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Paris

#6 – Das Fehlen von Überhöhung

Brief vom 30.09.’83 an Pali – Teil 2

Nach dieser Nacht war mir nach Höfischem. Bei strahlend schönem Wetter schwänzte ich die Schule und fuhr mit Irene nach Versailles. Es wurde der schönste Tag mit ihr: im riesigen, puttengesäumten Garten, im Restaurant unter Kastanien, im angeregten Gespräch. Das Terrassenrestaurant im Park von Versailles kittet jede Ehe, selbst die ödipalste. Schon der Vortag in den Winkelgassen Montmartres hatte ‚heitere Urlaubsstimmung‘ geatmet. Heute nun war alles Friede und Freude.

Video (Ausschnitt aus ‚Halbzeit ’83‘): Privatarchiv H. R.

So blieb Irene dann auch willig zu Hause, als ich zu Max und Odile fuhr. Ein Abschiedsessen mit Freunden, fünf Gänge, Rotwein von 1972. Ein Journalistenehepaar, eine Freundin von Odile – ich verstand und konnte mich am Gespräch beteiligen. Max hatte Tränen in den Augen bei der Trennung, und ich wurde stumpf vor Ergriffenheit. Odile fuhr mich nach Hause.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Freitag war letzter Schultag. Von den Asiaten waren nur wenige übrig geblieben. Abschied mit Adressentausch von der Pariser Professorin. Dann blieb die Klasse noch zusammen bei Kaffee und Bier. Ich war Schüler unter Schülern. Wir saßen ganz selbstverständlich miteinander: die Israeli aus Jerusalem mit der Palästinenserin aus Beirut. Der Kalifornier und der Kolumbianer. Der Deutsche, Anfang zwanzig, der in Indien eine Französin kennengelernt hat, bei der er jetzt lebt.
Und ich, Anfang zwanzig? Warum bin ich damals nicht nach Paris gegangen? Irene wäre hocherfreut gewesen und damit Guntram auch – behauptet sie jetzt – aber hatte mich doch viel lieber in Othmarschen, wo ich mich kaum traute, über den Gartenzaun zu lugen und wo meine Drüsen Fantasien in die Adern pumpten.
Schüler unter Schülern. Ja, es war nachholbar. Was ich damals aus Scheu und Scham nicht geschafft hätte, habe ich jetzt gekonnt. Es war noch nicht zu spät, noch nicht lächerlich. Trotzdem müsste ich jetzt eben Anfang zwanzig sein und da weitermachen, wo ich auch jetzt weitermachen muss: im Geschwindmarsch. Ich bin es so lange gewohnt gewesen, immer der Jüngste und Altklügste zu sein, dass ich darüber nicht physisch, nicht psychisch, aber was die Initiative anbetrifft, vergreist bin.
Abschied mit Adressentausch. Der Weg zum ‚Café de Flore‘, der Anfang dieses Briefs.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Als ich gegen halb acht zu Hause eintraf, war Irene ein bisschen gereizt. Sie hatte mich wohl früher erwartet und sagte, sie könne sich gleich ins Bett legen, der Abend sei – „um mit Karen zu sprechen“ – gelaufen. Wenn Irene ihre Schwägerin zitiert, heißt das niemals etwas Gutes.

Foto: Privatarchiv H. R.

Na, ganz so schlimm wurde es dann aber nicht. Ich sagte meine Verabredung zum Drink mit dem Aga Khan leichten Herzens ab. Der Weg zu seiner Wohnung war umständlich, und ich hatte mich schon bei unserem ersten Treffen so entsetzlich gelangweilt. Das zweite mit ihm war wegen meiner Krankheit ausgefallen. (Vielleicht hab’ ich sie zu dem Zweck bekommen und weder vom Kuss noch vom Couscous.)
Er erzählte mir von Diners mit dem und jenem, und davon, ob er lieber in London oder Istanbul sei, auch drüber, dass Leute uninteressant seien, die nichts zu sagen hätten, und was man so im Flugzeug von hier nach da alles zu verrichten habe, damit man bei Ankunft in Rom oder New York gleich wisse, ob dieses oder jenes. Die Wohnung in New York sei übrigens doch zu viel geworden, besonders, seit eine Freundin aus Cannes sie während ihres Aufenthalts dort so habe verkommen lassen. Man würde ja gar nicht mehr nach New York fahren, aber die Freunde da seien halt so extrem nett.

