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01 – Judas

#4

„Und da kam Jesus. Er soll gesagt haben: ‚Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Seine Lehren sollten neu sein und tröstlich. Er brachte Menschen dazu, ihm zu folgen, ihr Leben zu ändern. Ich wollte ihn sehen. Er hatte Wunder getan. Vielleicht tat er auch eines an mir. Ich war so bereit für ein Wunder. Vielleicht nahm er das Böse von mir hinweg und würde mich gut machen. Gut … – Frauen trugen die Krüge heim. Männer trieben die Esel voran. Kinder scheuchten die Hühner. Es war Abend. Ich lief zwischen den Karren hinaus vor das Tor. Mein Herz klopfte, wie damals, als ich zum ersten Mal losgerannt war, um den Gaukler zu sehen, der in den Ort gekommen war. Ich wollte so sehr, dass sich mein Leben ändern sollte, dass der Geist über mich käme, so sehr! Da stand er. Auf dem Feld. Scharen von Menschen um ihn gelagert. Die knorrigen Ölbäume schienen sich ihm zuzuneigen. Im dunstigen Abendlicht waren seine Gesichtszüge nicht zu erkennen. Noch konnte ich seine Stimme nicht hören, nur das Zirpen der Zikaden und das Schlagen der Wachteln. Es war ein Bild, wie ich es weder vergessen noch beschreiben kann. Ich trat näher. Und dann kam der Geist wirklich über mich. Aber anders, als ich es erwartet hatte – als Rausch. Seine Stimme war sanft, erschreckend sanft, ziemlich hell und ein bisschen bedrohlich. Ich empfand sie nicht als gütig, eher als fordernd. Ich hörte wohl, was ich hören wollte.“

29[…] wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.

34[…] Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.

49Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden: […]

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 25,29 | Matthaeus 10,34 | Lukas 12,49

„Wie er das sagte, mit seiner weichen, melodischen Stimme, da wünschte ich mir, dass es schon brennen würde. Alles sollte dieses Feuer mit sich fegen, alles, was mich ängstigte und quälte. Es sollte lodern und flackern. Überall. Ich liebte seine Unbedingtheit. Seine Entschlossenheit.“

26So jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Lukas 14,26

„Alles, was ich von dieser Aufzählung besaß, war ich bereit zu hassen und ihm zu folgen. Warum? Ich weiß es nicht. Er gab Kraft, wo andere schwächten, er gab Weite, wo andere einengten, er gab Trost, wo andere mutlos machten, – mir jedenfalls. Und als die meisten schon wieder zurückgegangen waren in den Ort und nur seine Freunde noch bei ihm waren, trat ich auf ihn zu. Ich muss etwas gesagt haben, denn er antwortete mir. Ich fragte etwas, das ihn in ein Gespräch einwob. Er merkte wohl, dass ich keiner von den Bauern und Handwerkern war, die sonst zu ihm kamen, und es schien ihm zu gefallen. – Ach, wahrscheinlich war es nur meine Eitelkeit, die mich das hoffen ließ. Oder könnte es ihm doch geschmeichelt haben, zu einem gelehrteren Zuhörer zu sprechen? Wir gingen ein Stück langsam nebeneinander her. Nur wir beide. Er redete ruhig, während mein Körper bebte wie die Schenkel der Grillenmännchen, die mit ihrem Zirpen die Nachtluft in Vibration versetzen. Wenn er einen Satz beendet hatte, stellte ich rasch eine neue Frage, aus Furcht vor der Stille – und vor dem Augenblick, in dem er würde umkehren wollen. Er spürte meine Erregung und meine Bereitschaft. Plötzlich blieb er stehen und fragte: ‚Willst du uns begleiten?‘ Es war eine unerhörte Frage. Fast wie die Frage nach der Ehe, obwohl er ‚uns‘ gesagt hatte. Das ‚uns‘ fiel mir gleich auf. Erst später sann ich darüber nach, ob er ganz bewusst ‚begleiten‘ gesagt hatte und nicht ‚mitgehen‘. ‚Begleiten‘ hält einen gewissen Abstand. Ich hatte diesen Abstand nicht. Ich sagte: ‚Ja‘. Und da nahm er einfach meinen Kopf und küsste mich. Ich spürte sein langes Haar und seinen Bart. Vor allem seinen Bart. Ein eigentümliches Gefühl. Und ich küsste ihn auch. Er sagte, er sei hungrig. Wir sollten zusammen etwas essen gehen. Dann machte er mich mit seinen Freunden bekannt. Ich nahm sie kaum wahr in der Dunkelheit, aber sie waren freundlich. Endlich eine Nähe, aber auch ein Taumel. Wir gingen zusammen in die Herberge. Sie aßen viel und tranken noch viel mehr. Das gefiel mir. Sie würden auch Schmuck und Blumen lieben. Und das Leben.“

25[…] wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; […]

Nun, man darf nicht alles so wörtlich nehmen.

