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Am Teich

#7 – Immer geradeaus

Der Taxusweg ist wirklich ein Phänomen, denn er verfügt neben seinem namenlosen Zugang zum jetzigen Halbmondsweg außerdem über einen Fußgänger-Durchgang zur Elbchaussee. Links vom Rosenplatz in seiner Mitte leistet er sich einen weiteren Zugang: zur Bernadottestraße. Dieses Wegstück ist auch wieder nur für Fußgänger passierbar. Über den südlichen Pfad erreicht man also, von Autos ungestört, die Elbchaussee, die man nur zu überqueren braucht, um im Hindenburg-Park zu sein, der nicht nur Roland und Karin zum Abstieg fürs Flundern-Essen diente, sondern auch die Kulisse bildete, um in meinem allerersten Film einen Komparsen als Spanner durchs Gehölz spähen zu lassen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Der nördliche Pfad, der auf die Bernadottestraße führt, erlaubt es dem Spaziergänger und der Wanderin, der neun Kilometer entfernten Hamburger Innenstadt entgegenzuschlendern und dabei die hässliche Hauptverkehrskreuzung Halbmondsweg/Bernadottestraße mit herrischer Ampel südlich zu umlaufen. Dann treffen beide in der Bernadottestraße rasch auf das Haus, in dem ich mich 1000 Meter von meinem Elternhaus entfernt zwischen 1973 und 1975, also schon mit 27 Jahren, ganz allein lebend, zum durch und durch selbstständigen Menschen entwickelt habe.

Foto: Privatarchiv H. R.

Das freundliche Gebäude mit dem Schieferdach und den grünen Fensterläden, das man von meinem Wohnzimmerfenster aus sehen konnte, war so unscheinbar und außerstande, mehr als eine Familie zu beherbergen, dass es noch in den Neunzigerjahren abgerissen werden durfte, zumal der Milieuschutz nur bis zum Halbmondsweg reicht. Jetzt steht da dieser geklonte Bau, dessen Bewohner wie die gegenüber meinem Elternhaus im Klein Flottbeker Weg oder die in der Droysenstraße keinen Unterschied bemerken würden, wenn Kobolde über Nacht die Häuser austauschten.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Bevor die Bernadottestraße in Richtung Ottensen weiterverläuft, gibt es wieder eine Kreuzung, und auch sie hat inzwischen eine Ampel, die es die Behörde im Gegensatz zu der am Halbmondsweg nicht wagt, nachts auszuschalten. Das Verkehrsaufkommen von elf Autos pro Stunde stellt einfach ein zu hohes Risiko dar, und die Stadtverwaltung will ja ihre Bürgernähe nicht auf Betonkübel mit Gestrüpp beschränken. Diese Entschönerungshilfen engen die Fahrbahn so ein, dass sie gesperrt werden muss, wenn Baufahrzeuge anrücken, um aus Villen Condominiums zu machen. Aber die stoßdämpferschädigenden Hubbel stören die Anwohner durch den dadurch unvermeidlichen Lärm nicht genug. Eine Ampel bringt da mit Stoppen, Kuppeln und Gasgeben die ganze Nacht über schon mehr, und Guntram, dessen Schlafzimmer im Klein Flottbeker Weg zur Kreuzung hin lag, konnte besonders an Wochenendnächten daran teilhaben, wie übermütig Motorradfahrer vor roten Ampeln im Leerlauf schon mal knatternd Gas gaben, bevor sie – während der Rotphase von keinem Hindernis gekreuzt – weiterbrausten.

Foto: Jag_cz/Shutterstock

Die Bernadottestraße hieß zwar vor dem Zweiten Weltkrieg noch Moltke-Straße, aber sie hat an ihrem Verlauf nie etwas geändert. Wenn man aus unserem Privatweg mit dem Auto – früher mit seiner Kutsche – oder zu Fuß kommt und sich rechts, stadteinwärts, weiterbewegt, kann man die größte Sensation erleben, die dieser gesamte Text zu bieten hat.

Foto: Privatarchiv H. R.

