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Am Teich

#6 – Lasch statt fromm

Foto: Privatarchiv H. R.

Östlich unserer Vierstraßenkreuzung begann stadteinwärts der Othmarscher Kirchenweg. Er führte an der Christuskirche vorbei, die mit ihrem spitzen Glockenturm erhöht in einem kleinen Park liegt, zu den Bauernhöfen, die sich bis Ottensen erstreckten, wo es dann, am anderen Ende des kopfsteingepflasterten Othmarscher Kirchenweges, ernst wurde mit der Vorstadt: immer noch Klinker, aber Mietshäuser mit vier Stockwerken – Ottensen. Dass die Kirche, zwei Minuten von uns entfernt, nicht auf einem Dorfplatz stand, sondern auf einem begrasten Hügel mit hohen Bäumen, gab ihr immer etwas Vornehmes.

Hier wurde nach der Messe nicht dumm rumgestanden und geschwatzt, allenfalls neigte man leicht den Kopf, wenn man jemanden erkannte und stieg dann in seinen Mercedes, um vor dem Mittagessen zu Hause in der Sonntagszeitung zu blättern, statt im nicht vorhandenen Wirtshaus nebenan einen Frühschoppen zu heben. Aber das mutmaße ich bloß. Ich war katholisch und mich ging diese Kirche, die – zugegeben – hübscher lag, hübscher aussah und weit weniger entfernt war als das Gotteshaus der Alleinseligmachenden, das für mich zuständig war, sie ging mich nichts an, bis auf ihr Gemeindehaus, in dem meine Klavierlehrerin Fräulein Westphal das alljährliche Vorspielen ihrer Schüler veranstaltet hatte, wo also die gerührten Eltern, wenn sie sich durch genügend Clementi-Sonatinen der Fünf- bis Siebenjährigen durchgequält hatten, unter der Rubrik ‚Selbst komponiert‘ durch mein Rondo in f-Moll entschädigt wurden.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Dann wurde ja die Autobahn von Flensburg über Othmarschen nach Reggio Calabria gebaut. Die Othmarscher Kirche blieb natürlich stehen, aber Röpers Hof geriet so hart an die Mauer zur Autobahn wie das Brandenburger Tor an den Schutzwall zum Westen. Bloß dass Röpers Hof mehr Glück hatte als das Brandenburger Tor und selbst im Westen lag, während die östlich der Autobahnschneise gelegenen Höfe weichen mussten und das Gelände den vierstöckigen Mietshäusern zugeschlagen wurde, in deren Rücken der sechzehnstöckige Neubau des Altonaer Krankenhauses wuchs, nach Ansicht des Architekten ‚das schönste Krankenhaus Deutschlands‘. Meiner Ansicht nach der grässlichste Klotz westlich der inzwischen abgerissenen DDR-Mauer.

Foto: GeorgHH/Wikimedia Commons/gemeinfrei

Es hätte nun nahe gelegen, die Strecke stadtseits der Autobahn umzubenennen, aber nein, die heißt immer noch Othmarscher Kirchenweg, obwohl die Othmarscher Kirche auf diesem Weg nicht mehr zu erreichen ist. Das Stück zwischen unserem Klein Flottbeker Weg und Röpers Grenzhof, an dem die Othmarscher Kirche liegt, wurde nach einer ‚Oberstudienrätin‘, wie auf einer kleinen Tafel vermerkt ist, umbenannt: in Agathe-Lasch-Weg. Wer also von unserer Haustür, vom Rausgehen aus betrachtet, drei Häuser weiter rechts wohnte, hatte die Othmarscher Kirche bereits im Blickfeld und wohnte im Agathe-Lasch-Weg, was ich wie ‚Egon-Meyer-Straße‘ finde. Inzwischen habe ich mir aber erlesen, dass Agathe Lasch jüdische Germanistin war und 1942 ermordet wurde. Wer das nicht weiß, dem fehlt die Andacht. Das ist wohl immer so.

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Wikimedia Commons/gemeinfrei

In den Fünfzigerjahren war ich noch über den ungeteilten Othmarscher Kirchenweg zu meinem Freund Horstl geholpert. Die Pflastersteine waren kindskopfgroß. Horstl wohnte in einem dieser stadtnäheren Mietshäuser. Einen Klassenunterschied sah ich darin nie. Aus heutiger Sicht waren seine Mutter und sein Stiefvater rechtsradikal. Dass es in unserem Englischbuch einen Ort Beechwood gab, fanden sie unerhört. Das solle an Buchenwald erinnern, um die Auschwitz-Lüge in Kindsköpfen zu verfestigen, glaubten sie fest. Trennender fand ich, dass Horstl für Elvis Presley schwärmte und sich an der Damenunterwäsche im ‚Quelle-Katalog‘ begeisterte. Dann schickten seine Nazi-Eltern Horstl auf eine nähere Schule, in der sie auf einen weniger strengen Klassenlehrer hofften. Ich fand Herrn Wilkens furchtbar fromm, aber gegen seine Pedanterie hatte ich nichts. Ohne seinen Drill wäre mir später das Abitur nicht so problemlos gelungen.

