Teilen:

0804
In der Blase  —   Süd nach Südost

#3 – Warum Italien zugrunde geht

Für den weiteren Verlauf der Eskapade mache ich es mir einfach und schreibe – leicht gekürzt – von meinem damaligen Tagebuch ab. Das ist doch viel authentischer und gibt mir außerdem Gelegenheit, noch mal auf Florenz zurückzukommen, obwohl Florenz ja eigentlich schon in meinem Blogwerk ‚Frühling in Florenz‘ abgefeiert worden war. Dr. Rüdiger Nolte war zu dieser Zeit mein Public-Relations-Kollege, bevor er später der Direktor der Freiburger Musikhochschule wurde und ich – noch früher – in Frühpension ging. Wir hatten in München zu tun gehabt, und, schwärmerisch, wie ich nun mal bin, begann ich meinen Bericht so:

Foto: Hans Braxmeier/Pixabay

Bei klarem Himmel über die Alpen zu fliegen ist immer ein Erlebnis. Aber auch bei bedecktem Himmel scheint ja hier die Sonne und die majestätischen Gipfel sind genauso imposant, wenn man die schnuckeligen Täler darunter nicht ausmachen kann.

Am übersichtlichen Flugplatz von Bologna trafen wir auf unseren Kameramann Volker und unseren Art-Direktor Pipo – beide aus Hamburg angereist, etwas müde vom frühen Start, aber zuversichtlich. Abgeholt wurden wir vom Veranstaltungsfachmann Signor Cavicchi, den uns unsere für Italien zuständige Kollegin Rosa Pellizari empfohlenen hatte, weil die wichtigste Schallplatten-Händlerin von Bologna ihn Rosa empfohlen hatte. Signor Cavicchi stand da mit bildhübscher Begleiterin, die er uns als Dolmetscherin vorstellte, und Giuseppe war auch vom Alpenrand angereist, um zum Gelingen des Events beizutragen.

Rüdiger und Volker (oben/v. l. n. r.), Pipo, Rosa und Giuseppe (unten/v. l. n. r.) | Fotos (5): Privatarchiv H. R.

So fuhren wir mit zwei Wagen nach Ferrara: Giuseppe mit Rüdiger und der bildhübschen Dolmetscherin, ich mit Volker, Pipo und Cavicchi vorweg.

Foto: ChiccoDodiFC/Shutterstock

„Der Präsident wird am 19. September auch in Ferrara sein“, sagte Cavicchi so leichthin auf halber Strecke. Ich sah auf die schilfgrüne Weite der Po-Ebene, von Zeit zu Zeit ragte in der Ferne ein spitztürmiger Campanile aus rotem Ziegel in den vom Dunst blass geschminkten Himmel. „Welcher Präsident?“, fragte ich, schließlich gibt es die unterschiedlichsten Sorten von Präsidenten für die unterschiedlichsten Gemeinschaften: von der Häkelvereinsvorsitzenden bis zum Mafiaboss.

Foto oben: Pressmaster/Shutterstock | Fotos unten (3): Privatarchiv H. R.

„Der Staatspräsident von Italien“, antwortete Cavicchi, immer noch wie nebenbei. „Oh“, sagte ich, vielleicht ein bisschen harmlos, „das ist ja sehr gut. Das gibt noch mehr Aufmerksamkeit in den Medien.“ – „Ja“, stimmte Cavicchi zu, „aber irgendwie soll es da auch ein kleines Problem geben, wir müssen im Castello darüber reden.“ Ich nahm flache Fabriken und hohe Pappeln wahr, sonst nichts, und sagen tat ich auch nichts mehr.

Das ‚kleine Problem‘ war eine norditalienisch unterkühlte Ausdrucksweise. Im mir schon bekannten ehrwürdigen Sitzungssaal nahmen Signora Nannini, Eigentümerin von Ferraras wichtigstem Schallplattengeschäft und eigentliche Initiatorin des Events, der Direktor des Teatro Communale, Rüdiger, die bildhübsche Dolmetscherin, Giuseppe und ich Platz, vor allem aber unser Partner vom Castello, ich habe aber seinen Namen sofort vergessen und die Male, die ich ihn gesehen habe, nie rausgekriegt, ob er der Hausmeister oder der Erbe der Burganlage ist.