Da, wo die Bernadottestraße weitergeht, aber nicht mehr so heißt, befindet man sich bereits in Ottensen, die Villen sind zwei-, drei- und vierstöckigen Häusern gewichen, die Straße ist nur noch zweispurig und nennt sich Holländische Reihe. Nicht grundlos: In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts siedelten dort Glaubensflüchtlinge aus Holland. 1982 lief ein Kind plötzlich auf die Fahrbahn. Das Auto konnte nicht mehr bremsen: tot. Dann rannte noch mal ein anderes Kind. Auch tot. Statt daraufhin die Kinder einzusperren, erwirkte eine militante Bürgerinitiative die erste Tempo-30-Zone durch eine Hauptverkehrsstraße in Deutschland. Da kamen die Othmarscher CDU-Wähler nur noch langsam an den Ottenser Grünen vorbei. Inzwischen ist auch diese Gegend gentrifiziert und teuer, aber immer noch grün.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Vorbei am Altonaer Rathaus, das mal Bahnhof war, geht es über die Königstraße auf die Reeperbahn, die man als Elbvorortler nur vom Vorbeifahren kannte, bis in den 80er-Jahren neben Puffs dort auch Theater von sich reden machten. Als Zwanzigjähriger habe ich mir da in einem Sexshop mein erstes Schwulenmagazin gekauft. Um mich das zu trauen, hatte ich mich vorher betrinken müssen, aber die Rückfahrt gestaltete sich trotzdem problemlos, weil es in der Holländischen Reihe noch keine Geschwindigkeitsbegrenzung gab.

Das Millerntor heißt zwar noch so, existiert aber nicht mehr. Dafür hat es seit 2013 tanzende Türme (Nachtrag 2021). Nun geht es über die brutal zwischen den Michel und sein Umfeld, den Großneumarkt, geschlagene Schneise, die Ost-West-Straße, deren eines Teilstück plötzlich Ludwig-Erhard-Straße heißen musste, weiter nach Lauenburg, Ludwigslust und Nauen, so dass man auf die Heerstraße stößt. Da bleibt man natürlich nicht stehen, sondern hält sich weiter geradeaus. So kommt man über die Bismarckstraße, an der Siegessäule vorbei, zum Brandenburger Tor. Zu Fuß kann man drunter durchlaufen bis zu den ‚Linden‘. Mit dem Auto muss man einen Bogen über die Dorotheenstraße (zu DDR-Zeiten: Clara-Zetkin-Straße) in Kauf nehmen. Hinter der Schlossbrücke beginnt die Karl-Liebknecht-Straße. Dem prominenten Marxisten seine Straße zu klauen, das haben sich die Westler nach dem Untergang der DDR nicht getraut. Bei seiner Gefährtin Clara Zetkin hatten sie keine Skrupel, und dass aus der Otto-Grotewohl-Straße wieder die Wilhelmstraße wurde, verstand sich von selbst.

Inzwischen sind wir am Schlossplatz vorbei zum Fernsehturm vorgerückt, Ganz-Berlins Wahrzeichen. Vor uns liegt der Alexanderplatz. Wir könnten noch die Prenzlauer Allee entlanglaufen, aber nun reicht es. Von unserem Privatweg aus sind wir, ohne einmal abbiegen zu müssen, am Michel und an der Siegessäule vorbei bis zum Alexanderplatz geschlendert. Was für ein außerordentlicher Spaziergang! Vom Grunewald aus wäre es näher gewesen, aber viel verwinkelter.

