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0908
In der Blase  —   Süd nach Südwest

#44A – Exkurs: Bewusstsein und Selbstbewusstsein

Der Nachmittag war natürlich dem Weltkulturerbe gewidmet. Jedenfalls für Silke und Rafał. Der Nebeneingang zur Kathedrale Santa Maria Nuova befindet sich wenige Schritte entfernt von unserem Palazzo, aber ich traute mir den Weg durch den Kreuzgang zu den byzantinischen Mosaiken nicht zu. Unverständlich für mich, jetzt, da ich Monate später darüber schreibe. Die Kirche ist der ‚Aufnahme Mariens in den Himmel‘ gewidmet, weihevollem Quatsch also, aber sie war 1966 und 1974 das Eindrucksvollste, was ich auf Sizilien gesehen hatte. Und jetzt? Unbedingt wollte ich, dass Silke und Rafał diese Atmosphäre auf sich wirken lassen. Wieso ich mich drückte, das verstehe ich nicht. Stattdessen wohnte ich mein Palastzimmer ab. Gucken und Denken geht ja gleichzeitig. Die Augen schließen und wegdenken ist auch eine Möglichkeit.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Kirchen. Die Kirche. I am so fucking catholic: Immer wollte ich weihevollen Sex und lustrasende Enthaltsamkeit. Wenn ich ehrlich bin, hat mich nie etwas anderes interessiert als Sex. Das habe ich oft gedacht und nie gesagt. Mir gefiel die Unbedingtheit dieses Satzes. Leider – glücklicherweise – stimmt er nicht. An anderer Stelle habe ich mal geschrieben: ‚Ich habe alles erreicht – bis auf das, was ich wollte.‘ Gefällt mir als Satz auch sehr gut und stimmt vielleicht sogar. Fast am Ziel? Nie am Ziel? Schon mit achtzehn habe ich über mich keck formuliert: ‚Ich bin zufrieden mit der Ungenügsamkeit.‘ Flausen, Ansprüche, Genialitätsirrsinn.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Vater hatte Gott sei Dank keine ausgeprägten Talente, meine Mutter auch nicht. Sonst wären sie womöglich irgendetwas geworden, was ihnen wichtig gewesen wäre, aber Hartz-IV-Äquivalent bedeutet hätte: (Maler*in oder Regisseu*r*se oder sowas). Dann wäre ich nicht in diszipliniert sparsamen, sondern in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Oder ihr Talent hätte sie berühmt gemacht. Noch schlimmer! Dann wäre ich der beäugte Spross fantastischer Eltern geworden: verzogen oder verwahrlost oder von Erwartungen zermartert. Als ich ein Klavier haben wollte, staunten meine Eltern. Erst mal bekam ich ein geliehenes für meine Finger. Verständlich, denn den gekauften Fußball, den mir mein Vater angedient hatte, trat ich nur halbherzig mit Füßen. Jetzt keine zweite Verschwendung! In Leopold Mozarts Haushalt stand ein solch bespielbarer Gegenstand ja ganz selbstverständlich herum, und überhaupt: Arme Leute haben immer viel mehr Genies produziert als die jeweiligen Eliten. Auf der anderen Seite ist es doch erfreulicher, unbedeutend, reich und glücklich zu sein, als bedeutend, arm und unglücklich zu sterben. Das tröstet.

Fotos (3): gemeinfrei/Wikimedia Commons/Wilhelm Busch

Die Kirche oder nicht die Kirche? Das ist die Frage. Menschen sind verrückt nach einer regelnden Instanz. Alles muss einen Sinn haben: das Leben, der Tod, die Petersilie in der Suppe. Eines der eingängigsten Gewürze im Topf ist die Aussicht, dass der Tod nur vorübergehend ist. Da schmeckt das Leben gleich noch mal so gut. Offenbar. Auf mich wirkt es merkwürdig, dass die christliche Lehre – wie alle anderen Glaubensrichtungen – den Tod als Ende des menschlichen Lebens leugnet. Der Tod ist doch die einzig mögliche Erlösung, nein? Nein. Die Religionsstifter haben erkannt, ewig zu leben finden die meisten Menschen noch schöner. Wie und als was, das kommt später. Also bleib still und glaub! Wird schon stimmen. Dieses dauernde Nachgefrage heutzutage geht einem wirklich auf den Geist, besonders auf den Heiligen! Religionen dienen dazu, Verzweiflung abzuwenden, und das ist gut so. Den Zauber zu entlarven ist dagegen nur ganz kurz ein Erfolgserlebnis. Anschließend ist es enttäuschend, wie die Wahrheit oft. Leider! Bedauerlich besonders für Menschen, die ihr Haustier lieben wie sich selbst. „In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn“1, hieß es in meiner Kindheit noch. Gott sei Dank ist es nicht so, jedenfalls nicht, falls der Himmel die ewige Heimat ist. Was soll eine Tierfreundin auch später mal mit ihren – im Laufe der Zeit verstorbenen – zwölf Pekinesen auf einmal im Paradies anfangen? Da lechzt man doch geradezu nach dem Baum der Erkenntnis, um vertrieben zu werden. Natürlich nicht alle. Manche Menschen sind so weit entfernt von Einsicht, dass dieses Thema sie nicht betrifft: je ungebildeter, desto gläubiger.