Zunächst fing er an, spaghettiweich zu reden, und was ich verstand, war, dass der Staatspräsident im Castello wohnen werde und uns deshalb das Schloss entweder ganz oder nur zum Teil oder gar nicht zur Verfügung stehen würde für unsere geplante Veranstaltung mit Händlern aus ganz Europa. Im selben olivenölig bedauernden Tonfall ergänzte der Theaterdirektor, dass der Präsident alle Karten aufkaufen würde und deshalb für unsere Gäste keine übrig blieben. ‚Gott sei Dank!‘, dachte ich, das Ganze fällt aus, eine bessere Ausrede gibt es gar nicht.

Nun aber begann Giuseppe, in erregtem Tonfall auf die Ferrareser Administratoren einzureden. Ich glaubte, so etwas herauszuhören wie: „Kein Wunder, dass Italien zugrunde geht, wenn ausländische Investoren so behandelt werden.“ Die beiden Herren wurden daraufhin auch etwas heftiger, wobei sie sich in gegenseitigen Vorwürfen bei gleichzeitiger Beteuerung ihrer eigenen Unschuld ganz schön in Stimmung schaukelten, immer noch weiter angeheizt von Giuseppes hochfahrenden Einwürfen.

„What do they say?“, flüsterte Rüdiger die bildhübsche Dolmetscherin an. Sie machte eine hinhaltende Handbewegung, lauschte einen Augenblick angestrengt und flüsterte dann zurück: „I don’t understand.“

Ich wollte abschalten und mich auf ein den ganzen Fall abschließendes, ausgedehntes Mittagessen freuen. Aber irgendwie passte mir die ganze Sache doch nicht. Ich verlangte nach einem Telefon und rief Rosa an. Sie rief zehn Minuten später zurück und bestätigte, dass der Veranstalter Mauro Melli alle Karten, die wir bestellt hatten, für uns reserviert hielt. Daraufhin verließ der Theaterdirektor tief enttäuscht unsere Runde, schüttelte jedem die Hand und beteuerte dabei, er habe sowieso mit nichts was zu tun, er stelle nur sein Haus zur Verfügung.

Der Hausmeistererbe lenkte nun auch ein und versprach, so schlimm würde es alles nicht kommen. Natürlich kam es so schlimm, dass wir nicht mal den Innenhof des Castellos betreten durften an jenem 19. September, geschweige denn einen der Säle, aber das wussten wir damals noch nicht, und so klapperten wir treppauf, treppab alle Räume, Balkone, Loggien, Erker und Verließe des monumentalen Gebäudes ab, um uns auszumalen, wo wir stehen, wo wir essen würden, wenn der Präsident dieses oder jenes Zimmer beanspruchen würde, wie Volker im einen und im anderen Fall seine Kamera aufbauen würde, wo Pipo das Podest hinstellen würde, über welche Wendeltreppen man zu seiner Garderobe käme und durch welche kopfsteingepflasterten, steil abschüssigen, unbeleuchteten Gänge man denn das einzige Klo der Anlage erreichen könne. Allein der Gedanke machte mir Durchfall.

Gegen vierzehn Uhr war alles besprochen und skizziert, was zu besprechen und zu skizzieren war. Signora Nannini war die ganze Zeit neben uns hergegangen und hatte uns durch ihr ständiges „Bello, eh?“ nervös gemacht. Nun wollte uns Signor Cavicchi die Alternative zeigen, den Palazzo, in dem, falls alle Stricke reißen sollten, unser Abendessen stattfinden könne. Die Straße vor diesem Stadtschloss war auf einen Kilometer Länge aufgerissen, so dass wir die Wagen in einiger Entfernung parken und uns an dem tief ausgehobenen Graben entlang zu dem Gebäude hinhangeln mussten, Giuseppe trug dabei dankenswerterweise meine Reisetasche, die ich ungern im Auto zurückgelassen hätte. Ich malte mir aus, wie in ein paar Monaten, vom Konzert beschwingt, in lauer Nacht unser eigener Präsident im Smoking und die internationalen Damen in ihren langen Abendkleidern erwartungsfroh hungrig, im Bauschlamm einen Fuß vor den anderen setzend, am Abgrund entlangbalancierten.

