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Trinken. Träumen. Trösten.

#6 – Die Strahlenbelastung meiner Kinder

Das wäre jetzt der Zeitpunkt, Schluss zu machen. Schaff ich das? Also eine letzte Krankenhausgeschichte hätte ich noch. Als ich 1985 Prokura bekam, bekam ich gleichzeitig, wie es allen ‚Führungskräften‘ zustand, den Anspruch auf eine vom Unternehmen finanzierte Untersuchung in der Wiesbadener Diagnoseklinik. Die meisten, die es so weit gebracht hatten, waren damals etwas älter als ich und wollten rechtzeitig in Erfahrung bringen, ob der Krebs ihnen die Pension wegfressen würde. Pali behauptete gleich, Macht und Geld seien mir egal, das Einzige, was mich interessiert hätte, sei der Gesundheitstest gewesen. – Quatsch!!! Na ja … am 1. April wurde ich befördert. Drei Wochen später hatte ich mir den Termin im Klinikum verschafft. Weitere zwei Jahre später würde Roland positiv auf AIDS getestet werden.

Montag, 22.04.’85
21:20 Uhr, Wiesbaden

Pali,
so ein Zimmer hab ich, glaub ich, doch noch nie gesehen. Es sieht aus wie die vom Regisseur als zu naturalistisch verworfene Kulisse eines CSU-Films über den häuslichen Niedergang eines gescheiterten Klein-Funktionärs der SED in Karl-Marx-Stadt. Wer hier sitzt, bedarf weiß Gott der Fürsorge. Der Bürotag verlief hektisch, weil ja alles noch diktiert, gelesen, diskutiert und vor allem walkmanhalber von LP auf MC überspielt sein wollte.

Knapp vor mir kam so ein Modischer meines Alters, der den nervös-überspannten Eindruck einer Tucke machte, die sich auf AIDS untersuchen lässt. Sonst ganz smart. „Gehören Sie zusammen?“, fragte der Wirtssohn. – „Bisher noch nicht“, flirtete ich spitzbübisch. Der Gast sah mich kurz an und schwankte zwischen freudiger Entgeisterung und klinischer Angst. „Um 7 Uhr wecken, bitte“, sagte er tonlos. Dann ging er. „Wir“ bekamen Zimmer nebeneinander, und der Wirtssohn vertauschte die Schlüssel. Also musste der HIV-Aspirant mich noch mal ansprechen und morgen sehen wir uns sowieso, denn er scheint, wie ich, zu 07:30 Uhr in die Diagnose-Klinik bestellt zu sein. Für mich schloss sich ein Spaziergang von fast anderthalb Stunden an, weil ich mich im Gewirr des Kurparks verlief.

Kein Mensch, kein Tritt. Nur das Rauschen des Rinnsals. Der Himmel verlor sein Leuchten, der Weg verlor sich in der Ferne, und ich verlor die Geduld. Also wurschtelte ich mich irgendwie den Hang rauf zur Pension zurück, und es war mir mies, weil ich wieder nur an mich und meinen Tod dachte, statt daran, wie man die Welt verbessern könnte. Du behauptest ja zu wissen, wie ich bin, und vielleicht hast du recht. Dass ich nun zur oberen Führungsschicht gehöre, ist mir weder wegen der Ehre noch wegen des Gehalts wichtig, aber dass mir dadurch ein von der Firma bezahlter Check-up in der Diagnose-Klinik zusteht, rechtfertigt sämtliche bisherigen Karriereanstrengungen seit meinem ersten Lehrlingstag in Siemensstadt. Morgen werden sie sich also den ganzen Tag lang mit mir beschäftigen. Das mag vielleicht qualvoll werden, aber irgendwie doch eine tolle Aussicht, für die man gern zahlen lässt und über den Rhein fährt und über den Main fährt und meinetwegen auch über den Verstand.