Foto links: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto rechts: MaxFrost/Shutterstock

Hinter Horstls Block begann dann wirklich das, was bei uns ‚das Arbeiterviertel‘ hieß. Das klang wenig freundlich und betraf ganz offensichtlich die Werktätigen, die sich noch kein ‚Siedlungshäuschen‘ leisten konnten.

Foto: Privatarchiv H. R.

Später fuhr ich die Strecke mit meinem dann besten Freund Harald entlang zur Bücherhalle. Da gab es schon eine schmale Teerspur am Straßenrand. So fahrradgerecht waren die Sechzigerjahre! Wir behaupteten, dass uns der neue Belag einen Prostata-Orgasmus ersparte und holten uns für jeweils drei Wochen Standardwerke über Malerei, Geschichte und Psychologie aus der Leihbibliothek. Belletristik hatten wir zu Hause. Inzwischen ist diese Institution abgeschafft. Wer liest heute noch? Das Einwohnermeldeamt befindet sich jetzt in den Räumen. Ich war noch zweimal dort, um mir einen neuen Pass abzuholen. In den Gängen saßen Menschen, die aussahen, als würden sie einen Pass nicht so problemlos ausgehändigt bekommen wie ich.

Foto: Privatarchiv H. R.

Nach Norden ging es von der Kreuzung aus über die Reventlowstraße zum Bahnhof Othmarschen, und so ist das immer noch, nur dass sich dort inzwischen, von Ampeln gezügelt, zwei Buslinien kreuzen. Nach Süden, in Richtung Elbe, kam man immer schon über den Halbmondsweg, der dort begann. Allerdings trug er damals seinen Namen zu Recht: Die schmale, von hohem Gesträuch gesäumte Straße führte etwa dreihundert Meter weit, wie der Zypressenweg. Nur traf er dann nicht auf das Gelände von Frau Fritze, sondern auf eine Schrebergartensiedlung. Um die herum machte er einen Riesenbogen, seinen Halbmond, um dann wieder gerade auf die Elbchaussee zuzulaufen, mit dem Zypressenweg als einzigem Abzweiger nach rechts und dem namenlosen Zugang zum Taxusweg links. Das war also wirklich das, was im Englischen ein ‚Crescent‘ im Straßennamen ist, ein ‚Halbmond‘. Schon bevor die Autobahn gebaut wurde, die es den Dänen erlauben würde, bequem bis Sizilien durchzunageln, sah man die Schrebergärten als Fremdkörper in Othmarschen an. ‚Weg damit!‘, fand die Hamburger SPD-Regierung: „Verkehrserforderlich!“ So gab es später einen kerzengeraden Zubringer von der Elbchaussee bis zu der Stelle der Reventlowstraße, an der es zur Autobahn abgeht.

Foto: Privatarchiv H. R.

Meine Doppelhaus-Nachbarinnen Kathrin, Monilies und später auch Evelyn waren mit mir noch den Sandweg der Schrebergartensiedlung entlang zur Elbchaussee gegangen und dann herunter an den schmalen Strand, an dem wir zu Frau Wiemans und Irenes Verwunderung lieber auf Flanelldecken kuschelten und Urlaub spielten, als in unserem grünen Garten im Liegestuhl abzuliegen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Aber dann wurde alles Kleingärtnerische abgerissen. Der Halbmondsweg wurde von der Kreuzung schnurgerade durchgezogen und bis zur Elbchaussee hin asphaltiert. Sein ehemaliger Bogen wurde zu einem verkrümmten Gässchen, das heute Poppes Weg heißt. Das Gesträuch zwischen den Villen und der Fahrbahn, das von der Kreuzung bis zu den Schrebergärten hin für Vorortstimmung gesorgt hatte, es wurde entfernt. Da konnte dann die Fahrbahn des Halbmondwegs doppelt so breit angelegt werden. Autogerechte Stadt, bis hin in die Randgebiete. Ehrlich genug bin ich, um zuzugeben, dass der Halbmondsweg seinen Namen auch von dem halbrunden Gebäude ableiten könnte, das an seiner Ecke zur vielbefahrenen Elbchaussee steht. Ursprünglich beherbergte dieses Halbrund Stallungen, später eine Zeit lang den Bürgerverein, jetzt sollen dort prestigeträchtige Appartements entstehen: Verkehrslärm und Auspuffgase werden ja, wenn nur noch Elektroautos fahren, nicht mehr stören.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Auf das Areal der Schrebergärten brauchte man ja, als die Umgestaltung des Weges zum Autobahnzubringer beschlossen wurde, sowieso keine Rücksicht zu nehmen. Der Mann, der in dem Eckgrundstück lebte, das den Halbmondsweg zu seiner Biegung gezwungen hatte, unmittelbar an dem Sandweg, der der Ku’damm der Schrebergarten-Siedlung gewesen war, dieser Unglückliche erhängte sich in seinem Häuschen an dem Tag, an dem er die Räumungsklage erhielt. Gleich darauf wurde dort das solide Haus aus gelbem Klinker errichtet, das seither vom Gemeindepastor der Othmarscher Kirche und seiner frommen Familie bewohnt wird. Frau Wieman erzählte es immer sehr anschaulich und ihrem Schauer war stets anzumerken, wie froh sie war, katholisch zu sein.