Foto: rootstock/Shutterstock

Cavicchi, durch mein Schweigen sensibilisiert, erriet meine Gedanken und sagte: „In zwei Wochen ist das alles hier fertig, der Bürgermeister hat es versprochen.“ Ich hatte schon zu viel erlebt, als dass sich die rechte Beruhigung einstellen wollte. Günstig traf es sich, dass der Palazzo im Gegensatz zu anderen Museen montags geöffnet war, damit von 14 bis 16 Uhr die verdiente Mittagsruhe herrschen konnte. „Da haben wir die ganze Zeit im Castello vertrödelt und jetzt kommen wir hier nicht rein“, sagte ich, inzwischen doch ärgerlich. „Sie lassen uns hier von Deutschland anreisen und nichts klappt! Hätten Sie uns rechtzeitig gewarnt, wären wir gar nicht erst gekommen.“

Er zuckte mit den Achseln wie ein Vogel, der gerade das Fliegen lernt, und entschuldigte sich, dass er das alles auch erst heute Vormittag erfahren habe. Dann verschwand er. Die bildhübsche Dolmetscherin besänftige uns auf meine drängende Nachfrage hin, und erklärte, dass er versuchen wolle, den Schlüssel vom Kustor zu bekommen. Das war beruhigend zu hören, denn wenn er tief gekränkt nach Bologna zurückgefahren wäre, hätten wir ein weiteres Problem gehabt. Eine Stunde liefen wir nun mit den Hühnern um die Wette durch die verwahrloste Gartenanlage, wobei sie fündiger wurden als wir.

‚Das Italiener Huhn ist ein sehr stolzes Huhn, was nicht zuletzt an seiner aufrechten Haltung liegt‘1, weiß ich inzwischen. Damals kam man noch nicht so schnell an Bildung. Heute: ein Mausklick, und man weiß Bescheid.

Foto: underworld/Shutterstock

Die Küche der Emilia-Romagna gilt als eine der besten Italiens, bisher hab ich das allerdings mehr gelesen als geschmeckt. Dieser Aufenthalt hätte die Wende bringen können – wieder nichts.

An Cavicchis Gesichtsausdruck war abzulesen, dass er schlüssellos war, umso lebhafter beschrieb er uns die ungeheure Pracht der Räume, dann gingen wir statt zum Mittagessen zum nächsten Palazzo, alle etwas missmutig, aber besonders Rüdiger, weil er sich die Sitzordnung nicht recht vorstellen konnte. Dieser Palazzo war etwas kleiner. In seinem Innenhof sollten die Fahnenschwenker vor dem Aperitif im ersten Stock Folkloristisches als Auftakt zum Abbado-Konzert für den unwahrscheinlichen Fall bieten, dass uns der Innenhof des Castello nicht zur Verfügung stehen würde. Wir rannten durch alles durch und akzeptierten es als Alternative. Was blieb uns auch anderes übrig?

Fotos oben (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Material von Shutterstock: Flas100 (Filmrolle) und phive (Flugzeug)

27 Kommentare zu “#3 – Warum Italien zugrunde geht

  1. Diese Italien-Berichte machen mich definitiv hungrig. Ich muss morgen doch mal bei meinem kleinen Spezialitäten-Händler vorbei und ein Paket leckere Pasta kaufen.

    1. Na na na, man soll doch während des Lockdowns bestenfalls einmal die Woche zum Großeinkauf vor die Tür 😉 Der schnelle Gang zum Delikatessengeschäft gehört da aber nicht dazu.