Foto: Privatarchiv H. R.

Nachdem eine Fortsetzung dieses durch mein telefonisches Kopfnicken akzentuierten Monologs also aufs Charmanteste von mir abgesagt war (Irene: „Wie du das machst! Mein Herz schmilzt“), war der Weg frei für Diner mit Mama, die somit statt des Nachthemds die Abendgarderobe anlegte.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich wollte nicht zu spät essen, weil ich ja dringend noch ins ‚Central‘ und ins ‚Sling‘ musste. Wir gingen in ein jüdisches Lokal, Irene fand es anheimelnd und faszinierend. Sie räsonierte über die Welt und ihr Leben, das so glückliche Wendungen genommen hatte. Beim ‚gefillte Fisch‘ befanden wir uns schon tief in ihrer Biografie, denn sie verliert ja mindestens so gern wie ich mal das ein oder andere Wort über sich selbst. Die jüdische Umgebung war vertraut touristisch; mit der Welt ihrer Väter hatte sie ja nicht viel mehr Kontakt als mit der Welt meiner Veranlagung. Nun holt sie beides nach. Mit leichten Lernschwierigkeiten. Weniger im Hebräischen als im Sexuellen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Während ich aufmerksam lauschte, muss ich wohl doch etwas zu viel polnischen Wodka getrunken haben, denn ich fühlte mich auf dem Heimweg torkelig und zerschlagen. Ein undenkbarer Gedanke kroch in mein Hirn. Ob ich vielleicht ‚Central‘ und ‚Sling‘ schießen lassen sollte? Letzte Abende haben so was verzweifelt Gewolltes, was soll dabei schon rauskommen? Höchstens was zwischen Tür und Angel: zappelnder, ruckelnder, festgehakter Fisch. Was würde ins Netz gehen? Wäre es gut, dann wäre es furchtbar. Wäre es schlecht, dann wäre es sinnlos. – Und morgen früh aufstehen, möglichst nüchtern.

Ich schluckte alles runter, was sich auflehnen wollte und beendete den Tag mit einem Gute-Nacht-Kuss an mütterlicher Backe. Meine unerquickliche Flucht aus dem ‚BH‘ blieb somit meine letzte Begegnung mit der Pariser ‚Szene‘ und mein nervöses Warten auf Max und Odile vor dem Couscous-Essen blieb mein letzter Besuch im Café ‚Central‘. Warum muss auch alles beschwingt ausklingen? So ist das Leben eben nicht. Ungefillte Fisch.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Am Sonnabend kramten wir alles zusammen; Kleidung und Gegenstände, die gerade erst ausgepackt schienen, wurden erneut verstaut. Es war, als liefe ein Film rückwärts.
Als Letztes stellte ich wieder die Alarmanlage an, dann fuhren wir ab. Etwas verspätet, aber das sollte sich noch steigern lassen, denn nach einer Weile fiel mir ein, dass ich meinen Mantel an der Garderobe hatte hängen lassen. Also zurück, Alarmanlage aus, Mantel nehmen, Alarmanlage an, Tür mit allen Schlössern wieder abschließen, Fahrstuhl, Haustür, Hoftür – das dauert alles. Und kein Stadtteil in Paris, an dem nicht Sonnabend Markt ist, quer über die Straßen. Na ja. Schließlich haben wir doch alles noch geschafft und saßen im Flugzeug. Der vormittäglich von Air France großzügig verteilte Rotwein löste Irene die Zunge: „Nun bin ich schon so betrunken, dass ich dir sagen kann, ich habe deine Aufzeichnungen für dein neues Buch durchgelesen. Aber es ist alles so trist und alltäglich. Es fehlt jede Überhöhung.“ Manchmal frage ich mich, ob mir der Abschied von ihr schwerer fallen würde als von Silke. Allerdings wundere ich mich, dass sie die Skizzen überhaupt so gelassen genommen hat, denn es ist für ihre Begriffe wieder reichlich degoutant. ‚Mein neues Buch‘, wie sie es nennt, ist ein Sprachführer oder ein Fremdenführer oder ein Vertrautenführer. Trist und alltäglich? – Findet sie. Aber: Seit der Zwietracht mit ihrem verehrten Verehrer Dr. Rumpold gibt es kein Kitzbühel mehr, da reißt man sich schon mal zusammen. Lieber ist es mir übrigens, wenn man nicht in meinen Sachen stöbert.

