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2001
Am Teich

#8 – Maßnahmen

Nie werde ich vergessen, dass meine Mutter mich mit dem Liebermann-Ausspruch zur ‚Machtergreifung‘ beeindruckte: „Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte.“ Ich hatte sofort Verständnis dafür, dass jemand seinen mangelnden Appetit beklagte, denn das war ja auch mein Problem. Aber solche Hindernisse, wie Irene sie zu überwinden hatte, wurden nie vor mir aufgebaut. Wenn ich meiner Mutter ihre mangelnde Abenteuerlust vorwarf, weil sie nicht mit mir Gespensterbahn fahren wollte, sagte sie: „Ich habe in meiner Jugend so viele Aufregungen erlebt, ich brauche keine mehr.“ Aber dann ließ sie sich doch überreden, mit mir durch das Spukschloss zu fahren – lange Zeit meine Lieblingsattraktion. Denn obwohl ich ein sehr ängstliches Kind war, dachte ich mir im Bett stundenlang Gespensterbahnen aus.

Dass die Holländische Reihe, die Königstraße und die Reeperbahn noch heißen, wie sie heißen, gefällt mir, aber dass dieses Teilstück der Ost-West-Straße zwischen Millerntor und Rödingsmarkt Ludwig-Erhard-Straße heißen muss – das zeugt davon, dass der Senat es mit der Vermeidung von Missverständnissen doch nicht so genau nimmt. Am augenfälligsten wird das beim – auch noch NeuenPferdemarkt, einem Verkehrsknotenpunkt mit dem Charme des Schkeuditzer Kreuzes (ältestes Autobahnkreuz Europas). Zum Wiehern! Aber schön, die Havelbrücke zwischen Glienicke und Potsdam wurde von denen, die sie gesperrt hatten, solange die Sperrung aufrechtzuerhalten war, Brücke der Einheit genannt. Wir haben auch schon Adolf-Hitler-Plätze und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirchen überlebt. Selbst der Reichstag darf nach langem Hin und Her wieder so heißen, wie er heißt, und ob in ihm stattdessen der Bundestag (den Fernsehkameras nach zu urteilen nur spärlich) sitzt und er, wie an seiner Fassade steht, dem Deutschen Volke oder, wie es auf Grünen-Wunsch in seinem Innenhof stehen soll, der deutschen Bevölkerung dient – ich weiß, das ist alles furchtbar wichtig, den Anfängen muss man wehren, dem Ende von alten Kastanien auch. Wie schützenswert sind Teiche, die den Verkehr von Flensburg nach Florenz stören, und warum sollen Zypressen am Zypressenweg stehen, warum soll Taxus am Taxusweg wachsen, warum soll Irene nicht Ketten vorlegen und die Stadtverwaltung Betonkübel auf die Fahrbahn stemmen?

Am ersten Tag, den Roland bei mir in der Bernadottestraße verbrachte, im Dezember 1975 – das abreißenswerte Haus gegenüber stand noch länger als er lebte – ging er morgens die paar Schritte zum Teich, der schon Liebermannstraße hieß, um Frühstücksbrötchen zu kaufen. Aus der Telefonzelle, gegenüber dem Bäcker, rief er mich an. „Ich wollte zwischendurch noch mal deine Stimme hören.“

Natürlich war früher alles schlechter. Als an der Kreuzung Bernadottestraße/Hohenzollernring die erste Ampel installiert wurde, feierte man das als Sensation. Da kam Übersicht und Struktur auf. Inzwischen findet man Kühe erst ab Bad Bramfeld. Dafür gibt es jetzt Massentourismus nach Santo Domingo und dank des Klimawandels vielleicht bald die Nordpol-Route nach Tokio, aber manchmal ertappe ich mich doch dabei, mir ein Kalb dorthin zurückzuwünschen, wo jetzt Appartementhäuser stehen.

Irene ist überzeugt, dass das Tatar der Kühe, die draußen grasen, gehaltvoller schmeckt als das der industrialisierten Viehzuchten. Sie sorgt sich etwas, denn sie hat mal gelesen, dass Krebskranke eine Abneigung gegen Fleisch entwickeln, und jetzt weiß sie nicht mehr so genau, ob ihr Widerwillen gegen das durchgedrehte Rind von ihrer Abneigung gegen die Methoden der Fleischverarbeitung oder von möglichen Metastasen herrührt.

Guntram hält am Ritus fest. Früher ist er samstags eigenfüßig ‚zum Teich‘ gegangen, um unser Schabefleisch zu kaufen. (Es gab keinen Grund, diese paar Häuser, in denen Süßwaren und Wein/Gemüse/Fleisch/Backwaren und Arzneien angeboten wurden, plötzlich Liebermannstraße zu nennen.) Und selbst als sich später an der Ecke zur Bernadottestraße ein ‚SPAR‘-Markt auftat, der streng darauf achtete, keine Waren zu führen, die den anderen Konkurrenz machten, was natürlich bei der Apotheke am leichtesten fiel, auch da redete man vom SPAR-Laden ‚am Teich‘, wenn man überhaupt von ihm redete, denn ein Lebensmittelgeschäft, das es sich weder mit dem Süßwaren- und Spirituosenhändler noch mit dem Gemüsemann, dem Fleischer oder dem Bäcker verderben will und gegenüber, auf der anderen Straßenseite, nicht nur mit einer Telefonzelle, sondern auch mit einem Zeitungskiosk konfrontiert ist, der kann eigentlich nur Edamer und Strumpfhosen anbieten.