Die Beschäftigung mit mir hielt sich in Grenzen. Schlange stehen und rumsitzen waren angesagt. Von Zeit zu Zeit wurde man aufgerufen, damit einem in Finger oder Vene gestochen wurde, zwecks Blutwegnahme. Auch ein Liter schieres Zuckerwasser wollte getrunken sein, und im Abstand von je einer Stunde wurde in die Haut gehackt und Blut abgesaugt, das, wenn die Bauchspeicheldrüse mit Vernunft arbeitete, immer weniger süß sein durfte. Nur ein paar Landsleute trugen außer mir ihren Körper zu Markte, es wimmelte stattdessen von Türken, Persern und Arabern, die überwiegend aussahen, als hätten ihnen Lepra und Bilharziose bereits das Leben schwer und den Ärzten die Diagnose leicht gemacht. Umso inständiger hoffte ich auf peinlichste Reinlichkeit, was Kanülen und Ritzemesser anbetraf.

Gleich am Anfang hatte mich der Professor kurz und liebevoll abgefertigt, mir den Finger zur allgemeinen Zufriedenheit in den Hals und ins Arschloch gesteckt und mich, als die endlose Aufzählung meiner Beschwerden gar nicht aufhören wollte, als zusätzliche Sonderuntersuchungen zum Magen-Röntgen, zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt und zum Psychiater geschickt. Taktvoll hatte er zunächst vorgefühlt, ob mir mit einer psychosomatischen Untersuchung gedient sei, und ich hatte gleich so heftig reagiert wie ein Kind, das man fragt, ob es zu Weihnachten Geschenke will, oder – erwachsener ausgedrückt – wie eine läufige Hündin, die man am Rüden schnuppern lässt.

Das Programm wurde mit unendlichen Zwischenzeiten durchgezogen. Rad fahren ließen sie mich, bis ich bald zusammenbrach und, da ich im ‚Spiegel‘ gerade von Mengeles Versuchen gelesen hatte, war ich überzeugt, sie wollten testen, wie man auf diese Weise einen kerngesunden Menschen zur Strecke bringt und wie lange es in etwa dauert, bis er tot ist. Die Sonderuntersuchungen waren das Merkwürdigste: zunächst das Röntgen. Als ich fertig war, fragte mich der Arzt, der seine raue Herzlichkeit schon bewiesen hatte, als er mich gegen den Röntgenschirm drückte: „Wo müssen Sie denn noch hin?“ Er blätterte die Laufzettel durch und schrie mich an: „Was, ein gesunder, junger Mann wie Sie, was soll der denn beim Psychiater? Wer hat Sie denn da hingeschickt?“ Ich stotterte etwas verlegen, dass der Professor gemeint habe, meine Magenbeschwerden könnten vielleicht psychosomatischer Natur sein, aber der Arzt hatte sich schon brüsk abgewandt und verschwand im Dunkeln. Feinfühliger war er gewesen, während ich mich auf seiner Liege befunden hatte. „Wollen Sie noch Kinder?“ Ich glaubte, ihn mit einem Auge zwinkern zu sehen. ‚Von Ihnen eigentlich nicht‘, kam es mir in den Sinn, aber er wartete gar keine Antwort ab, sondern sagte: „In Ihrem Alter muss ich es Ihnen ja noch sagen. Diese Strahlen sollen eventuell die Zeugungsfähigkeit beeinträchtigen können. Natürlich völliger Quatsch, aber ich bin verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen.“ Ich nickte ernst und stumm und sagte meinen Kindern Lebewohl.

Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt gähnte unaufhörlich, und mir war nicht ganz klar, ob ihn meine Geschichte so langweilte oder ob er in der letzten Nacht nicht geschlafen hatte. Eher wohl das, hoffte ich, denn er hatte einen so fürchterlichen Schnupfen, dass die Beschwerden ihn vermutlich nicht hatten zur Ruhe kommen lassen. „Man kann Ihre Nase natürlich operieren“, überlegte er schniefend, „aber ich weiß nicht, ob das viel bringt.“ Er bog mir mit einer Art Miniaturhammer die Naseninnenwände nach außen. „Tut das weh?“, erkundigte er sich. „Ein bisschen“, untertrieb ich zaghaft. „Das dachte ich mir“, sagte er und nieste, „gereizt!“ Er nahm einen Spachtel und scheuerte mir damit tief im Innern der Unterlippe herum. „Neigung zum Zahnfleischbluten“, bemerkte er, als sich der Erfolg endlich einstellte. Er legte mir ein Blatt Papier um die Zungenspitze und riss mir dann mit Daumen und Zeigefinger plötzlich und unerwartet die Zunge aus dem Gesicht heraus, wobei das Papier seine Hand und meine Zunge voreinander schützten. Nun aber lugte er mir so tief in den Hals hinein, dass ich nur darauf wartete, wann seine rot geschwollene Nase mein Zäpfchen berühren würde. „Ich kann nichts feststellen“, sagte er schließlich. „Ich schreibe Ihnen Tabletten auf, versuchen Sie die mal.“ Irgendwie fand ich, dass er etwas roch. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er sich in der letzten Zeit viel gewaschen hatte.