Illustration: Privatarchiv H. R.

Wien war nach einer permanenten Reise über Wolken strahlend blau und kalt. Trotzdem fuhren wir unverdrossen raus nach Grinzing, liefen durch Weinberge in der Dämmerung und kehrten beim Heurigen ein.
Gegen neun waren wir zurück. Irene war müde: die Luftveränderung. Ich war auch müde: Irene. Nach zwei Stunden Schlaf war ich wieder fit und ging in die ‚Alte Lampe‘. Erst traf ich jemanden wieder, den ich nach dessen Umzug aus den Augen verloren hatte. Wir freuten uns beide. Dann diente sich mir einer an, den ich voriges Jahr unbedingt hatte haben wollen und nicht gekriegt hatte. – Nun mochte ich nicht mehr und knüllte seine Adresse in der Tasche. Dann brachte ich mehr als eine geschlagene Stunde mit jemandem ziemlich Hinreißendes zu (Maler aus Los Angeles), der mich schließlich doch nicht mitnahm.
Ich hatte auch nicht die Nerven, ihn ins ‚Imperial‘ zu bitten, obwohl ich zu Irenes unverhohlenem Missfallen auf zwei Einzelzimmern bestanden hatte. So trat ich spät, aber einsam den Heimweg an.

Am nächsten Tag telefonierte ich mit Aufnahmeleiter Wolfgang Stengel, und was ich da hörte, ließ mich gleich wieder in unerhörtem Firmenhass entflammen. Dann Konzert – Irene im Publikum – anschließend Geschäftsessen – Irene spazieren. Am Spätnachmittag Altstadtwanderung mit Irene, Essen im gemütlichen Stil. Die ‚Alte Lampe‘ war nicht ganz so nett wie am Vorabend, aber ganz lehrreich. Gespräche, die für ein paar Einsichten taugten. Montag Vormittag Aufnahme. Nachmittags Schönbrunn, abends Dreier-Essen mit Susann Baumgärtl, danach nächtlicher Spaziergang durch Wien.
Heute: Krystian Zimerman vom Flugplatz abholen, Flügel aussuchen – Gespräche. Irene erzählte von Polen. Nun sitzen wir im Flugzeug und fliegen nach Hamburg.
Was steht bevor? – München, Berlin, Filmschnitt, Herbst, Weihnachten. Es liegt für mich nahe, nun Bilanz ziehen zu wollen. Aber ich will es nicht. Es war wunderschön. Ob es auch wunderwichtig war, wird sich zeigen. So was braucht.

Foto: Privatarchiv H. R.

Wenn es eine Verantwortung gibt vor dem Leben – Gott und andere ferne Wesen mal außer Acht gelassen – dann erscheint es mir unmoralisch, nicht das Bestmögliche aus seinen Anlagen zu machen. In der Beziehung habe ich viel gesündigt, aber auch einiges gelernt, jetzt. Alle drei sind wir da vielleicht etwas schuldig geworden und unserem Leben was schuldig geblieben. Susi sitzt länger in der Disco und Pali länger im Büro und ich länger vor Quatsch als nötig. Leben als Spaß halte ich – vielleicht – auch noch für vertretbar. Wenn es aber gar keinen Spaß macht?
Wenn Büro nicht auszuhalten, aber allein zu Haus öde ist? – Ja, ich weiß auch nicht.
Aber ich fange wieder an, mir Reaktionen zuzutrauen, die Konsequenzen haben könnten. Mag sein, dass alles in drei Tagen vorbei ist, die Chefsekretärin in den Hass-Charts steigt und das Lebensgefühl unter ferner liefen sinkt. Mag sein, mag sein. Bequemer wär’s ja. Ich werde nachdenken. Ich habe mir das immer vorgenommen. Irgendwann werde ich nachdenken, ganz plötzlich. So wie ich eines Tages – doch – nach Paris gefahren bin.

Hanno

Foto: Privatarchiv H. R.

PS: Ich schreibe dir übrigens nie wieder. Irene zitiert, Pali habe gesagt, ich hätte einen 7-seitigen Brief geschrieben: nur über Scheiße. Das ist eine Unverschämtheit, eine Verleumdung! Ich habe noch nie einen Brief geschrieben von nur sieben Seiten.

