und Pfeffer darüber. Dann mischte sie das Fleisch, indem sie es mit der Gabel zerdrückte.
––Das Mädchen fühlte sich offensichtlich bedrängt, konnte aber genauso offensichtlich dem Sog der Frage nicht länger widerstehen. „Ich … ich bin heute Morgen erst aus dem Lager gekommen. Ich bin aus der DDR. Das ist alles noch so neu für mich.“
––„Aus der DDR? Sind Sie zu Besuch hier?“
––„Für immer.“
––„Ist das möglich? Einfach so?“
––„Wenn man es lange genug versucht und sich nicht einschüchtern lässt, dann kommt man irgendwann mal raus. Man darf bloß nicht ‚Geheimnisträger‘ sein. Das ist man schnell, aber ich war es nicht.“
––„Und kennen Sie jemanden in München?“
––„Mein Freund wohnt hier. Das heißt, mein Freund wohnte hier …“ Das Mädchen redete nicht weiter.
––„Hat er Sie sitzengelassen?“
––Das Mädchen nickte.
––„Ist er gar nicht erst zum Zug gekommen?“
––„Doch …“
––„Aber er war anders? Er war nicht so wie früher?“
––„Ja.“
––„Sie haben ihn gefragt: ‚Was ist los? Sag mir sofort, was los ist!‘ Und dann hat er Ihnen gesagt, dass da eine andere Frau in sein Leben getreten sei.“
––„Ja, mein Gott, ja!“
––„Er hat gesagt: ‚Ich wollt’s dir erst später sagen, nur, du hast ja gleich gefragt. Aber komm erst mal mit. Wir wollen das Problem nicht größer machen, als es ist.‘“
––„So ungefähr.“
––„Aber Sie haben gesagt: ‚Für mich ist das Problem groß genug, und das Problem bist du. Lass mich in Ruhe! Ich komm’ allein zurecht.‘ Und er hat gesagt: ‚Nun sei nicht kindisch. Ich kann doch nichts dafür. Sowas passiert eben. Es kam alles so plötzlich. Sonst hätt’ ich dir das doch noch irgendwie geschrieben. Weißt du, ich wohn’ nämlich bei ihr. Du wirst sie bestimmt mögen. Sie freut sich schon auf dich. Ich hab’ ihr gesagt, du bist meine alte Freundin von drüben, aus der Schulzeit.‘ Aber Sie haben geschrien: ‚Ich will sie gar nicht mögen! Für dich hab ich alles aufgegeben und über ein Jahr lang gekämpft, weil du mir gesagt hast, komm rüber, und jetzt willst du, dass ich deine Neue mag? Hau ab! Hau schnell ab, sonst schrei’ ich, dass der ganze Bahnhof zusammenläuft. Ich schreie! Ich schreie!!‘ Er hat Sie angesehen, voller Verständnis, voller Trauer, aber ohne etwas ändern zu wollen. Und dann hat er sich umgedreht und ist gegangen.“
––„Sie denken sich wohl gern Geschichten aus?“
––„Ich beobachte. Aber nicht aus der Distanz heraus. Ich möchte Anteil nehmen.“
––„Haben Sie kein eigenes Leben?“
––„Doch, aber ich bin mir dessen bewusst, dass mein Leben nicht für sich allein steht, sondern beeinflusst ist vom Leben der anderen, so wie mein Leben vielleicht das der anderen beeinflusst. – Und Ihre Verwandten sind alle noch in der DDR?“
––„Ja.“
––„Haben Sie schon versucht, sie anzurufen?“
––„Ja, aber es hat sich niemand gemeldet.“
––„Sie werden es wieder versuchen?“
––„Vielleicht. Ja.“
––„Sie werden darüber hinwegkommen. Jetzt ist es furchtbar, aber Sie werden darüber hinwegkommen, ich weiß es.“
––„Ich weiß es nicht. Hoffentlich.“
––
Sie wälzte den Fleischkloß auf die Scheibe Graubrot und schnitt sich ein Stück ab. Vielleicht komme ich doch noch zu meiner Reportage, dachte sie. Natürlich muss ich es ihr sagen. Das wäre unfair sonst. Außerdem brauchen wir ein Foto. Es fehlte Salz. Sie salzte nach. Glutamat wäre noch besser, aber es gab keins. „Am liebsten würde ich Ihnen sagen, dass Sie sich keine Gedanken um ihn machen sollen, dass er es nicht wert ist. Aber wie komme ich dazu? Vielleicht wäre er es ja doch wert. Für immer oder wenigstens für eine gewisse Zeit, jedenfalls für Sie. – Wie lange hat es gedauert, bis ich mich befreit habe aus Bindungen, die im Grunde nur Fesseln waren. Aber Fesseln geben wenigstens Halt. Ich bin, wie gesagt, Journalistin. Ich habe so viele Männer getroffen, bekannte und unbekannte, unbedachte und kluge, und ich sage Ihnen, nicht aus einem Vorurteil heraus, sondern aus Erfahrung: Die meisten Männer haben immer noch viel mehr Probleme mit sich selbst als wir Frauen; trotz allem, was passiert ist, was geschrieben worden ist und was in den Talk-Shows ausgebreitet wird. Wir Frauen haben den schweren Weg der Selbstfindung und des Eingehens auf die anderen um uns herum längst beschritten, aber nur die wenigsten von uns haben es freiwillig getan. Es blieb uns in unserer Situation einfach nichts anderes übrig. Die meisten Männer stehen noch verunsichert herum und wissen nur, dass sie vom Rollenbild her nie mehr das sein werden, was sie noch vor zwanzig Jahren waren. ‚Softy‘, ‚Macho‘, ‚Weichei‘, ‚Macker‘ – alles lustige neue Begriffe, die nichts erklären. Nur in den Kulturen, in denen die Hauptaufgabe der Männer immer noch darin besteht, die Frauen kleinzuhalten, sind sie selber nicht in der Krise. Ungerecht, nicht?“ Sie fegte sich entschlossen durchs Haar. „Vor zwei Wochen haben sie im Iran Khomeini zu Grabe getragen, aber seine Ideologie lebt weiter, nicht nur im Iran, sondern im größten Teil der Welt. Und die Frauen jubeln ihren Unterdrückern auch noch zu! Die Gehirnwäsche funktioniert. Es ist ein jahrtausendealter Mechanismus, der die Männer dazu zwingt, die Frauen zu unterdrücken, und die Frauen dazu zwingt, sich unterdrücken zu lassen.“
––
Der Blick des Mädchens wurde immer unwilliger, aber das schien ihr gar nicht aufzufallen.
––Ihr Vortrag ging weiter: „Gott sei Dank, viele Frauen sind inzwischen aufgewacht, bald werden die Männer sich nur noch gegenseitig unterdrücken können. Jahrtausendelang waren die Frauen bereit, das ‚Sexualität‘ zu nennen, was die Männer darunter verstanden haben, aber jetzt finden die Frauen neue Definitionen, und da bedeutet Macht etwas anderes als vorher, und Liebe bedeutet etwas anderes als vorher.“
––„Sie sagen immer ‚die Frauen‘. Sind Sie keine?“
––„Ich will das nicht nur auf mich beziehen, darum rede ich von uns allen. Immer mehr Frauen erkennen, dass sie nicht nur für den Mann geschaffen sind – als seine Mutter, Geliebte, Dienerin, sondern für sich selbst.“
––„Waren Sie nie verheiratet?“
––„Zweimal sogar. Und ich möchte die Erfahrung nicht missen, nachträglich. Aber zur Ehe bin ich wohl nicht geschaffen. Wie heißt es in der Bibel so schön: ‚Etliche enthalten sich der Ehe, weil sie von Geburt an zur Ehe unfähig sind; etliche enthalten sich, weil sie von Menschen zur Ehe untauglich gemacht sind; und etliche enthalten sich, weil sie um des Himmelreichs willen auf die Ehe verzichten. Wer’s fassen kann, der fasse es!‘“1