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Material von: (Othmarscher Kirche) Dirtsc/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 | (Asklepios Klinik Altona) GeorgHH/Wikimedia Commons/gemeinfrei

34 Kommentare zu “#6 – Lasch statt fromm

  1. Von den literarischen Texten und Ihren Chansons wusste ich. Dass es auch noch klassische Kompositionen aus Ihrer Jugend gibt … Respekt für diese scheinbar endlose Schaffenskraft!

  2. Schrebergärten fand ich immer komisch. Da fühlt man sich doch immer irgendwie eingesperrt. Lieber liege ich im Sommer in einem schönen offenen Park.

    1. Die Geschichte vom Erhängten hilft natürlich nicht solch eine Siedlung sympathischer zu machen. Aber so etwas kann andererseits natürlich überall passieren.

      1. Oh ja, daran erinnere ich mich auch. Und wenn ich mich recht erinnere ging die Geschichte nicht sonderlich gut aus.

  3. Einen Orgasmus habe ich beim Fahrradfahren noch nicht erlebt. Trotz ausgeprägter Kopfsteinpflaster-Erlebnisse.

  4. Aus heutiger Sicht wirkt ja selbst so etwas wie die BRAVO überholt. Dass man sich früher in der Pubertät gar Unterwäsche-Modelle im Katalog anschauen musste, scheint da fast nicht mehr nachvollziehbar.

      1. Stimmt. Oder der entblößte Nacken in Japan. Auf- bzw. Erregung ist nicht überall gleich.

  5. Das schönste Krankenhaus Deutschlands würde ich das nun auch nicht nennen. Aber vielleicht tue ich dem Gebäude unrecht und innen ist alles ein ganz wunderbarer Krankenhaustraum.

  6. Gerade Studenten brauchen doch weiterhin Leihbibliotheken! Nicht jeder Text ist unmittelbar über das Internet zu finden.

      1. Ich würde eigentlich weiterhin in Bibliotheken gehen, ich mag die Atmosphäre dort sehr. Allerdings kenne ich das aus meinem Ort so, dass das Angebot immer weiter und weiter hinterherhinkt. Wer also nicht gerade Klassiker lesen mag, findet dort oft nicht viel.

      2. Ach, schade. Naja, die einen lesen nur noch vom Bildschirm (ihres Smartphones) ab, die anderen wollen Bücher wirklich besitzen und ins Regal stellen.

      3. Lesen auf dem Bildschirm ermüdet mich wahnsinnig. Nee danke, dann lieber ein überquellendes Bücherregal.

      1. Die CDU ist ja nicht unbedingt meine Partei, aber Merz wäre wohl das größere Übel gewesen. Interessant, dass er auch dieses Mal wieder nicht die nötigen Stimmen bekommen hat. Ob das langsam das Ende der Karriere ist?

      2. Schwarz-Grün, darauf hoffe ich ehrlich gesagt auch. Wird doch wirklich Zeit, dass man dem mal eine Chance auf Bundesebene gibt.

      3. Ein neuer Kanzler, wahrscheinlich noch mitten in der Corona-Krise, darauf darf man auf alle Fälle gespannt sein. Eine wichtige und vielleicht folgenschwere Wahl wird das werden.

      4. Ich bin allerdings skeptisch ob schwarz/grün wirklich funktionieren wird. So richtig scheinen mir diese beiden dann doch nicht zueinander zu passen.

      5. Die Grünen wollten anfänglich das ‚System‘ verändern: große Teile mit Gleichheitsidees, also links, andere wollten die Natur bewahren, also konservativ rechts. Jetzt wollen die meisten Grünen vor allem mitspielen, da haben sie ein paar Förmchen für links und ein paar Förmchen für rechts im Sandkasten, sie befinden sich also in einer win-win-Situation. Der Zeitgeist macht sein Kreuz auf dem Wahlzettel. Ob’s klappt?

      6. Man wird es abwarten müssen. Die Chance für solch eine Koalition stehen ja gar nicht so schlecht.

  7. Also nach meiner Kenntnis ( und ich bin zwar deutlich jünger als Du, aber ich wohnte dafür schon deutlich länger vor Dir in Othmarschen, von meinen Vorfahren die dort lebten will ich jetzt gar nicht reden) , hat der Halbmondsweg seinen Namen von dem Haus am Ende der Straße, welches nicht nur wie der Mond deutlich gelb angestrichen ist , sondern auch halbmondförmig gebaut ist.

    https://www.mopo.de/hamburg/gebaeude-in-othmarschen-eingezaeunt-was-wird-aus-dem–halbmond–haus–32033928

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