Video (Ausschnitt aus ‚Se(h)en ’88‘): Privatarchiv H. R. | Titelbild: Bartlomiej Rybacki/Shutterstock

36 Kommentare zu “#6 – Das Fehlen von Überhöhung

  1. Trist und alltäglich? Dieser ersten Teaser-Illustration nach zu urteilen wird es wohl nicht ganz so trist wie von Irene bedauert.

  2. Letzte Abende mag ich auch selten. Da ist dann immer schon irgendwie die Luft raus, die Abreise schwingt schon überall mit.

      1. Solche kenne ich auch. Da gab es zwar nur einige wenige, aber die sind dementsprechend in Erinnerung geblieben.

  3. Ach, es ist doch nie zu spät, und auch nicht lächerlich. Zumindest ist es das viele Jahrzehnte länger nicht, als man uns immer einreden will. Wer sagt denn, dass man nur mit Anfang zwanzig voll im Leben stehen darf?!

      1. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Trotzdem bleibt so etwas zum Glück möglich. Man kann trotz aller Regeln aus der Reihe tanzen, wenn man dies wirklich möchte.

  4. Kann man so kurz nach einem Erlebnis überhaupt schon Bilanz ziehen? Braucht es dafür nicht erst mal ein wenig Abstand?

      1. Wenn solche Sachen auch mit einigem Abstand noch Sinn machen, ist das doch immer ein schönes Gefühl. Man merkt ja dann, dass man sich zumindest ab und zu auf sich selbst verlassen kann.

  5. Das Bestmögliche aus den Anlagen zu machen finde ich auch eine richtige und wichtige Sache. Das kann für jeden vielleicht etwas anderes bedeuten, aber diese Richtung, die man sich und seinem Leben selbst dadurch vorgibt, braucht es meiner Meinung nach.

      1. Meistens weiss man ja erst nachträglich ob es wirklich der Falsche war. Wobei, manchmal hat man ja schon eine Ahnung wenn man ehrlich mit sich selbst ist.

    1. Ein Versäumnis. Aber das Wichtigste ist die Terrasse des Park-Restaurants mit einer Flasche Sancerre und symphatischer Begleitung. Das blieb Sonnenkönig und Bismarck versagt.

      1. Ich werde es definitiv nachholen, sobald eine entspannte Reise wieder möglich ist. Paris tauch sowieso immer mal wieder in meinem Kalender auf.

      2. Ich kann einen Besuch auch sehr empfehlen. Das ist wirklich ein Ort, den man auf alle Fälle mal gesehen haben muss.

  6. Der Witz ist ja, dass Spaß für jeden etwas anderes bedeutet. Da gibt es dann sogar Menschen, die sich nichts besseres vorstellen können, als im Büro zu sitzen. Und wieder andere, die nur all zu gern allein zu Haus sind.

  7. Für Taliban ist Spaß etwas, das nicht sein darf.
    Für Rheinländer ist Spaß etwas, das im Februar stattfindet.
    Für Raucher ist Spaß etwas, das Lungenkrebs verursacht.
    Für Zyniker ist Spaß etwas, das andere ärgern kann.

  8. Leute, die nichts zu sagen haben, mögen uninteressant sein – manchmal kommt man aber halt eben auch einfach nicht zu Wort.

    1. Zurzeit kommen in der Pandemie viele zu Wort, die nichts zu sagen haben. Wer dagegen wirklich etwas zu sagen hat, wirkt meistens auch bemerkenswert, wenn er es nicht ausspricht.

      1. Heute gibt es ja eh den Trend dazu, dass jeder zu jedem etwas sagen darf. Das mag gerecht sein, ist aber nicht unbedingt sonderlich effektiv.

  9. Gespräche, die für ein paar Einsichten taugen sind ja schon mehr als man erwarten kann. Das ist doch eine deutliche Stufe oberhalb des üblichen Small Talks.

      1. Man braucht dann nur wahlweise starke Nerven oder eine ordentliche Portion Humor. Beides hilft lästige Small Talk-Runden zu überstehen. Aber manchmal kann es ja auch ganz erfrischend sein, nicht immer tief gehende Gespräche zu führen. Für alles gibt es seine Zeit.

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