Foto: Privatarchiv H. R.

Inzwischen gibt es aber doch beim SPAR-Laden Parmaschinken und Schweinekoteletts, beim Bäcker Chianti und Illustrierte, beim Fleischer Camembert und Kartoffelsalat, Butter und Joghurt beim Gemüsemann und ein Schwätzchen beim Spirituosen-Händler, was den Insassen des nahen Alters-, korrekter: Seniorenheims womöglich mehr bedeutet als Koteletts und Camembert. Da wandert manche Flasche Pinot Grigio neben den Pralinen über die Theke.

„Am ‚Teich‘ ist alles teurer als anderswo“, behauptet Irene immer auf dem langen Weg zu ‚Aldi‘, womit sie recht hat. „Die nutzen es schamlos aus, dass die Leute in der Umgebung auf sie angewiesen sind.“ Auch damit hat sie vermutlich recht. Nur führt das dazu, dass sie aus einer Plastikfolie ein sabberndes Stück dick geschnittenen, salzigen Aldi-Schinken herauszerrt und sagt: „Das ist doch gar nicht so schlecht“, während sie den hauchdünn geschnittenen Schinken vom Teich kommentiert: „Also, der ist ganz gut, aber viel zu teuer.“ Dabei stehen die Benzinkosten für die Aldi-Fahrt den durch abgewetzte Schuhsohlen verursachten Kosten eines Teichausflugs gegenüber: zuungunsten des Discounters.

Nur die Apothekenkosten sind preisgebunden, und was nicht vorrätig ist, wird noch am selben Tag geschickt. Die Apothekerin, der zwar der Laden nicht gehört, aber die dort das Sagen hat, wohnt in dem Haus, das von der gemeinen Bernadottestraße her an das Privatweg-Grundstück meiner Eltern grenzt. Von meinem Balkon aus kann ich ihr bei der Gartenpflege zuschauen. Sie ist leidenschaftslos nordisch, ihr Mann Wissenschaftler. Sie ist – wie Isabell – gutaussehend, wohlhabend und gebildet, sie gefällt Irene. Der Apotheker wirkt sensibler und unverheirateter, beruflich allerdings vor allem extrem umständlich. Nachdem ich 1990 Pharmazeutisches für mehrere Hundert Mark allwöchentlich bei ihm gekauft hatte, bin ich nach Rolands Tod nicht mehr zu ihm hingegangen. Ihm wurde dieselbe Verweigerung zuteil wie dem Frühstück und der ‚Tagesschau‘: Ohne Roland wollte ich das alles nicht mehr. Vielleicht hatte ich auch nur Angst, dass der Apotheker mich fragt: „Sie kaufen gar kein Retrovir mehr. Ist der Patient Ihnen eingegangen?“

Foto: Privatarchiv H. R.

Seit Irenes überdosisbedingtem Aufenthalt im nahen Krankenhaus, dem sogenannten ‚Hilton Altona‘, und Guntrams zunehmenden Beinbeschwerden lassen wir in der Apotheke wieder mehr Geld als im Gemüsegeschäft für Salbei und beim Bäcker für ‚Berliner Kruste‘.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ganz so konkurrenzlos wie meine Mutter behauptet, ist ‚Am Teich‘ allerdings nicht. Wer sich einen guten Kilometer nach Norden wagt, der kann fast so etwas wie Großstadt erleben. Selbst Guntram wurde neulich nostalgisch: „Ich würde gerne wieder mal die Waitzstraße sehen“, sagte er. Irenes Gesicht war anzumerken, wie unverständlich ihr dieser Wunsch war. Schon dass sie nichts sagte, war ungewöhnlich, aber weise. Genauso gut hätte er sagen können: „Ich würde so gerne mal wieder die Ostfront sehen!“

Aber Guntram hatte das Tatar früher immer mal wieder in der Waitzstraße gekauft, nicht nur am ‚Teich‘, und so war es ganz einleuchtend, dass ihn diese Erinnerung am Küchentisch beim Blick auf die Käseplatte mit Discount-Delikatessen überkam.

