Teilen:

2503
Trinken. Träumen. Trösten.

#5 – Also dann!

Draußen war wässriger April. Drinnen herrschte der ewig weiße Krankenhauswinter. Als es gerade wieder mal gegen das breite Fenster regnete, kam eine Frau durch die Tür hereingeschneit. Sie strahlte diese markerschütternde Munterkeit aus, vor der auch der Tod in Ohnmacht fällt. „Ich wollt’ mal nach Ihnen sehen“, sagte sie. Ende vierzig, mittelgroß; mittellanges, mittelgraues Haar, Gesicht und Kleidung auf die gleiche Weise geblümt. Mir sackte der Kopf weg, dann versteifte sich das Kinn, und ich hoffte, sie würde diese Ausfallerscheinungen für ein Nicken halten.
––„Sie sind doch auch katholisch.“
––Mein Mund kam einem zweiten Nickversuch zuvor und formte: „Ja“. Im Aufnahmeformular hatte ich tatsächlich mein Kreuz neben ‚römisch-katholisch‘ gemacht; ich hatte einfach nicht widerstehen können, ein Kreuz neben dieses Doppelwort zu setzen, ohne mir die Folgen, geschweige denn diese Frau, auszumalen.
––„Darf ich mich setzen?“, fragte sie, während sie sich setzte.
––„Natürlich, entschuldigen Sie!“, bat ich, so als hätte ich sie eigentlich sofort in mein Bett einladen müssen. Doch dann richtete ich mich auf: „Ich bin ja gut versorgt hier, aber vielleicht können Sie mir trotzdem helfen. Mein Vater hat eine ‚Polyneuropathie‘, das ist eine Nervenkrankheit. Er ist inzwischen völlig gelähmt, wir mussten ihn in ein Pflegeheim bringen, und wir hatten Glück, wir haben einen Platz für ihn im Hartwig-Hesse-Haus bekommen, in Rissen. Er hat es dort an sich sehr gut, aber er war immer so beweglich, also, er kann das ganz schwer verkraften. Das Schönste ist für ihn immer, wenn er Besuch bekommt. Wir gehen hin, so oft wir können. Aber meine Mutter ist auch schon 81, und ich muss arbeiten. Vielleicht, dass jemand von der Gemeinde zusätzlich … ich meine, wüssten Sie, an wen ich mich da wenden könnte?“
––„Das gehört ja zu Blankenese, Rissen. Da weiß ich nichts von. Da müssten Sie mal auf dem Pfarramt in Blankenese nachfragen, aber umsonst ist das nicht.“
––„Nein, nein, das ist mir schon klar …“
––„Hier im Haus ist doch eine Sozialhelferin, die müssten Sie mal fragen.“
––„Ah, ja? Wissen Sie, wie die heißt?“
––„Da fragen Sie mal eine der Schwestern, die kennen sich da aus.“
––„Hm.“
––„Ja, so gelähmt – ist nicht schön. Meine Tochter ist querschnittsgelähmt.“
––„Oh!“
––„Sie lebt bei uns zu Hause. Wir wollten sie nicht ins Heim geben. Mein Mann arbeitet nicht mehr. Kann er sich ja um sie kümmern. Die in Blankenese haben ganz andere Möglichkeiten als wir. Ist eine viel größere Gemeinde. Aber wir machen auch unser Sommerfest jedes Jahr. Der Jugendkreis, die Seniorenrunde, doch, wir tun schon was. Aber Betreuung, das ist überall schwierig.“
––„Ich werde hier jedenfalls gut betreut. Das Zimmer ist in Ordnung, das Essen auch.“
––„So. Ja, das hört man. Ich schmeck’ ja nichts.“
––„Ach.“
––„Das ist seit meiner Nasenoperation. Ein Nerv durchgetrennt.“
––„Furchtbar!“
––„Ich riech’ auch nichts. Einmal hab ich was gegessen, da musst ich nachts ins Krankenhaus. Magen ausgepumpt, ja.“
––„Tzzz!“
––„Mein Mann sagt zu mir: ‚Ja, hast du das denn nicht gerochen? Das stank doch schon so, das konnt ein normaler Mensch doch gar nicht runterkriegen!‘ – ‚Ich hab nichts gemerkt‘, sag ich. Ja, so kam das raus, dass ich nichts mehr schmecken tu.“
Statt Nicken wählte ich Kopfschütteln.
––„Ja, also dann …“, sie stand auf, „ich lass Ihnen unsere Broschüre hier. Im Krankenhaus hat man ja gern mal was zu lesen.“
––„Danke.“
––„Also dann!“, sie legte mir Papier auf den Nachttisch, neben meine Schreibblöcke auf Haffners ‚Geschichte eines Deutschen‘.
––Alle ‚Wie-konnte-Gott-seinen-Sohn-ans-Kreuz-nageln-lassens‘ alle ‚Was-soll-Christus-jungfräuliche-Geburt-beweisens‘ und alle Fragen zur Unfehlbarkeit des Papstes, zur Auferstehung des Fleisches und zum Jüngsten Gericht blieben unabgefragt in meiner Seele stecken.
––Sie sagte: „Na, dann machen Sie’s man gut. War schön, mit Ihnen gesprochen zu haben“, und schneite wieder heraus.
––Ich griff mit einer vorurteilsgesättigten Neugier nach den Blättern:

Beim Richtfest am 19.04.01 waren ca. 70 Leute anwesend und feierten den Baufortschritt bei Kaffee und Kuchen sowie einem deftigen Gulasch. Es gab auch ‚handfeste‘ Getränke. Weil viele zusätzliche Arbeiten zu bewerkstelligen sind, wird der Termin des Osterkaffees, der am 05.05.01 sein sollte, bis zur nächsten Ankündigung verschoben. Die Arbeiten am Gemeindehaus werden wohl bis Ende Juni gehen.

Osterkaffee trinken. Von einer auskömmlichen Welt träumen. Mutlose trösten. Wie gut tut Gutes tun, wenn Geber und Nehmer so unvereinbar sind? Über dasselbe lachen, über dasselbe weinen. Wo das nicht geht, fehlt alles, was eine Beziehung wertvoll macht.

Als Nächstes las ich die Witze:

Wo kommt denn das Wort ‚Mode‘ her, Papi?‘, will Bernd wissen. – Ach, weißt du, das ist eine Abkürzung und heißt: ‚Männer opfern die Ersparnisse.‘

Der Doktor zum Patienten: Herr Wigner, etwas müssen Sie in Zukunft aufgeben – entweder den Wein oder die Frauen! Was ist Ihnen lieber? – Das kommt ganz auf den Jahrgang an, Herr Doktor.

Susi spielt ihrem Vater eine neue Pop-Platte vor. Hast du so was Irres schon mal gehört, Papi? – Doch, vor Jahren schon, sagt der Vater. Da stießen zwei Güterzüge zusammen. In dem einen waren leere Milchkannen und im andern grunzende Schweine.

Um mein Zwerchfell etwas zu entlasten, widmete ich mich nach diesen – auch ihrer Mentalität nach interessanten – ‚heiteren Seiten‘ dem nachdenklichen Geleitwort der ‚Wochenbriefe – nicht nur für Kranke‘ und las:

Mit Lob beschenken

Nichts freut den alten Menschen mehr als Anerkennung, Lob und Ehre. Das Lob bezieht sich nicht auf eine einzelne Leistung, sondern auf ein erfülltes Leben. Jeder hört es gerne (sic), dass er in der Vergangenheit kein Faulenzer war, sondern seine Aufgaben und Pflichten immer treu und gewissenhaft erfüllt hat.

Hatte ich das bereits auf der Schule verinnerlicht? – Nicht die Spur! In meinen ersten drei Gymnasialklassen begann der Musikunterricht von Herrn Lüders damit, folgendes Lied krähen zu müssen:

Wer nur den lieben langen Tag
ohne Plag’,
ohne Arbeit
vertändelt, wer das mag,
der gehört nicht zu uns.
Wir steh’n des Morgens zeitig auf,
hurtig mit der Sonne Lauf,
sind wir, wenn der Abend naht
nach getaner Tat
eine muntere fürwahr,
eine fröhliche Schar.1

1 Quelle: Aus ‚Wer nur den lieben langen Tag …‘, Text und Musik: Jens Rohwer, 1944

Das war weit unter dem Niveau des Religionsunterrichts in der ‚Volksschule‘, bei dem ich Kathrinchen Hamister anschrie, warum sie denn die Hände faltete, wenn sie etwas lernen sollte. Sie brach dann jedes Mal in Tränen aus, und befriedigenderweise wies mich daraufhin die womöglich latent atheistische Frau Creutzenberg nicht zurecht, sondern blaffte Kathrinchen Hamister an: „Heulsuse!“ Dies hat mehr zu meinem theologischen Verständnis beigetragen als Herrn Lüders ideologische Indoktrinationsversuche zu meinem musikalischen. Und wie viel lieber ich die Tage vertändele, als der fürwahr fröhlichen Schar anzugehören, bedarf keiner weiteren Erläuterungen.

Bin ich faul? Was ist das? Schwach? Müde? Lustlos? Krank? Apathisch? Depressiv? Unwillig? Trotzig? Verstockt? Erstarrt? – Ich weiß es nicht. Nachdem meine Untätigkeit aufgehört hatte, sich in Lesen zu erschöpfen und sich stattdessen in eruptivem Schreiben zu manifestieren, dauerte es nur noch zwei Tage, bis der treue Volker Eckhoff kam, mein angesammeltes Gepäck und mich in seinen Kombi einlud und bei fast heißem Maiwetter auf den Rinke-Hof zurückverfrachtete. Während meines Krankenhausaufenthaltes hatte sich die Jahreszeit geändert. Aus ‚kalt und kahl‘ war ‚warm und grün‘ geworden: ein eingelöstes Versprechen. Die Oberschwester hatte die zweihundert Mark befriedigt in Empfang genommen, meinen Magen und meine Prostata übergangen und mir gönnerhaft mit auf Weg gegeben: „Trinken ist kein Ausweg!“ – Leider doch. Das ist ja das Schlimme.