Video (Ausschnitt aus ‚Die Straße‘): Hanno Rinke

Die andere Richtung hat vom Privatweg aus weit weniger zu bieten. An fünf Häusern kommt man noch vorbei, bis man unvermittelt auf die Parkstraße stößt. Da geht es geradeaus nicht weiter, und deshalb fährt da auch keiner. Die letzten Durchzügler haben die versickernde Straße spätestens am Halbmondsweg verlassen, die meisten biegen schon an der Kreuzung davor ab, wenn sie nach Osdorf oder auf die Autobahn wollen. Von dieser Kreuzung aus geht es nach rechts über die Liebermannstraße auch wieder zur Elbchaussee. Links hieß die Straße früher ‚Am Teich‘ – und ‚Am Teich‘ führte zur Emkendorfstraße, die am Areal der Othmarscher Kirche, dem Stift und dem Altersheim moderner Prägung im (inzwischen bekübelten) Bogen zur Reventlowstraße, also zum Bahnhof Othmarschen und zur Post führt, nun aber vorher schon nach rechts zur Autobahn, also nach Malmö beziehungsweise Messina lockt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Früher war ja der Bahnhof Othmarschen nicht das Anhängsel eines Schnellimbisses, sondern ein nettes Gebäude, aber auch den Bahnhof Altona hatte es ja schon gegeben, bevor er abgerissen wurde, um Kaufhölle zu werden. ‚Weg damit!‘, hatte in beiden Fällen die Hamburger SPD-Regierung gesagt. Sie musste halt beweisen, dass sie nicht konservativ war, sondern modern.

Foto oben: mit freundlicher Unterstützung des Archivs Flottbek-Othmarschen e. V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e. V. | Foto unten: Privatarchiv H. R.

Unser nahes Einkaufsparadies ‚Am Teich‘ bestand vor allem aus drei Läden: einem für Gemüse, einem für Brot und einem für geschlachtete Tiere. Kein Mensch außer uns sagt noch ‚Am Teich‘ oder versteht auch nur, warum wir diese paar stehen gebliebenen Einzelhandelsrudimente so nennen. Es ist einfach schon viel zu lange her, dass der Teich weichen musste. Er hatte nämlich das Pech, auf der geraden Linie zwischen der Ausfahrt Bahrenfeld im Norden und Reggio Calabria im Süden der neuen Autobahn zu liegen. All den Kopenhagenern, die mit der Autofähre übersetzen wollten nach Sizilien, war der Umweg nicht zuzumuten, den es bedeutet hätte, den Teich am Leben zu lassen. Die Zeitung begnügte sich damals mit der lakonischen Überschrift: ‚Teich weicht Tunnel‘. Heute werden Projekte, die bloß der menschlichen Bequemlichkeit dienen, abgeblasen, wenn sie die Brutstätten des Langtasterwasserkäfers inkommodieren. In den frühen Siebzigerjahren hielt man Klimaprobleme für etwas, wogegen ein Regenmantel hilft. Allmählich trat ein Wandel ein. Die Stadtväter waren bald nicht nur bestrebt, ihre Kinder durch Hindernisse in der Fahrbahn zum Langsamfahren zu erziehen, sondern sie wollten es auch der Bevölkerung ersparen, durch missverständliche Namen in die Irre geführt zu werden. Lieber wollen sie seither Jung und Alt fürsorglich geleiten. Deshalb wurde ‚Am Teich‘ als Name gestrichen, und die Liebermannstraße, die auf den Teich zugelaufen war, hieß von da an eben einfach noch ein Stück weiter ‚Liebermannstraße‘. Der Teich hatte zwar so hinter den Häusern und deren rückwärtigen Gärten versteckt gelegen, dass ihn auch vorher nur die Anwohner sehen konnten, wenn sie aus ihren der Straße abgewandten Fenstern blickten, aber Liebermann ist zweifellos eine achtbare Persönlichkeit gewesen, dessen deutsch-impressionistische Gemälde ich mehr schätze als Moltkes Kriege und irgendwelche zugeschütteten Tümpel.

Fotos (3): Wikimedia Commons/gemeinfrei | Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Tobias Arhelger (Verkehrsschild), Jag_cz (Motorradfahrer)

32 Kommentare zu “#7 – Immer geradeaus

  1. Ach ja, diese Überwindung um sich so ein „schmuddeliges“ Heftchen zu kaufen ist mittlerweile auch nicht mehr nötig. Es gibt ja wirklich alles was das Herz oder der Unterleib begehrt im Internet zu finden. Auch ein wenig schade.

    1. Ich habe keine Lust, das schade zu finden, auch wenn ich weiß, dass ein Kavalier im 19. Jahrhundert jahrelang einem Fräulein lebensbestimmend hinterherschwärmen konnte, das ihn heute als One-Night-Stand abhakt.