Die Geschäfte in der Waitzstraße verhielten sich zu den Läden am ‚Teich‘ immer schon wie Lagerfeld zum türkischen Flickschneider. Die Waitzstraße ist die unumstrittene Fifth Avenue Othmarschens. Zwei Straßen, die an der Autobahn, die, wie schon erwähnt, Skandinavien mit Afrika verbindet, ihren biederen Anfang nehmen, vereinen sich auf Höhe der Post zu der Strecke, die ordentlich asphaltiert und mit Gehwegen (Bürgersteigen) versehen ist und von da an Waitzstraße heißt. An dieser Stelle ist sie noch so stolz wie die Donau bei Ingolstadt, aber kaum hat sie die Reventlowstraße überquert, da entfaltet sie ihre volle Pracht, bis sie jenseits der Parkstraße wieder herabsinkt zu einer Vorortgasse mit altmodischen Villen (ein Segen für die Anwohner also) und sich dann verliert in einem Geflecht von Nebenstraßen, in dem sie keine Rolle mehr spielt.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Die Waitzstraße heißt erst so, seit wir in Hamburg wohnen. Alteingesessene nannte sie noch ‚Ulmenstraße‘. Die Ulmen waren Opfer des Ulmensplintkäfers geworden, was der Straßenname nicht überlebte. Da haben die Berliner Linden mehr Glück gehabt, obwohl die in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts hinter Säulen mit Adlern und mit Hakenkreuzen verschwunden waren.

Foto oben (Berlin, Unter den Linden, 1936): FORTEPAN/Lőrincze Judit/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0  | Fotos unten (2): mit freundlicher Unterstützung des Archivs Flottbek-Othmarschen e.V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e.V

Die Waitzstraße um 1910, damals noch Zeiselstraße

Die Waitzstraße um 2005

Wenn man ‚die Waitzstraße‘ sagt, meint man das Stück zwischen Reventlowstraße und Parkstraße, so wie man Papiertaschentücher meint, wenn man ‚Tempo‘ sagt, auch wenn man weiß, dass es ‚Kleenex‘ und andere Geschwindigkeiten gibt.

Die Waitzstraße 2020

32 Kommentare zu “#8 – Maßnahmen

  1. Natürlich war früher alles schlechter. Irgendwie habe ich es sehr genossen, diesen Satz zu lesen. Es wird ja viel zu oft versucht einem das Gegenteil einzureden.

    1. Menschen, die in der Vergangenheit leben, gibt es ja wirklich viele. Nur macht das meistens nicht glücklich, nicht auf Dauer.

      1. Auf Dauer macht nichts glücklich, weder die Vergangenheit noch die Gegenwart. Glücklich (oder einfältig?), wer auf eine beglückende Zukunft hoffen kann!

      2. Nee das stimmt natürlich. In der Gegenwart oder Zukunft gibt es aber immerhin die Möglichkeit für Glück. Die Vergangenheit ist nunmal vorbei.

  2. Jetzt habe ich es auch verstanden. Nicht der Teich macht „Am Teich“ aus, sondern diese Ansammlung von Geschäften. Ich war bis zu diesem Abschnitt der Erzählung noch auf einem völlig anderen Gedankenweg.

  3. Teurer als anderswo ist es in den kleineren Läden in meiner Nachbarschaft auch, aber Aldi und Lidl sind ja so wahnsinnig deprimierend, da habe ich mich als Kind beim Einkaufen mit meinen Eltern schon immer Unwohl gefühlt.

      1. Clever war diese Idee, da kann man nichts gegen sagen. Ob die Erben genauso clever sind, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls scheint ihr Plan mit den illegalen Millionen-Ausschüttungen nicht so richtig aufzugehen.

  4. Dieser Käse macht mich gleich hungrig. Ich könnte auf fast alles verzichten, auf Süßes sowieso, aber Käse zu einem guten Glas Rotwein ist meine Leidenschaft.

    1. Die paar Meter weiter zur Weinhandlung schaffe ich allerdings auch noch. Es muss ja nicht alles bis zu Ende durchoptimiert werden. Guntram mochte doch auch seinen Spaziergang zum Teich. Mir geht es ähnlich.

      1. Wohl leider nicht. Obwohl es im Moment wieder mehr kleine Lädchen gibt als noch vor ein paar Jahren.

      2. Bei uns in der Innenstadt stehen so viele Läden leer, sowohl große Kaufhäuser wie kleine Boutiquen, da wirkt das Zentrum mittlerweile ziemlich deprimierend.

      3. Öde war es bei uns im Stadtzentrum auch vorher schon, aber durch die Pandemie sind noch einmal zwei meiner kleinen Lieblingsläden kaputt gegangen. Das macht schon traurig.

  5. Ich wusste gar nicht, dass Liebermann für dieses von mir ab und an verwendete Zitat verantwortlich ist. Immer gut etwas dazuzulernen. Das gibt dem Ausspruch auch gleich nochmal ein wenig mehr Nachdruck. Danke.

      1. Na das geht ja noch. Grundsätzlich ist es natürlich trotzdem recht seltsam mit dem Auto mitten in ein Schaufenster zu fahren. Solange man nicht schon bewusstlos ist, sollte das ja eigentlich selten sein.

  6. Dieses Nicht-mehr-Wollen kann ich wahnsinnig gut nachvollziehen. So eine Situation gab es in meinem Leben auch. Mittlerweile lebt es sich wieder ein klein wenig leichter, aber es hat eine ziemliche Weile gedauert.

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