1 Quelle: Auszug aus ‚Nun geht’s ans Abschiednehmen‘, Text: Hugo Zuschneid (1861–1932)

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Fantasiebegabte Menschen glauben ja leicht mal dies und mal das. Deshalb ist Fantasielosigkeit sehr hilfreich dabei, an einem einmal eingepflanzten Glauben weiter zu verkümmern. Besonders gut gelingt das da, wo es keine Versuchungen gibt: der Kotzende im Schlemmerparadies, der Schwule im Weiberpuff. Aber: Wer keine Versuchungen kennt, der ist nicht zu beneiden. Jedenfalls nicht von mir. Das ‚Vaterunser‘ habe ich in der Kirche höchstens mitgemurmelt (lieber natürlich, weil schicker, auf Lateinisch als ‚Paternoster‘, dem Fahrstuhl zur Seligkeit). Zu Hause habe ich Selbstgestricktes bevorzugt. Ich wollte Gott, der ja einiges zu tun hat, nicht mit vorgestanzten Gebeten langweilen. Vielleicht wollte ich auch bloß – unbewusst – seine Aufmerksamkeit effektvoller kitzeln. Jedenfalls hätte ich nie verlangt: ‚Und führe mich nicht in Versuchung.‘ – Im Gegenteil. Wer nie in Versuchung war, hat nicht gelebt. Versuchungen zu widerstehen und zu erliegen ist die Essenz unserer Existenz. Abwägen oder Loslegen, Verantwortung übernehmen, Verantwortung ablehnen, sich zusammenreißen oder sich wegschmeißen – das ist es doch. Was sonst? Faust ohne Mephisto? Wäre nichts.

Foto oben: gemeinfrei/Wikimedia Commons/Originalstich von Tony Jahannot | Foto unten: Privatarchiv H. R.

Was tun? Sich spüren. Sich nicht spüren. Sich nicht spüren wollen. Sich nicht spüren können. Um das zu ändern, kann man sich den unterschiedlichsten Drogen, Menschen, Handlungen aussetzen. Versuchen und versucht werden. ‚Erlöse uns von …‘ – … uns selbst? Was wäre das für ein Paradies? Ganz fruchtlos. Jedenfalls bedeutungslos. Das Süße und das Bittere reizen unseren Gaumen, unsere Seele. Weder das Fade noch das um jeden Preis Neue wollen wir. Wir, die Menschheit. Später mag das zeitweilig Hochgepriesene als ehemalige Avantgarde raufgelobt oder als Irrweg abgetan werden. Na und? Im Augenblick dem Augenblick zu vertrauen ist vielleicht riskant, aber weniger riskant als alles andere. Es sei denn, man überlebt. Dann kommt die Einsicht des Insassen einer psychiatrischen Anstalt: Das Gleichmaß der Ereignislosigkeit ist aushaltbarer als das Auf und Ab von Ekstase und Absturz.

Foto: Privatarchiv H. R.

Vorher war vorher. Aber schön damals, oder? Manche Musik klang erst im Rausch umwerfend, manches Geschlechtsteil schmeckte erst im Rausch lecker. Die Aufmerksamkeit für Unsichtbares. Die Ausblendung von Bedeutungslosem. Der Glaube an das, was es nicht gibt. Nun zahlt man die Zeche und macht hoffentlich nicht den Fehler, zu bereuen. Bereuen muss man vorher, nachher nutzt es nichts mehr: wieder so ein griffiger Satz. Das Richtige ist immer ganz einfach. Nur das Falsche ist kompliziert. Klingt angenehm. Leider ist es selber falsch. Der Körper, das ganze Leben, es ist hochkompliziert. Wie die Funktionen, die Substanzen, die Gedanken ineinandergreifen, das ist ganz schwer zu ergründen, zu erklären. Wer nach einfachen Antworten sucht, sitzt bei mir sowieso im verkehrten Boot. Er/sie braucht ein anderes ‚Nie!wo?‘. (Verquast, was?)

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Sergii Gnatiuk (zwei Jungen), Onairda (Kathedrale)

30 Kommentare zu “#44A – Exkurs: Bewusstsein und Selbstbewusstsein

  1. Fantasiebegabte Menschen glauben leicht dies und das? Oder glauben fantasielose Menschen eher was sie irgendwo lesen, weil die Fantasie fehlt das Gelesene auch anders zu sehen als es vorgekaut wird?

  2. Als Kind war ich eigentlich ganz gerne in der Kirche. Aber meine Eltern waren weder besonders katholisch noch überhaupt sonderlich gläubig. Wahrscheinlich ist mir dadurch dieser innere Zwiespalt eines religiösen schwulen Mannes erspart geblieben.