25[…] wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 16,25

Judas sah zur flachen Decke, als könnte er sie mit seinen Blicken emporheben. „O Jesus, dann werde ich mein Leben finden!“ Er senkte den Kopf wieder.
––„Einer sprach mich an und sagte: ‚Wenn du Kaufmannssohn bist, dann verstehst du sicher etwas von Geld.‘
––Ich zuckte die Achseln. ‚Ja. Ein wenig.‘
––‚Willst du dann nicht unsere Kasse führen?‘
––Ich sah zu Jesus hin und sah nur Augen. Er widersprach nicht. Ich war stolz, gleich eine Aufgabe zu erhalten, noch dazu eine so verantwortungsvolle, und ich war überglücklich, dass er mich haben wollte. Vielleicht hatte er ihnen den Hinweis schon auf dem Weg vom Feld her gegeben, planvoll, nein, wahrscheinlich nicht. Aber es wurde mir zum Verhängnis, denke ich jetzt. Für mich blieb der Beutel, für sie blieben die Herzen.
––‚Willst du das für uns tun?‘, fragte Jesus.
––O ja. Ja. Ich hätte alles getan. Ich hätte ihn nie verlassen. Wir gehörten doch zusammen. Von Anfang an. Seit wir zusammenlebten. Die Tränen meiner Mutter, die Flüche meines Vaters, die Bitten meiner Geschwister, alles ertragen, alles vergessen. Die ungewohnte Armut, die ungewohnte Arbeit, Gleichgültigkeit und Verachtung statt Ansehen und Ehrerbietung, alles aufgewogen durch das Glück seiner Worte, seiner Nähe. Nie habe ich mich zurückgesehnt nach meiner Familie, meinem Elternhaus. Oder ich habe es mir nicht erlaubt, mich zurückzusehnen. In keinem noch so bangen Augenblick. Nichts habe ich bereut, alles ertragen.
––Und er? Vielleicht hat er es genossen. Es muss ihn stolz gemacht haben.
––Ich habe mehr aufgegeben als die Fischer und Tagelöhner. Ich war der reiche Jüngling seiner Gleichnisse, nur, ich habe seine Gebote befolgt. Und Gebote gab es genug. Das Prinzip war: Drohung, Lohn und Strafe. Genauso, wie ich es von früher gewohnt war, wenn auch anders gewandet.“

11[…] wer sich selbst erhöht, soll erniedrigt werden; […]

16Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. […]

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Lukas 14,11 | Matthaeus 20,16

„Wer bin ich in dieser Kette? Ich war Erster und bin jetzt Letzter. Werde ich wieder Erster werden? Uns, seinen Jüngern, die ihm treu ergeben waren, weissagte er eine glorreiche Zukunft, das gab uns Stärke.“

28[…] Ihr, die ihr mir seid nachgefolgt, werdet […] auch sitzen auf zwölf Stühlen […].

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 19,28

„Damals war ich gläubig ergriffen. Jetzt frage ich mich: Wozu soll ich dort sitzen? Das Himmelreich ist nicht für mich gemacht: Ehrfürchtiger Lobgesang, geschlechtslose Engel – so bin ich nicht.“

19Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb; weil ihr aber nicht von der Welt seid, […], darum haßt euch die Welt.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Johannes 15,19

„O ja, ich bin von dieser Welt. Warum hasst mich die Welt trotzdem?“

40[…] wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, habe das ewige Leben; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Johannes 6,40

„Ich glaubte an ihn. Und ich werde doch nicht geweckt werden. Werde ich einfach weiterschlafen können?“

Titelgrafik mit Material von Shutterstock: rudall30

26 Kommentare zu “#4

  1. Man darf nicht alles so wörtlich nehmen! Hallelujah! Ein Credo für unsere politisch korrekte Zeit und ‚woke culture‘.

      1. Worte haben immer Auswirkungen, genau wie Taten. Aber wenn man alles Gesagte auf die Goldwaage legt, hilft das auch nur in den seltensten Fällen weiter.

  2. Ein bisschen ab vom Thema, ich habe gestern Abend zum ersten Mal Russels Skandalfilm „Die Teufel“ gesehen. Eine gute Erinnerung was im Namen der Kirche für Schandtaten begangen wurden.

  3. Er gab Kraft, wo andere schwächten, er gab Weite, wo andere einengten, er gab Trost, wo andere mutlos machten. Das sollte die Essenz des Christentums sein. Ein Leitfaden wir wir alle miteinander umgehen.

    1. Ist mir auch weitaus sympathischer als ‚Wer sich selbst erhöht, soll erniedrigt werden‘ und ähnliche Bestrafungs- / Angstszenarien.

      1. Wie es halt oben beschrieben wird: Drohung, Lohn und Strafe. So kenne ich es leider auch eher aus der Zeit, als ich noch regelmäßig in die Kirche gegangen bin.

      1. Ich bin immer noch für ein volles, aufregendes, wildes Leben … und danach einfach Ruhe.

      2. Ewiges Leben klingt wie auch Ewiger Orgasmus zunächst wenig erstrebenswert. Aber die Ewigkeit des Augenblicks ist sicher mit unseren Sinnen gar nicht zu erfassen. Ob es sie gibt oder nicht geht uns in unserer Dimension also nichts an. Als Rätsel bleibt, dass und warum wir Unendlichkeit als Begriff denken können.

  4. ich erinnere mich gar nicht mehr richtig, was mit judas nach dem verrat passiert. der weitere verlauf des blogs wird mir wohl auf die sprünge helfen…

  5. Man dachte vor einer Weile die Religion wird unwichtiger und unwichtiger. Mittlerweile sieht es so aus, als ob das Gegenteil wahr ist. Nur ein Gedanke…

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