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02 – Innocentia-Park

#5 Rechtsempfinden

„Anna Seghers, diese alte Hexe, hat der neuen ungarischen Marionettenregierung zur Niederschlagung der Konterrevolution gratuliert. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte, Anna Seghers werde ich niemals durchnehmen.“
––Margareta fragte sich, was Janos’ Schülern da wohl erspart bliebe, sie mochte auch keine Hexen, nicht mal im Märchen.
––Herr Leseberg senior seufzte: „Ja, es ist ein Drama, kein Zweifel“, sagte er, „aber man muss realistisch sein.“
––„Nein, man muss idealistisch sein“, sagte Janos heftig, „der Realismus hat uns genau dahin gebracht, wo wir jetzt sind.“
––„Und einen Teil Ihrer Landsleute nach Sibirien“, sagte der alte Herr Leseberg unbeirrt.
––„Wer weiß, was aus Imre Nagy geworden ist“, sagte Ilona. „Kádár hatte ihm die Freiheit zugesichert. Und dann wurde er von Russen abtransportiert. Ich glaube nicht, dass wir ihn noch mal lebendig sehen werden.“
––„Die ganze Situation stört mein Rechtsempfinden ganz erheblich“, sagte der junge Herr Leseberg, „aber, wie Sie schon sagen: Der Einzelne ist machtlos in solch einem System.“
––„Das Problem ist nur – verzeihen Sie –, Sie fühlen sich in Ihrem Rechtsempfinden gestört, wir aber haben unsere Heimat verloren! Und unseren Glauben!“
––„Bela!“, sagte Ilona. „Entschuldigen Sie ihn. Er ist sehr getroffen; sagt man ‚getroffen‘? Oder ‚betroffen‘?“
––„Sie sind katholisch, nehme ich an?“, sagte Herr Leseberg senior.
––„Ich bin Kommunist!“, sagte Bela.
––Es entstand ein so angestrengtes Schweigen im Raum, dass Margareta fragte: „Soll ich etwas am Klavier spielen?“
––„Später, Engelein“, sagte die junge Frau Leseberg.
––„Das müssen Sie uns erklären!“, sagte ihr Mann.
––„Ja, wir sind katholisch getauft“, sagte Ilona. „Aber nach dem Krieg haben wir an den Sozialismus geglaubt, das war die neue Ordnung für uns.“
––„Für mich nicht!“, sagte Janos, „ich war das schwarze Schaf in einer roten Familie. Als die Kommunisten über die Volksfront an die Macht gekommen waren, durfte ich nicht weiterstudieren. Darum bin ich nach Deutschland gekommen und hier Lehrer geworden.“
––„So haben die Kommunisten es doch überall getrieben“, sagte der junge Herr Leseberg. „Erst die Volksfront, dann die anderen Parteien mundtot gemacht und dann die Diktatur des Proletariats, oder was sie darunter verstanden. So war es in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien, sogar in der Ostzone. Und wenn Adenauer nicht so konsequent wäre, wer weiß, was wir hier hätten. Niemals hat eine kommunistische Partei die Mehrheit im Volk gehabt.“
––„Die Nazis auch nicht!“, sagte Bela.

Obwohl nach diesem Satz wieder eine böse Pause entstand, wollte sich Margareta nicht noch einmal vertrösten lassen, zumal ihr Einiges daran lag, nicht Klavier spielen zu müssen, weil sie sich dabei immer vorkam, als zeige sie ihre allerprekärste Stelle.
––„Ach, wissen Sie“, sagte die alte Frau Leseberg, „ich fand die Nazis immer furchtbar: vulgär und barbarisch. Aber den Menschen ist es unter den Nazis bestimmt besser gegangen als unter den Kommunisten.“
––„Sie müssen sich das so vorstellen“, sagte ihr Mann, „Weimar hatte versagt, Hitler brachte Arbeit und Anerkennung. Man war gedemütigt worden und man konnte wieder stolz sein.“
––„Und die Juden?“, fragte Bela.
––„Ach, das war ein furchtbarer Fehler. Ich war Anwalt, ich hatte so viele jüdische Kollegen. Aber – ich weiß, das darf man heute nicht mehr sagen – die Juden haben ständig das Maul aufgerissen und die Nazis runtergemacht, zu Recht natürlich, zu Recht, aber sie durften sich auch nicht wundern, dass es anders langging, als die Nazis dann an der Macht waren.“
––„Meinen Sie mit ‚anders lang‘ Auschwitz?!“, fragte Bela.
––„Ich sagte ja schon, das war ein Fehler. Ich war nie für die Nazis, aber man muss das aus der Zeit heraus sehen, das will heute niemand mehr verstehen. Die Wahrheit wurde damals unterdrückt und jetzt wird sie wieder unterdrückt.“
––„Also, ich war 1933 einundzwanzig“, sagte sein Sohn. „Ich durfte zum ersten Mal wählen und ich habe NSDAP gewählt. Ich habe geglaubt, dass diese Partei endlich wieder Ordnung schaffen würde in Deutschland.“
––„Die Ungarn waren im Krieg ja unsere Verbündeten“, sagte sein Vater.
––„Sehen Sie“, sagte Bela, „und ich habe geglaubt, dass die Kommunisten wieder Ordnung schaffen würden in Ungarn.“
––„Ich habe den Nazis nicht lange geglaubt“, sagte der junge Herr Leseberg. „Schon der Röhm-Putsch hat mir die Augen geöffnet. Wer so mit seinen Kameraden umspringt, der ist nicht honorig. Aber zu dieser Zeit waren ja alle Schaltstellen schon besetzt. Da war es zu spät. Da herrschte bereits Blockwart-Mentalität, selbst ’44, der zwanzigste Juli, als alles längst verloren war, ist der Aufstand gescheitert.“

23 Kommentare zu “#5 Rechtsempfinden

  1. 1933 hat man die NSDAP gewählt, weil man glaubte es kehrt wieder Ordnung im durcheinandergekommenen Leben ein. Heute wählt man AfD und glaubt dasselbe. #Irrtümer

  2. Die Themen werden in meiner Familie ganz andere sein. Ich freue mich trotzdem schon auf die Festtage. Meist endet die Besinnlichkeit ja eher mit einem großen Knall.

      1. Es ist in jedem Fall eine Zeit, die etwas entschleunigt ist. Mehr Zeit für Freunde und Familie. Was will man mehr.

    1. Ein Rechtsruck geht durch die politische Welt. Nicht nur in Großbritannien. Die Menschen sind unzufrieden, obwohl es ihnen recht gut geht.

  3. Hitler brachte Arbeit, ganz genau so sahen Menschen das. Darum wird auch ein Trump gewählt, weil er vermeintlich Jobs schafft. Darum schafft die AfD es, Menschen zu blenden. Man muss die Desinformationsstrategien irgendwie unterwandern.

  4. Hat überhaupt mal eine Partei die Mehrheit im Volk gehabt? Ich habe das Gefühl es wird in der Regel immer nur gewonnen weil die Wahlbeteiligung so gering ist.

      1. Es klingt blöde, aber Politik muss nicht nur verständlicher sondern auch spannender werden. Ohne Populismus, aber mit Grund und Begeisterung sich zu engagieren.

      2. Ich würde Vertrauen an die erste Stelle setzen. Die meisten AfD-Wähler haben doch bisher anders gewählt…

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