    1. Meine Eltern waren auch nicht dogmatisch. Der Zeitgeist war aber damals kein Regenbogen. Ich wollte natürlich ungern später in die Hölle kommen, aber noch weniger wollte ich sofort von meinen Mitmenschen verachtet werden.

      1. Über die Hölle habe ich mir nie große Sorgen gemacht, aber die Mitmenschen, ja das kann schnell sehr unangenhem werden. Da gibt es von Hänselei in der Schule bis zur Benachteiligung im Job oder Gewaltandrohung auf der Straße ja viele verschiedene Möglichkeiten der Interaktion.

  3. Der Tod als einzig mögliche Erlösung. Das würde ja wirklich nur Sinn machen, wenn das Leben wirklich so schrecklich wäre, dass man es kaum leben möchte. Zum Glück denkt oder fühlt die Mehrheit der Menschen aber gar nicht so.

    1. Dieses von der Kirche versprochene ewige Leben funktioniert hingegen ganz gut als Druckmittel für das jetzige. Man muss sich also erst einmal benehmen auf der Erde.

    2. Das Leben muss gar nicht schrecklich gewesen sein. Meins zum Beispiel ist ziemlich gut zu ertragen. Ich habe sogar mal formuniert, dass mich seine ewige Wiederholung nicht schrecken, sondern freuen würde. Aber stattdessen ist der Verfall unabwendbar. Und dann? Wirklich noch mal von vorn? Oder Heilige Kuh, Tempelratte? Hölle? Ewiger Orgasmus? Veganes Paradies? Körperlose Spiritualität? Oma, Opa und begrabenes Haustier? Ich bin auf alles gefasst. Aber dass es vorbei ist, zumindest für mein (Selbst)bewusstsein, scheint mir am wahrscheinlichsten und inzwischen sogar – fast! – erträglich.

      1. Das ist tatsächlich der große Nachteil am langen Leben: man wird halt trotz allem älter und schwächer. Auf alle Ewigkeit macht das nicht wirklich Sinn.

    1. Für viele Menschen reichen einfache Antworten offenbar aus. In einer Demokratie bekommt es den Eliten schlecht, diese Geistesgenügsamen zu verachten: dann wählen die schlichen Gemüter Trump, Erdoğan und Orbán.

      1. Schlimm ist ja vor allem, dass es nicht ausschließlich schlichte Gemüter sind, die diese Herrschaften wählen.

  4. „Führe uns nicht in Versuchung“ betet man ja quasi eh schon mit dem Subtext, dass man weiss man würde der Versuchung allzu leicht erliegen.

    1. Ist man der Versuchung erst mal glücklich erlegen, dann nennt man es hinterher „Erfahrung“. Und die muss man doch machen, falls man außerhalb des Klosters lebt, oder?

      1. Unbedingt. Und man kann ja hinterher relativ easy zur Beichte gehen und sich seine Sünden vergeben lassen. Jedenfalls wenn man gläubig ist. Ansonsten muss man sich allerhöchstens mit seinem eigenen Gewissen auseinandersetzen.

      2. Allerhöchstens? Sie sind mir größtenteils erspart geblieben, aber ich unterschätze Gewissensqualen nicht. Der Film „Doubt“ („Glaubensfrage“) ist dafür ein gutes Beispiel.

  5. Ach was für eine traurige Feststellung, Kunsttalent = Hartz-IV-Äquivalenz. Weit entfernt von der Realität ist das leider sicher nicht.

    1. Man sieht doch während Corona, dass die Kunst ohne Staatshilfen kaum überleben kann. Tragisch, aber so sieht das leider aus.

      1. Andererseits … die Lufthansa, KLM und Air France brauchen ebenso Staatshilfen weil sie eigenständig nicht überleben können. Sie haben nur eine deutlich bessere Lobby als die Künstler. Viel anders ist die Grundsituation dort aber auch nicht.

  6. Auf was will man sich sonst verlassen, wenn man dem Augenblick nicht traut? Da bleibt ja fast doch wieder nur die Religion. Ich würde sage, das eigene Gespür hilft meistens doch am besten weiter.

    1. Viel anders geht es gar nicht. Aber was dann z.B. wirklich bedeutungslos ist weiss man oft auch erst im Nachhinein.

      1. Was richtig und was falsch ist muss man selbst bewerten und zwar im jeweiligen Augenblick aufs Neue. Oben steht es ja dann auch, bereuen nützt eh nichts.

      2. Haha, diese Idee vom Bereuen vorab finde ich ziemlich toll. Also erst Nachdenken, Entscheidung treffen, die Konsequenzen verdauen und dann mit Karacho los nach vorne!

    1. Eine gewisse Inkonsequenz meines Schreibens: Ich bekrittele Vereinfachungen, aber sie sind einfach zu griffig, um ganz auf sie zu verzichten. Bonmots machen nun mal mehr Spaß als wikipedia-Abhandlungen.

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