Hanno, 12.05.2001

Titel- und Schlussgrafik mit Material von Shutterstock: Gorodenkoff, zizi_mentos, Jacob Lund

25 Kommentare zu “#5 – Also dann!

  1. Was für eine schlimme Art den Tag zu beginnen, also mit den Androhungen der Herren Rohwer und Lüders. Ob sich dadurch wirklich ein paar Langschläfer haben bekehren lassen?

    1. Wohl eher nicht. So schlimm war es bei mir auch nicht. Musik und der Schulchor waren immer kleine Highlights in meiner Schulwoche.

    2. In der Schule lernt ja in der Regel eh nur der, der eh lernen will. Zum bekehren eignet sich das Format doch selten.

      1. Es gibt Lehrer, die können ihre Schüler begeistern, und solche, die nur (noch) ihren Job machen. Das macht sich in der Aufnahmebereitschaft der Schüler und damit auch in ihren Noten bemerkbar.

  2. Ach ja, all die Fragen zur Kreuzigung, zur Auferstehung, zur Unfehlbarkeit des Papstes, zum Jüngsten Gericht … werden die Menschen während Corona eigentlich mehr oder weniger gläubig?

    1. Komischerweise werden die Menschen in Krisenzeiten gläubiger. Statt Gott zu fragen: „Warum tutst Du mir das an, falls es dich gibt?“ flehen sie: „Hilf mir, hilf mir!“ Wenn der Allmächtige das wirklich wollte, bedarf es dafür keiner Bettelei.

      1. Wer in Not ist, oder auch nur glaubt in Not zu sein, wird schnell (leicht-)gläubig. Darum funktioniert das Konzept Kirche so gut. Darum gewinnt Trump gerade an Zustimmung.

  3. Nichts riechen kann manchmal ganz angenehm sein 😉 EIne Lähmung ist dann schon ein ganz anderes Kaliber.

  4. Der Osterkaffe wird dieses Jahr wohl auch wieder verschoben werden. Jedenfalls stecken wir bis dahin wohl alle noch im „Lockdown“. Die Familien die eh die ganze Zeit aufeinander hocken, und sich sonst bei regulären Familien-Feiertagen zerfleischen, wünsche ich viel Spaß.

    1. Es heisst ja immer die Einschränkungen bleiben erst einmal bis Ostern aktiv. Es ist wohl doch sehr unwahrscheinlich.

    1. Das Leben ist natürlichen am tragischsten, aber auch am witzigsten. Den Pop-Witz mochte ich trotzdem.

    2. Na, vielleicht funktioniert dieser hier: Ein Einwohner aus Stockholm fährt zur Entenjagd aufs Land. Als er eine Ente sieht, zielt er und schießt. Doch der Vogel fällt auf den Hof eines Bauern, und der rückt die Beute nicht heraus. „Das ist mein Vogel“, besteht der Städter auf seinem Recht. Der Bauer schlägt vor, den Streit, wie auf dem Land üblich, mit einem Tritt in den Unterleib beizulegen. „Wer weniger schreit, kriegt den Vogel.“ Der Städter ist einverstanden. Der Bauer holt aus und landet einen gewaltigen Tritt in den Weichteilen des Mannes. Der bricht zusammen und bleibt 20 Minuten am Boden liegen. Als er wieder aufstehen kann, keucht er: „Okay, jetzt bin ich dran.“ „Nee“, sagt der Bauer im Weggehen. „Hier, nehmen Sie die Ente.“

      1. „Ein guter Witz muss den Schein des Unabsichtlichen haben. Er gibt sich nicht dafür, aber siehe da, der Scharfsinn des Hörers entdeckt ihn, entdeckt den geistreichen Gedanken in der Maske eines schlichten Wortes. Ein guter Witz reist inkognito.“ 😉

  5. Betreuung ist schwierig und vor allem schlecht bezahlt. Ob diese Krise grundsätzlich helfen wird, die Arbeit des Personals im Gesundheitsdienst besser zu würdigen?

    1. Oh ja, guter Punkt. Das abendliche Geklatsche ist lieb gemeint, aber über eine Gehaltserhöhung würden sich die Krankenhauskräfte sicher mehr freuen.

    2. Abgesehen von der ohne Frage miserablen Entlohnung des Personals – sind die deutschen Krankenhäuser denn nun völlig überlastet oder bleiben die Corona-Erkrankungen weit hinter den Erwartungen? Man hört wirklich völlig Gegenteiliges.

      1. Solange nicht flächendeckend getestet wird, kann man über das Ausmaß nicht viel sagen. Laut Deutschlandfunk sind die Krankenhäuser momentan eher in Wartestellung für den großen Ansturm.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

2 × eins =