Titel- und Schlussgrafik mit Material von Shutterstock: zizi_mentos und VioletStudio

24 Kommentare zu “#6 – Die Strahlenbelastung meiner Kinder

  1. Die Strahlenbelastung meiner Kinder! Ich hatte erst mit einem kurzen gedanklichen Abschweifen und Ausschweifen über 5G gerechnet. Dem neuen Teufel. Ihre Version war unterhaltsamer.

    1. Naja, Viren werden nicht durch Strahlung übertragen. Die 5G-Corona-Verbindung ist natürlich Quatsch. Aber da sich doch eine ganze Reihe Wissenschaftler kritisch zum neuen 5g Standard äußern, darf man schon skeptisch sein.

      1. Bisher haben sämtliche Tests keine Ergebnisse generiert, die darauf hindeuten, dass 5G gesundheitsschädlich wäre. Ist das nicht einfach wieder nur die Angst vor dem Neuen?

      2. Erst einmal müssen wir Corona gesund überstehen, dann muss die Wirtschaft wieder angekurbelt werden … und dann kann man sich irgendwann auch um 5G kümmern.

  2. Arrgggh, diese (hoffentlich übertriebene) Beschreibung dieser Arztprozedur hätte ich vor dem Abendessen lieber nicht lesen sollen.

  3. Was für ein Glück, dass diese schlimmen Zeiten, in denen man panisch beim Arzt saß und vor dem Aids-Test-Resultat zitterte einigermaßen vorbei sind. Aufklärung und PreP sei Dank!

      1. Ach Quatsch, die gab es vorher genauso. Oder benutzt jemand wirklich durchgehend Kondome bei Blowjobs? PreP hilft jedenfalls bei der Eindämmung dieses tödlichen Viruses. Was will man denn mehr?

      2. Eine Therapie-Möglichkeit wäre der große Wunsch. Ebenso wie ein Mittel gegen Krebs, und gegen alle anderen Krankheiten.

    1. Es gibt für jedes Spielchen die entsprechenden Liebhaber. Wobei Arztbesuche in der Regel weniger antörnend ablaufen.

    2. Doktorspielchen mal anders. Neulich gab es einen Zeitungsartikel über einen Gynäkologen, der seinen Job ein bisschen zu gerne gemacht hat. Ziemlich gruselig.

      1. Wie der großartige Alec Guiness einmal nichts ganz unberechtigt anmerkte: Nichts beschleunigt die Genesung so sehr wie regelmäßige Arztrechnungen.

  4. Dank der Corona-Pause (und dank Ihrer Inspiration Herr Rinke) habe ich tatsächlich wieder angefangen Briefe zu schreiben. Mal schauen wie lange die Motivation dafür anhält. Das entschleunigte Leben hilft in dem Falle natürlich.

    1. Haha, das habe ich auch vor ein paar Tagen getan. Briefe schreiben ist ein wunderbarer Zeitvertreib, und ein allemal schönerer Weg der Kommunikation als das andauernde gegenseitige Anstacheln auf Faecbook.

      1. Das Schreiben hat mich vor der Geschossenen Anstalt bewahrt: dranbleiben und gleichzeitig Abstand gewinnen.
        Bei dem Wort „Zeitvertreib“ muss ich immer an die Patiencen der Alten im Senioren-Stift denken und an das Abchillen der Jungen im SzeneTreff.
        Ich vertreibe die Zeit nicht – ich nehme sie mir.

    2. Schon paradox, dass es ein Virus für diesen Schritt braucht. Schließlich hat man jetzt während des Isolierens wahrscheinlich deutlich weniger zu erzählen.

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