      1. Diese Hefte braucht natürlich kein Mensch mehr. Aber diese Aufregung als Junge in die Bahnhofsbuchhandlung zu laufen und durch diese Magazine zu blättern möchte ich auch nicht missen.

  2. Bahnhöfe als Anhängsel von Schnellimbissen! Das ist einerseits zum Lachen, andererseits zum Weinen. Davon gibt es mittlerweile ja wirklich wahnsinnig viele Exemplare.

      1. Diese lustlosen und deprimierenden Bahnhofsgebäude kann man ja gerne auch als progressiver Leftie Kacke finden 😉

    1. Jetzt bleibt nur noch die Frage, was diesen Teich zu solch einem besonderen und einschneidenden Ort für Sie gemacht hat. Aber dazu braucht es wahrscheinlich noch etwas Geduld.

      1. Das ist eher ein See oder von der Wasseroberfläche her ein Bach. Zu einem natürlichen Teich gehört für mich kein Koi, sondern Entengrütze.

  3. Entschönerungshilfe trifft auf wirklich so manches „moderne“ Bau- bzw. Dekorationswerk zu. Es ist ja manchmal erstaunlich was da so alles als Verbesserung / Verschönerung angesehen wird.

    1. Über nichts lässt sich besser streiten als über Geschmack: Wer eine andere Weltanschauung hat – da kann man tolerant bleiben. Aber wem mein Stil nicht passt, der muss ein Idiot sein.

      1. Toleranz funktioniert ja am besten bei Themen, die einem nicht sonderlich viel bedeuten. Da muss dann jeder selbst entscheiden ob die AfD oder die neue Fußgängerzone ein größeres Streitthema darstellen.

      2. Ach was, das ist so etwas wie die ZDF-Ausgabe von Schlag den Raab? Klingt nicht ganz unspannend. Ich hatte Gottschalk nur Werbung für Hörgeräte machen sehen. Schön, dass er mal wieder zu sehen ist.

  4. So ein kleiner Abstecher vom Alexanderplatz zur Reeperbahn und zurück, das klingt schon nett. Zumindest wäre es eine optimale Lösung für alle, die sich nicht zwischen den beiden Städten entscheiden können.

      1. Seh ich ein. Es geht allerdings noch näher noch weiter: Vom Berliner Schlossplatz zum vietnamesischen Abhollokal Ngon sind es nur ein paar Schritte. Vom Hamburger Bismarckdenkmal (Kolonialistenverherrlichung) zur ehemaligen Kolonie Vietnam (Restauran Nom ‚zum Mitnehmen‘) ist es auch nicht viel weiter. Am unbeschwertesten reist man heutzutage sowieso in meinem Blog …

      2. So sieht das neue Reisen aus. Ganz coronafreundlich und umweltbewusst. Ein kleines bisschen langweilig aber auch.

      3. Haha, ich glaube er meinte eher dieses rein imaginative Reisen, welches nur im eigenen Wohnzimmer bzw. im eigenen Kopf stattfindet.

      4. Mea Culpa! Den Blog meinte ich tatsächlich nicht. Aber irgendwann würde ich natürlich schon gerne wieder im realen Leben reisen. Auch gerne umweltschonend innerhalb Europas mit dem Zug.

      5. Das wird noch eine ganze Weile dauern. Jetzt kommt erstmal der Total-Lockdown und dann sehen wir weiter. Solange freue ich mich dann auch auf die Blog-Reisen.

      6. Blog oder Bahn. Ich war schon Vielflieger, als die meisten nur ein paar Flüge in ihrem Leben machten. Seit meinem Schlaganfall bin ich nur noch einmal nach Paris geflogen. Bis Anfang des vorigen Jahrhunderts flog die Menschheit gar nicht. Ich vermisse es. Was wird aus uns, wenn wir auf Begegnungen verzichten?

  5. Immer geradeaus kam mir erstmal sehr untypisch für Sie vor. Da fehlt ja der Umweg 😉 Aber dann kam der Alexanderplatz, da war ich wieder beruhigt.

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