      1. Ganz genau. Ich genieße meine tägliche Einkaufsrunde momentan jedenfalls auch sehr. Ein kleines tägliches Highlight im Hausarrest.

  2. Laut Google neigen Italienerhühner schnell zur „Verfettung“ wodurch die Legeleistung enorm eingeschränkt wird. Ob die auch mit Pizza und Pasta gefüttert werden?

    1. Erstaunlicherweise verfetten durch Pizza / Pasta meistens eh nur die Touristen. Die Italiener fallen mir weit weniger durch Übergewicht auf.

  3. Der Staatspräsident kauft alle Tickets auf? So eine Geschichte gibt es doch sonst immer nur in Hollywood-Komödien.

  4. Damals dachte man noch Italien würde zugrunde gehen weil ausländische Investoren schlecht behandelt werden. Heute weiss man, es braucht dazu das Corona-Virus.

    1. Ach Italien geht nicht zugrunde. Die Welt übrigens auch nicht. Jedenfalls nicht jetzt durch Corona. Der Klimawandel und die langfristigen Aussichten sind natürlich ein ganz anderes Thema.

  5. Modena und Parma stehen natürlich schon für gutes Essen. Ob die berühmten Produkte aber auch in den fertig zubereiteten Speisen ihr Versprechen einhalten und die Küche der Emilia-Romagna damit blitzen lassen, kann ich leider nicht aus eigener Erfahrung sagen.

    1. In Modena habe ich mal sehr gut gegessen. Fragen Sie mich aber nicht nach dem Namen des Restaurants…

      1. Massimo Botturas berühmtes Restaurant ist ebenfalls in Modena. Ob es wirklich das „Beste Restaurant der Welt“ ist sei dahingestellt. Zu einer Reservierung würde ich aber auch nicht nein sagen.

      2. Oha! Dann bin ich schonmal gespannt. Seit der Netflix-Dokumentation ist mir der Name jedenfalls auch ein Begriff.

      3. #51?! Jetzt verstehe ich, warum die Vorbereitung dieses neuen Reiseberichtes ein wenig Zeit in Anspruch genommen hat.

  6. Die Variante, in welcher die geplante Veranstaltung durch den Präsidenten des örtlich ansässigen Häkelvereins gestört wird, hätte mich auch interessiert.

    1. Es heißt ja, das Leben schreibt die besten Geschichten. Ich finde, was man sich nicht ausdenkt, passiert nicht. Man muss der Wirklichkeit einen kleinen Schups geben. Vergleiche reichen dafür schon aus.

  7. Frühpension klingt so verlockend. Vor allem gewöhne ich mich in dieser zwangsverordneten Auszeit langsam daran zuhause zu sein.

    1. Mir fallen immer wieder die zwei unterschiedlichen Corona-Typen auf: die einen wissen nach einer Woche nichts mehr mit sich und ihrer Zeit anzufangen, die anderen genießen es fast allein in ihrer Wohnung zu sein.

      1. Über die Analyse sprechen wir nochmal wenn wir wissen wie lange die Isolationsphase dauern wird.

  8. Wenn man so viele Pläne hat, wie ich sie damals, als ich kündigte, hatte, ist frei sein verlockend. Ohne feste Vorstellungen kann das Improvisieren mit der Zeit, der eigenen Zeit, aber auch lähmen statt zu beflügeln. Dass sich meine Tätigkeiten und meine finanzielle Situation doch ziemlich anders entwickelnen als beabsichtigt, hat dazu beigetragen, dass mir auch nach meiner Festanstellung die Mischung aus Niegergeschlagenheit und Überschwang erhalten blieb.

    1. Freiheit ist immer verlockend. Überwältigend und überfordernd kann sie natürlich auch schnell werden. Da kommt es ganz auf die eigene Standfestigkeit an.

  9. Das Castello Estense in Ferrara gefällt mir übrigens sehr. So massiv und ungewöhnlich zwischen den ganzen hübschen Bauwerken Italiens.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

2 × eins =