1 Quelle: Das Neue Testament, Das Evangelium nach Matthäus, Kap. 19, 12.
Titelfoto/Collage und Abschlussfoto mit Material von Shutterstock: Tobias Arhelger (DDR-Denkmal), Degimages (Salz), MWesselPhoto (Puzzleteile Marihuana)

28 Kommentare zu “#3 – Salz

      1. Es hat sich so viel geändert. Auch die letzten sturen Männer lernen langsam dazu.

  1. Da ist es wieder, dieses absonderliche Ehe-Zitat. Ich finde es immer noch abstrus. Wer’s fassen kann, der fasse es.

  2. Oh je, dass Frauen für den Mann geschaffen sind ist hoffentlich keine allzu verbreitete Meinung. Was für eine komische Vorstellung.

      1. Und trotzdem ist es erstaunlich zu sehen, wie oft die Überbleibsel dieses Konzepts in unserer Gesellschaft noch zu finden sind. Auch wenn die Mehrheit sicherlich sagen würde, dass es ein überholtes ist.

    1. „Die meisten Männer haben immer noch viel mehr Probleme mit sich selbst als wir Frauen.“ Der Satz erklärt doch eigentlich schon sehr viel.

      1. Ich bin ja kein großer Freund der neuen SPD-Spitze, aber Lauterbach wäre sicherlich eine weitaus schlechtere Wahl gewesen. Salz hin oder her.

      2. Ein Neustart, programmatisch nicht personell, ist nach wie vor dringend notwendig. Wenn sich CDU und SPD weiterhin um die Mitte streiten werden die Randgruppen stärker und stärker. Rechts wie links. Ende offen.

      3. Vor allem muss die SPD aus der GroKo raus. Sonst kann man sich schwierig glaubwürdig neu ausrichten.

      1. Mir reicht das rohe Eigelb. Da kann mir auch der Senf gestohlen bleiben.

      2. Das Eigelb macht Tatar geschmeidiger. Ölliebhaber würden sagen: „schleimiger“. Senf geht zu fast allem, trifft aber – besonders an grüner Götterspeise – nicht jedermanns Geschmack.

      1. Unsere Großeltern aßen rohes Schwein (Hackepeter/Mett).
        Unsere Eltern aßen rohes Rind (Schabefleich/Beefsteakhack).
        Wir essen rohen Fisch (Sushi-寿司/Sashimi- 刺身).
        Unsere Kinder essen rohe Radieschen und Bugbohnen (Raphanus sativus/Vigna radiata ).
        Unsere Enkel essen, was ihnen von der Wissenschaft vorgekaut wird.

      2. Die Enkel kriegen nur noch „Beyond Meat“. Geht dann sowohl roh, gebraten, gekocht oder gedämpft.

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